Khorchide

Der islamische Theologieprofessor Mouhanad Khorchide interpretiert die Scharia anders © Zeit

«So kleinlich kann Gott nicht sein»

Christian Müller /  Auch im Islam gibt es Andersdenkende. Mouhanad Khorchide, einer der führenden islamischen Theologen Deutschlands, ist so einer.

Die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» brachte das Interview hinten am redaktionellen Teil, da, wo die Stellenanzeigen für Hochschulen und andere Bildungsanstalten beginnen. Zum Verstecken aber ist das Interview nicht, im Gegenteil. Es macht deutlich, dass es auch im Islam prominente Wissenschaftler gibt, die es auszusprechen wagen: Vieles an der Scharia ist zeitgenössische Interpretation der damaligen Rechtsgelehrten. Und sie ist, in dieser juristischen Ausformulierung, kein zentraler Gehalt des islamischen Glaubens.

Mouhanad Khorchide wurde 1971 als Sohn palästinensischer Flüchtlinge im Libanon geboren. Er ist in Saudi-Arabien aufgewachsen, hat in Beirut Theologie studiert und ging für die Promotion in Soziologie nach Wien. Seit 2010 ist er Professor für islamische Religionspädagogik am Zentrum für Religiöse Studien der Universität Münster in Nordrhein-Westfalen/Deutschland. Ein «erfahrener» Mann also, im besten Sinne des Wortes.

Bibel und Koran sind Schriften ihrer Zeit

Für die meisten Christen ist es, vor allem seit der Epoche der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, klar: Vieles, was im Alten und auch im Neuen Testament zu lesen steht, darf nicht zu wörtlich genommen werden. Vieles ist zeitbedingt, muss aus der damaligen Zeit heraus verstanden werden. Und Vieles kommt aus dem Brauchtum der Region, des Morgenlandes.

Verstehen aber auch die Muslime ihren Koran so?

Nicht alle. Aber es gibt sie, nicht zuletzt unter jenen, die ihre Religion auch wissenschaftlich näher angeschaut haben. Aber nicht alle wagen dies auch zu sagen.

Umso erfreulicher, wenn auch prominente islamische Theologen diese Haltung offen vertreten. Im interreligiösen Gespräch ist es ein wichtiger Punkt.

Hier ein paar Ausschnitte aus dem Interview der «Zeit» mit dem Theologen Mouhanad Khorchide:

ZEIT: Sie würden den Islam gerne befreien von dem herkömmlichen Scharia-Verständnis?
Khorchide: Man muss sich lösen von dem Gedanken, der islamische Gott sei ein angstmachender Gott, der nur dann zufrieden ist, wenn ich Gesetze den Buchstaben nach erfülle; es geht ihm um die Absicht dahinter. Gerade 80 von den 6236 Versen im Koran sprechen juristische Belange bezüglich der Gesellschaftsordnung an. Der Islam ist keine Gesetzesreligion.
ZEIT: Was ist mit dem Strafrecht, Erbrecht?
Khorchide: Was wir heute als islamisches Recht bezeichnen, ist nicht göttlich, das ist von damaligen Rechtsgelehrten entwickelt, die im Geist ihrer Zeit gedacht haben. Auch im Koran vorkommende juristische Aussagen, dass Dieben die Hand abzuhacken sei oder dass Frauen nur halb so viel erbten wie ein Mann, müssen in ihrem historischen Kontext gelesen werden. Nicht solche juristischen Maßnahmen machen die Scharia aus, sondern die Prinzipien dahinter wie Gerechtigkeit. Versteht man sie so, wäre es auch kein Problem, die Scharia mit unseren Menschenrechten zu vereinbaren.
ZEIT: Machen Sie es sich nicht zu einfach mit diesem, sagen wir es zugespitzt, Wohlfühl-Islam?
Khorchide: Umgekehrt: Die Orthodoxen und die Salafisten machen es sich leicht. Salafisten können den Islam in 30 Sekunden auf YouTube zusammenfassen. Die sagen: Fünfmal am Tag beten, fasten, pilgern, kein Alkohol, und das Paradies wartet. Orthodoxe Lehrbücher erklären ausführlichst, wie man die Finger beim Gebet halten soll, damit man gottgefällig ist. So kleinlich kann Gott nicht sein. Ich sage: Es geht nicht um die Fassade, es geht um den Kern, um das Innere des Menschen. Als guter Muslim muss ich mir mein Leben lang einen Spiegel vorhalten, ob ich mich aufrichtig verhalte. Der Weg zu einer reinen Seele ist länger und mühsamer, als sich an Äußerlichkeiten zu halten.
ZEIT: Sehen Sie sich eigentlich in der Rolle eines Wissenschaftlers oder eines Predigers?
Khorchide: Ich sehe mich in erster Linie als Wissenschaftler. Aber nicht nur: Ich möchte auch dazu beitragen, dass Muslime lernen, ihren Glauben zu reflektieren.

Und an anderer Stelle des Interviews:

ZEIT: Islamische Rechtsgelehrte scheinen Ihnen ein Dorn im Auge zu sein, in Ihrem neuen Buch über die Scharia bezeichnen Sie sie als Götter, die es nicht geben dürfte.
Khorchide: Ich habe nichts gegen die Rechtsgelehrten. Ich habe etwas dagegen, dass wir Muslime ihre Aussagen unhinterfragt als göttliche Wahrheit für alle Zeiten übernehmen. Dabei haben auch sie nur den Koran interpretiert. Wir haben aus ihnen Götter gemacht.
ZEIT: Warum ist es so gekommen?
Khorchide: In der muslimischen Welt herrscht seit dem 9. Jahrhundert ein restriktiver Geist. Wir hinterfragen kaum. Wir vertrauen der Vernunft nicht mehr als normgebender Quelle, und wenn heute ein Muslim dies tut, wird er schnell zum Häretiker erklärt. Die politischen Herrscher haben seit den Anfängen des Islams das Bild eines Gottes konstruiert, dem Gehorsam über alles geht, um einen Geist der Unterwerfung zu etablieren.
ZEIT: Sie sagen, die Scharia stehe im Widerspruch zum Islam. Ist sie nicht wesentlicher Teil des Islams und regelt das Leben der Muslime bis ins Detail?
Khorchide: Ich will mit diesem Klischee aufräumen. Nur wenn man die Scharia als juristisches Werk versteht, steht sie im Widerspruch zum Islam, denn dann schiebt sich der Rechtsgelehrte mit seinen Interpretationen des Korans zwischen Gott und den Menschen und verhindert die direkte, persönliche Beziehung zu Gott. Der Prophet Mohammed sagte: »Frag dein Herz, egal, was sie dir an religiösen Rechtsgutachten geben.«
ZEIT: Und wie verstehen Sie die Scharia?
Khorchide: Scharia bedeutet: der Weg zu Gott. Das ist der Weg des Herzens. Es geht um Prinzipien wie Gerechtigkeit, es geht um innere Läuterung, nicht um einzelne Gesetze, kleinliche Vorschriften. Gott darf nicht auf einen Richtergott reduziert werden.

Das Interview stand in der «Zeit» Ausgabe 41 vom 2. Oktober 2013

* * * * * * *

Nachtrag 2015:

Zwischenzeitlich ist von Mouhanad Khorchide auch ein Buch über den Islam erschienen: Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus. 248 Seiten. Herder Verlag 2015.
Das Buch ist nicht ganz einfach zu lesen, weil mit vielen theologischen Ausführungen, aber in der Summe lesenwert und zur Lektüre für Islam-Interessierte empfohlen (cm).


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

Religionen

Religionen und Menschenrechte

Je fundamentalistischer religiöse Gemeinschaften sind, desto weniger achten sie Menschenrechte.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

2 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 3.11.2013 um 11:38 Uhr
    Permalink

    Dass man sein Herz fragen müsse, haben unter den christlichen Theologen niemand so stark betont wie Augustinus unter den Kirchenvätern und Bernhard von Clairvaux, der neben Thomas von Aquin bedeutendste Kirchenlehrer des Mittelalters, von dem auch der von Saint-Exupéry weiterverbreitete Satz stammt, dass man nur mit dem Herzen gut sehe. Jesus Christus, ein denkerisch nicht zu unterschätzender pfiffiger Exorzist und Heiler, machte im Zusammenhang mit seiner Kritik an Speisegesetzen darauf aufmerksam, dass nicht böse sei, was in den Menschen als Speise eingehe, sondern was aus seinem bösen Herzen herauskomme. Also ist das Herz auch der Sitz des Bösen. So sah es Kirchenvater Augustinus mit seiner Empfehlung gegen verstockte, nicht bekehrungswille Herzen: Compelle intrare, zwingt sie einzutreten, was dann als Formel für Zwangsbekehrung und Zwangstaufe herhalten musste. Und Bernhard von Clairvaux war nicht nur der bedeutendste Theologe des Herzens, also in diesem Punkt scheinbar ganz auf der Linie von Prof. Mouhanad Khorchide, sondern noch dazu der bedeutendste Kreuzzugsprediger des 12. Jahrhunderts, u.a. predigte er im aargauischen Birmenstorf. Auch als Prediger gegen die Ketzerei ist Bernhard von Clairvaux hervorgetreten, welche negativen Aspekte in Karlheinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums, Bd 4 bzw. 5, ausgiebig dargestellt sind. Die Aspekte des Herzens, die man gemäss Mahnung des durchaus kritisch denkenden Rabbi Jesus nicht überschätzen sollte, sind wegleitend für die sowohl für den Islam wie auch für das Christentum (Meister Eckhart) wichtige mystische Bewegung, aber nur ein Aspekt für diese Weltreligionen, und sicher nicht einer, der in seiner Wirkung auf die Volksmassen überschätzt werden sollte. Prof. Mouhanad Khorchide ist für den Islam, der seinen heutigen Erfolg im Vergleich zum Judentum und Christentum der grossartigen und genialen Primitivität des heiligen Analphabeten Muhammad verdankt, so wenig repräsentativ wie der in der Schweiz und in Deutschland immerhin einflussreiche Theologe Hans Küng für den Katholizismus. Dem Projekt Weltethos ist, als Projekt einer Ökumene der über Religion Aufgeklärten, nichtsdestotrotz Erfolg zu wünschen. Prof. Khorchide wird in dieser Bewegung mehr Verständnis finden als bei den Hörern der Freitagspredigten in den Moscheen von Teheran und anderswo. Die Botschaft des Muezzin ist bis auf weiteres keine Botschaft der Aufklärung.

    Vgl. Pirmin Meier: Fundamentalismus – eine neue Bedrohung? 90 Seiten, Institut f. politologische Zeitfragen, Zürich 1989

  • am 3.11.2013 um 16:41 Uhr
    Permalink

    Viele Anhänger wollen Rezepte für ein garantiertes Seelenheil. Rezepte vereinfachen und verfälschen die ursprünglichen Weisheiten, sie werden trotzdem oft als «fundamental» verstanden. Die Folge ist Polarisierung statt Annäherung.
    Gut, wenn Lehrer die Essenz ihrer Lehre aufzeigen, Essenz verbindet – Rezepte trennen.
    Ich frage mich, welche Instanz hat endlich den Mut und die Kompetenz, die Frage 100 des Heidelberger Katechismus (evang.ref). zu revidieren. Da wird 450 Jahre nach Niederschrift immer noch die Todesstrafe auf’s Fluchen gefordert! Hoffentlich kommt die Revision bevor Fanatiker diesen Wahnsinn umsetzen wollen!
    Hier die Frage 100:
    Ist es denn eine so schwere Sünde, Gottes Namen mit Schwören und Fluchen zu lästern, dass Gott auch über die zürnt, die nicht alles tun, um es zu verhindern?
    Ja;
    3. Mose 5, 1denn es gibt keine Sünde, die größer ist
    und Gott heftiger erzürnt, als die Lästerung seines Namens. Darum hat er auch befohlen, sie mit dem Tode zu bestrafen. 3. Mose 24, 15-16

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...