Die Gesprächsrunde «NZZ Standpunkte» erscheint im Monatsrhythmus auf SRF 1, moderiert von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer, der unlängst zur Abschaffung eben dieses «Staatssenders» aufgerufen hatte. Er moderiert zusammen mit der politischen Philosophin Katja Gentinetta, der früheren stellvertretenden Direktorin des wirtschaftsliberalen Think Tanks Avenir Suisse.
Die aktuelle Sendung kommt unter dem konfessionsneutralen Titel «Religion – eine ‚Illusion‘ mit Zukunft» daher. Doch die Geschütze waren von Anfang an einseitig auf den Islam fixiert. Immer wieder piesackte Gujer den liberalen Theologen Friedrich Wilhelm Graf mit entsprechend einseitigen Fragen.
Doch dieser erteilte Gujer eine Lektion und weigerte sich, die aktuellen Probleme mit dem Islam in populistischer Manier als isoliertes Phänomen des Islam zu betrachten, sondern richtete den Scheinwerfer auch auf die christlichen Religionen. Dabei warnte Graf mit historischen und aktuellen Vergleichen vor einer einseitigen Fixierung auf den Islam.
Gujer stieg mit der Frage ein, die gegen den «illiberalen, konservativen», «rückwärtsgewandten, teilweise gewaltbereiten Islam» gerichtet war:
«Wenn wir uns aber umschauen in unseren säkularisierten Gesellschaften in Westeuropa, dann hat im Moment eher eine illiberale, konservative Form von Religion einen besonderen Aufwind, und ich spreche hier vom Islam. Wie kann es sein, dass gerade bei jungen Muslimen, aber eben auch bei jungen Konvertiten ein solch rückwärtsgewandter, teilweise gewaltbereiter Islam besonders attraktiv ist?»
Graf zog in seiner Antwort den Vergleich zu den «Christentum-Geschichten»:
«Ich weiss nicht, ob ich das als rückwärtsgewandt beschreiben würde. Weil diese neuen Formen eines politisierten Islam durchaus moderne Phänomene sind. Es ist, wenn sie sich die Salafisten anschauen, eine sehr protestantische Vorstellung: Wir gehen zum wahren Ursprung zurück und wir knüpfen sozusagen unmittelbar an die frühesten Formen des Islam an und revitalisieren ihn. Das ist ein Element, das nicht für den Islam spezifisch ist, das kennen wir auch aus den Christentum-Geschichten. Warum ist das für junge Männer attraktiv? Das ist eine extrem schwierige Frage, über die sich die Gelehrten intensiv streiten und ich masse mir auch nicht an, sozusagen in das Herz eines anderen Menschen hineinschauen zu können und seine innersten Motive zu erkennen. Zweifelsohne gibt es Menschen, die in einer Welt, die sie als unübersichtlich, ungeordnet und chaotisch erleben, sich an eine klare Wahrheit klammern und daraus Orientierung ziehen.»
Gujer hakte nach:
«Aber, wieso klammern sie sich dann auf der Suche nach der Wahrheit ausgerechnet an die Religion, obwohl diese mindestens im Kerneuropa eigentlich eher auf dem Rückzug ist?»
Erneut öffnete Graf den Horizont auch auf die christlichen Religionen:
«Auch das ist eine starke Behauptung, die Sie grade aufstellen. Ich würde sagen, sie ist nicht generell auf dem Rückzug. Es gibt europäische Gesellschaften, in denen es nur relativ wenig Säkularisierungs-Phänomene gibt. Schauen sie sich an, was in Irland und Polen passiert. Wir erleben Gestaltwandel von Religion.»
Zudem gab Graf die Erfahrungen junger muslimischer Akteure zu bedenken:
«Was wir von diesen jungen muslimischen Akteuren wissen, ist, dass sehr oft Erfahrungen der Demütigung eine Rolle spielen. Sie fühlen sich in unserer Gesellschaft nicht anerkannt. Da sehr oft die Erfahrung eine Rolle spielt, dass sie im Bildungssystem nicht haben landen können. Also dass sie sich als sozial ausgegrenzt erfahren. (…)»
Erneut fokussierte Gujer auf den Islam:
«Aber so unterschiedlich die muslimischen Gemeinschaften in Europa auch sein mögen, wir sehen inzwischen in vielen Ländern (…) eine Zunahme der Gewalt. Ist diese Gewalt dem Islam eingeschrieben oder ist das etwas, das typisch für Religion ist, eine besondere Affinität zur Gewalt. Oder sagen Sie, ach das hat eigentlich alles mit Religion gar nichts zu tun?»
Auch hier liess sich Graf keine populistische Antwort entlocken, sondern verwies auch auf die christlichen «Gewaltexzesse»:
«Also die letztere These vertrete ich nicht. (…) Religion ist immer sehr gewaltnahe gewesen. Das hören wir nicht gerne, weil wir uns sozusagen daran gewöhnt haben, dass wir in aller Regel mit einem verbürgerlichten, zivilisierten Christentum grossgeworden sind. Aber wenn sie sich das Alte und Neue Testament anschauen, dann finden sie extrem viele Gewalt-Metaphern und Gewalt-Narrative. (…) Die Religionsgeschichten der Menschheit – das ist nicht schön zu sagen – sind immer sehr stark von Gewaltexzessen geprägt worden. Und das gilt leider auch für viele Christentümer.»
Doch Gujer liess nicht locker und zweifelte an Grafs religionsneutraler Sicht:
«Bleiben wir einmal beim Christentum und noch einmal beim Islam. Kann man die beiden wirklich so über einen Kamm scheren und sagen, Gewalterfahrung ist eben allen Religionen eingeschrieben. (…)»
Jetzt lupfte es dem liberalen Theologen Graf den Hut und er erteilte Gujer eine Lektion:
«(…) es ist nicht mein Interesse, Christentum und Islam über einen Kamm zu scheren, sondern es ist mein Interesse zu sagen, wir brauchen einen analytischen Blick auf Religion, der nicht darauf fixiert ist, was wir im Moment beim Islam erleben. (…)»
Nachdem Gujer den Islam wiederholt auf die Anklagebank gesetzt hatte, schlüpfte er nun in die Opferperspektive der christlichen Fundamentalisten und stellt sie als bedrohte Minderheit dar, wobei er auf die Äusserungen von Giuseppe Gracia verwies, dem Mediensprecher des Churer Bischofs, der sich in einem Gastbeitrag in der NZZ bitter über die Diskriminierung der fundamentalistischen Christen beklagte. Von Graf wollte Gujer wissen:
«(…) Wir haben auch hier in der Schweiz Diskussionen darüber – angestossen durch einen Gastkommentar in der NZZ –, ob traditionell lebende Katholiken das noch wirklich tun können oder ob sie mit Zurücksetzung rechnen müssen, wenn sie z. B. gegen Abtreibung sind und für die traditionelle katholische Amtskirche. Also sind wir überhaupt bereit, mit Religion noch zu leben?»
In seiner Antwort warnte Graf erneut vor einer Fokussierung auf den Islam und verwies auf die «Schattenseiten der Religion»:
«(…) Wir haben zuwenig über die Schattenseiten der Religion in den meisten europäischen Gesellschaften nachgedacht und wir haben das Thema Religion auch im Hinblick auf das Christentum lange ignoriert. (…) Wenn wir über Religion in der Gesellschaft nachdenken, wäre es falsch, sich auf den Islam zu fokussieren. Weil wir uns gleichzeitig genauer anschauen müssen, wie in den christlichen Kirchen Lernprozesse in Richtung Demokratie und Rechtstaat funktioniert haben.»
Diese Lernprozesse müssen laut Graf auch die muslimischen Akteure machen:
«(…) die christlichen Kirchen in Europa mussten in einem für sie sehr mühseligen Prozess lernen, dass spätestens im 17. oder 18. Jahrhundert eine eigene normative Ordnung des Politischen entstanden ist. (…) Das war das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft, das war die parlamentarische Demokratie. Das ist dann im Einzelnen sehr unterschiedlich gewesen, und es hat lange gedauert, bis sich diese Ordnungsform durchgesetzt hat. Aber die Kirchen haben lernen müssen, dass es eine zweite normative Ordnung gibt. Und es ist ganz klar, dies werden auch die muslimischen Akteure lernen müssen, wenn sie denn in europäischen Gesellschaft präsent bleiben wollen. Wenn das den muslimischen Akteuren nicht gelingt, gibt es ganz klar harte Konflikte. (…)»
Wenige Tage nachdem die Sendung «NZZ Standpunkte» zum Thema Religion erstmals ausgestrahlt wurde, äusserte sich auch Antonius Liedhegener, Professor für Politik und Religion an der Universität Luzern, in einem NZZ-Interview pointiert zur Islamfixiertheit der Schweizer Religionsdebatte, die er für kontraproduktiv hielt. Im Zusammenhang mit der Idee eines Religionsartikels in der Bundesverfassung sagte er Folgendes:
«Es ist nicht zufällig, dass die Idee regelmässig aufflackert. Auslöser ist stets die Diskussion über die Burka, doch das ist ein Oberflächenproblem. Im Hintergrund steht etwas anderes. Es geht derzeit immer um den Islam. Man schreibt von Religionen, meint aber meist nur eine. Die Schweiz hat sich mit dieser Diskussion in eine Sackgasse bewegt. Die Einzigen, denen diese Debatte gefallen kann, sind die Islamisten.»
Fazit: Aus politischem Kalkül heizen vor allem die SVP und die CVP den Kulturkampf mit ihrer Islamfixierung und der Betonung der sogenannten «christlich-abendländischen Werte» weiter an – hilfreich unterstützt von islamfixierten Redaktoren – statt sich auf die religionsneutrale Basis der Werte der Aufklärung zu stellen. Dabei huldigen sie einer Doppelmoral, die blind ist gegenüber den Fundamentalisten in den eigenen Reihen, ja diese gar in Schutz nimmt (siehe Infosperber: Piusbrüder: Doppelmoral der SVP und CVP).
Es ist Zeit, dass die «christlich-abendländischen» Hardliner der SVP und der CVP auf den Ratschlag von Friedrich Wilhelm Graf und auf die Warnung von Antonius Liedhegener hören. Sonst besteht die Gefahr, dass die offene Gesellschaft zunehmend zur Geisel von religiös-fundamentalistischen Kräften wird.
Denn die Klagen des Churer Bischofssprechers Giuseppe Gracia, aber auch des Churer Generalvikars Martin Grichting, der kürzlich in der NZZ gar den Vergleich mit der Christenverfolgung im antiken Rom zog, finden ihr erschreckendes Spiegelbild in den Diskriminierungs-Klagen des «Islamischen Zentralrats Schweiz».
Auf beiden Seiten wähnt man sich im Besitz der absoluten Wahrheit und zeigt sich kompromisslos. Doch der Tarif ist klar: Fundamentalisten aller Religionen haben sich nach den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats zu richten und nicht umgekehrt.
Weiterführende Informationen
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Was Christenverfolgungen in muslimischen Ländern betrifft, halte man sich an Dokumentationen von Christian Solidarity International. KIar, dass es in den meisten Teilen der 3. Welt, allerdings längst nicht allen, vgl. Burma, ein grösseres Risiko ist, zum Beispiel Christ zu sein und nicht Muslim. Die «Islamophobie» hält sich in Europa angesichts der Masseneinwanderung und der nun mal existierenden Probleme in Grenzen. Klar hatte man als Anneliese-Redaktor im Wallis immer mehr Ärger mit Katholiken als etwa mit Muslimen. Der erste im Wallis begrabene Protestant, ein Flückiger aus dem Bernbiet, wurde bekanntlich bei Nacht und Nebel wieder «ausgelocht», weil man auf dem katholischen Friedhof von Turtmann keinen Ketzer tolerieren wollte. Umso befreiender war das vom Stimmvolk hauchdünn angenommene Zivilstandsgesetz von 1875, das in der Schweiz flächendeckend «zivile» Verhältnisse bei Hochzeiten und Beerdigungen herzustellen versuchte. Ein solches Gesetz gab es in Griechenland aufgrund von Druck aus der EU erst 2014. Das, «was wir im Moment beim Islam erleben», generiert natürlich einen stärkeren Problemlösungsbedarf als Prozesse, die in Europa, wenngleich im Wallis langsamer, schon vor Jahrhunderten abgelaufen sind. Dass die Kirche von St. Etienne-de-Rouvray bei Rouen, wo vor eineinhalb Jahren der muslimfreundliche Priester Jacques Hamel abgeschlachtet wurde, aus Sicherheitsgründen und Gründen des religiösen Friedens meist geschlossen bleibt, deutet eine objektive Problemlage an.
Unglaublich informativ und klug. Die Aussagen von Friedlich Wilhelm Graf sind geradezu umwerfend überzeugend. Ich fass es nicht: Es gibt immer noch Leute , die auch nach der Lektüre dieses Artikel in einen völkischen Jargon verfallen und mit dem Unwort «Masseneinwanderung» herumposaunen.
Erinnern wir uns an die Opfer des Ersten und des Zweiten Weltkriegs. Es waren die grössten menschgemachten Katastrophen – verursacht durch christliche Nationen. In beiden Schlächtereien haben Geistliche die dabei eingesetzten Massenvernichtungswaffen gesegnet.
Nehmen wir doch endlich zur Kenntnis: Es gibt und gab in der ganzen Weltgeschichte keine Religionsgemeinschaft, die mehr Menschenleben auf dem Gewissen hat als das viel gepriesene, verklärte Christentum.
Diese «Diskussion» zeigt wie menschenfeindlich die sogenannten Religionen in Wahrheit sind. Dieser Wahnsin, dieser Aberglauben, egal woauch immer, hat nur Elend gebracht. Was zählt ist wahrer Humanismus, der jedweden Glaubenswahn ersetzen kann.
Frage: Wer hat eigentlich Gott erschaffen? Es war der Mensch (nach seinem Bilde)!
Die Infragestellung von «Religion» hat eine richtige und eine problematische Seite. In Bezug auf das Christentum ist seit geraumer Zeit eine geschichtliche Phase abgelaufen, in der das Christliche durch Dogmen verbreitet wurde und in der dsa Christliche missbraucht wurde um Machtinteressen durchzusetzen. Heute steht die Ausbildung (innerer) Freiheit und des freien, ethischen Denkens in der menschlichen Entwicklung im Vordergrund. Entsprechend muss religiöses Suchen aus freiem individuellem Denken und Empfinden geschehen dürfen. Wer Religion – es spielt gar keine Rolle, um welche Religion es sich zunächst handelt – als Dogma ablehnt hat aus meiner Sicht ganz recht! Religion per se abzulehen ist aber realitätsfremd. Ein gesund denkender oder überhaupt denkender Mensch kann nicht umhin kommen das Göttliche in der Welt zu sehen zu spüren.
Fundamentalismus, den wir auch im Christlichen kennen – George W. Bush ist ebenso ein Fundamentalistischer Gewalttäter- kommt aus dem Quell dogmatischen Denkens.
Neoliberalismus verbreitet sich dort, wo das Religiöse weggedrängt wird. Ein wirklicher Christ könnte diese (neoliberale) «Religion» niemals vertreten. Neoliberalismus und innere Freiheit / freies Denken passt nicht zusammen. Freiheit wollen Neoliberale nur für sich….Ein freies Denken der Menschen ist nicht erwünscht.
@Beutler. Masseneinwanderung ist ein historisches Phänomen, in der jährlichen Dynamik stärker als die Völkerwanderung im 3. und 4. Jahrhundert, eben der Weisse Elefant im Zimmer, von dem im Jahresbericht von Ecopop die Rede ist. Die Zahlen sind nun mal nicht gerade klein, kannst Dich betr. Deutschland ja auch mal bei Herrn Lafontaine und Frau Wagenknecht telefonisch erkundigen. Wie man damit umgeht, soll aber Gegenstand demokratischer Auseinandersetzung sein und natürlich ist zwischen verantwortlichen und verantwortbaren Vorschlägen zu unterscheiden. Klar ist der Begriff «Masse» ideologisch aufgeladen, man kann sich auch bloss auf die imposanten Zahlen beschränken. Es ist ebenfalls eine Wertung, wenn wir den heute im Flugzeug schnell wieder aus Deutschland abgehauenen iranischen Blutrichter einen «Massenmörder» nennen, klar sind tausend Todesurteile im Iran oder in China nicht gerade viel, wenn man denkt, was für eine Menge Leute dort leben, sowieso sind es «nur» Iraner, weder Amerikaner noch Schweizer. Selber gebrauche ich indes den Ausdruck «Masse» im Verständnis von Elias Canetti, seines Standardwerks «Masse und Macht». Vermutlich würdest du die Ausschaffung von 50 000 oder 80 000 Leuten als Massenvertreibung bezeichnen. Dann ist aber deren Einwanderung, was immerhin aber nicht gewaltsam ist, nur manchmal illegal, eben eine Masseneinwanderung. Orwellsche Sprachregelungen dienen der verdummenden totalitären Manipulation, vgl. beschönigende Ausdrücke für Entlassungen usw.
Das, was der Chefredaktor der NZZ hier von sich gibt und wofür er sein Blatt katholischen Fundamentalisten öffnet, darf mit genügend Gründen und damit, ohne die Autoren in ihren persönlichen Verhältnissen zu verletzen, als «verbalen Rassismus» bezeichnet werden. So entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg in einem auf das Jahr 2009 zurückgehenden Fall eines JSVP-Politikers, der den Islam in gleicher Weise zurücksetzte und für das Minarettverbot warb, um unsere als überlegen hervorgehobene christliche Leitkultur zu schützen (siehe: https://www.schutzfaktor-m.ch/egmr-schuetzt-meinungsfreiheit).
Heute ist dieser subkutane Rassismus offensichtlich in höhere politische und gesellschaftliche Sphären emporgestiegen, die auch für ein absolutes Niqab- und für ein Kopftuchverbot eintreten.
Sendung gesehen, war auch nicht mit allen Aussagen von Graf einverstanden, wobei er im Grundsatz recht hat. Peinlich war aber der Chefredaktor der NZZ, Gujer. Wahrscheinlich ist er völlig fanatisiert mit dem Vorsatz in die Sendung gegangen: Jetzt nageln wir den Islam an die Wand! Er bediente alle Phrasen die auch in der extermen Rechten zu hören sind!
Lieber Pirmin. Zum meinem Statement. Es geht mir um das Wort «Masseneinwanderung». Spätestens seit der Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» ist es für viele in unserem Land rassistisch besetzt, zu einem Unwort geworden. Man könnte ihm ein anderes Wort gegenüberstellen: Massenauswanderung. Sie hatte die Schweiz in schlechten Zeiten auch heimgesucht, zum letzten Mal in den 1920ern und 1930ern. Die Zahl der Nachkommen der Ausgewanderten dürften heute die Bevölkerung unseres Landes übersteigen. «Masseneinwanderung in Amerika»? Das habe ich aber noch nie gehört …
Bereits im März 1990 legte Ulrich Schoen, lutherischer Theologe und Dialog-Experte des ökumenischen Rates der Kirchen, vor kirchlichen Vertretungen in Luzern den Finger auf den wunden Punkt: Ob Religion Werkzeug des Friedens sei oder ob ein Virus der Gewalt in Theologien und Religionen stecke? Den Virus selbst könne er nicht beweisen, verdeutlichte aber: «Wenn es uns gelingt, diesen Virus zu töten, dann kann die Religion eine positive Rolle für den Frieden spielen.» Wenn nicht, werde sein Sohn sagen: «Deine Religion, Papa, interessiert mich nicht!» Schoen fragte weiter: «Was würdet ihr allen Christen und Muslimen auf der Welt an Weisheit als geistliches Testament weitergeben, wenn ihr wüsstet, dass ihr morgen sterben müsst?»
Solche Fragen fehlen nicht nur in NZZ-Spalten. Kaum wahrgenommen bleiben Stimmen wie jene der Islamwissenschafterin Rifa’at Lenzin nach der Minarett-Abstimmung: „Die hiesigen Muslime sind in ihrer grossen Mehrheit gut integriert und haben hinlänglich klargemacht, dass sie zur schweizerischen Rechtsordnung stehen… Wenn man den Muslimen immer wieder vorhält, ihre Religion sei ein Problem diesbezüglich, sollte man sich nicht wundern, wenn sie eben gerade gestützt auf ihre Religion ihre Loyalität bekunden und begründen. Sie sind gegen eine Instrumentalisierung der Religion und gegen gewalttätige Auswüchse, die in ihrem Namen stattfinden.“ (vgl. Mitgliederinformation 1/2010 der Gemeinschaft von Christen und Muslimen in der Schweiz – http://www.g-cm.ch)
@KollegaBeutler. Über Worte sollte man nicht streiten, vermerkte bei einer Tagung in ZH Karl Popper. «Wenn Sie die Forderung nach Kontrolle der Macht faschistisch finden, dann bin ich halt ein Faschist» usw. Über die von Dir erwähnte Massenauswanderung habe ich mich nicht nur am Blog-Biertisch unterhalten, war in Rothrist 2004 Gedenkredner zur grössten Armenaustreibung in der Schweiz 1854 und habe darüber im Jahre 2000 publiziert, arbeitete ich auch als Lokalhistoriker mehrfach über die Auswanderung und erklärte Troxlers Verkündigung des Asylrechts im Aargauer Grossratssaal 1834 vor zwei Jahren in Sternstunde Philosophie, was zwar nie beweist, dass man es nicht noch besser wissen könnte. Wer die Schweizer Asyltradition aus den Quellen kennt, von den Hugenotten über die Bourbakis bis zu den Judengeschichten, der kennt auch die Unterschiede zu heute. Ich könnte jederzeit einen Artikel schreiben über die Hetze des stalinistischen Gemeindepräsidenten von Neuhausen, Illi, gegen die Ungarn-Flüchtlinge usw. Es kommt auf die leidigen Details und Differenzierungen an. Deine Aussagen oben über das dir verhasste Christentum kommen etwa so differenziert daher wie wenn Blochers Redenschreiber im Zusammenhang mit Robert Grimm die Millionen Opfer des Kommunismus aus dem Ärmel schüttelt. Sage ich dir als einer, der vor 2 Monaten in Südfrankreich wegen Katharern recherchierte und den Bericht des Dominikaners Las Casas über die Indianerausrottung samt Hintergründen einige Jahre studiert hat.
Als ich zufällig dieses Interview sah, erging es mir gleich wie Autor Kut Marti. Mir fiel auf, dass Gujer von seinem sehr idiologischen Standpunkt aus, der sehr SVP-nah anmutete, immer wieder das Thema Islam anpeilte, wo doch Wilhelm Graf die Raum für die Diskussion breiter öffnen wollte. Der NZZ-Redaktor ist in seiner Position von einem Somm oder Köppel nicht mehr zu unterscheiden. Seit Gujer Chefredaktor der NZZ ist, driftete die vorher viel liberalere Zeitung in einen mehr und mehr idiologischen, SVP-nahen Kurs. Schade um die Verengung der Perspektive. Blocher-Zeitung gibt es langsam wirklich genug.
@Meier Bernhard. Empfehlenswert wäre noch ein längerfristigeres Debattenverständnis. So gab es 1989 im damaligen Fernsehen DRS tatsächlich eine hervorragende ca. zweistündige Debatte mit Adolf Muschg und Frank A. Meyer auf der einen Seite, Ahmed Huber und noch einem iranischen zwar nicht bärtigen zivilen Muslim auf der anderen Seite über Salman Rushdies Roman «Die satanischen Verse». Ehrlich gesagt waren Huber und Meyer unbeschadet von einigen Irrtümern die politisch versiertesten wohlinformierten Kontrahenten, wobei letzterer immerhin seit 30 Jahren radikaler Blocherkritiker ist und nun mal erst recht ein profilierter, leider meist richtig liegender Islamkritiker in der laizistischen Tradition der Schweizer Radikalliberalen, welche im Detail zwar weder Jesuitenkenner noch Islamwissenschaftler sein mussten und trotzdem politisch nicht unvernünftig argumentierten, aus gutschweizerischer Tradition die Fahne der Freiheit aufrecht hielten. Wenn Islam-fundamentalismuskritisch «SVP"-nah ist, dann ist wohl auch Frau Keller-Messali SVP. Man darf sich von psychischen Problemen mit innenpolitischen Konstellationen nicht dumm machen lassen; die Auseinandersetzungen müssten Sie dann wohl erst recht führen, wenn Sie sich nicht mehr von Feindbildern wie «linke Bünzli gegen rechte Bünzli» vom grossen historischen Szenario eines zu bewältigenden Kulturwandels in einer hoffentlich nach wie vor freien Schweiz und einem herausgeforderten Europa ablenken lassen müssten.
@Pirmin Meier. Wenn Gujer fundamentalismuskritisch wäre, würde er nicht fundamentalistische Katholiken verteidigen und ihnen die NZZ öffnen. Es ist auch wenig fundamentalismuskritisch die Islam-Kritik aus rechtskonservativen Kreisen jener von Saïda Keller-Messahli gleichsetzen zu wollen.
@Pirmin Meier. Du schreibst über mich «das dir verhasste Christentum». Was hast du für Hintergrundinformationen, die dich zu dieser Aussage treiben? Ich bin Mitglied der evangelisch-reformierten Landeskirche, zähle reformierte und katholische Theologen/ Pfarrer zu meinem Freundeskreis. Wenn ich die Auswüchse des Christentums kritisch würdige, heisst das noch lange nicht, dass ich diese Religionsgemeinschaft hasse. Es gibt viele Anhänger der christlichen Kirchen, die meine Ansichten teilen. Du gehst überhaupt nicht auf die Kritik an den dunklen Seiten des Christentums ein. Nein, du bringst plötzlich den Stalinismus ins Spiel, so als ob das mit dem zur Diskussion stehenden Thema etwas zu tun hätte. Nicht das erste Mal übrigens. Immer dieselbe Masche. Mit Verlaub: Sei doch ehrlich und bekenne «Eigentlich schickt es sich ja nicht, liebe Blocher, Köppel, Somm, Petry, Wilders, Kurz, Strache, Piusbrüder und wie ihr alle noch heissen möget, sich in euren Club einzureihen. Aber irgendwie finde ich es gar nicht so schlecht, was ihr so tut. Wie ihr, kämpfe auch ich für ein christliches Abendland. (‹Abendland›, das sagt dir doch etwas, Pirmin?) Also dresche ich mal auf die ein, die euch kritisieren.»
@Giusep Nay. Da meine letzten 4 Leserbriefe an die NZZ nicht gedruckt wurden, zähle ich wohl kaum zu den von der NZZ gehätschelten «Fundamentalisten», die wie Garcia und Rhonheimer schreibgewandt sind. Bei der NZZ vermute ich eine staatspolitische Schnittmenge von Neoliberalismus mit dem US-Kirchensystem und der «freien Kirche im freien Staat», wofür im Kulturkampf der konservative Luzerner Kirchenkritiker Segesser eingetreten ist. Nicht nur für radikale Kirchengegner, auch für Churs konservativen Katholizismus und die Freikirchen stellt vollständige Trennung von Kirche und Staat kein Schreckgespenst mehr dar. Sie scheinen bereit, die Kirchensteuer, das letzte Relikt aus der Zeit des ständischen Feudalismus, endlich preiszugeben. Dem gegenüber sympathisieren Landeskirchenanhänger zum Teil mit der öffentlichrechtlichen Anerkennung des Islam, welcher nach Gutachten Weber/. Loretan (wozu Sie das Vorwort beigesteuert haben) jedoch noch grössere innerislamische Hindernisse entgegenstehen. Dem gegenüber gibt es nun aber die Meinung, dass «Gleichberechtigung» aller Religionsgemeinschaften am besten durch die vollständige Trennung von Kirche und Staat gewährleistet werden könnte. Eine Auffassung, die offenbar auch dem Bischofssekretär und Autor Garcia nicht fremd ist. Selber beantragte ich im AG-Verfassungsrat 1975 mit einer ganz anderen geistigen Ausgangslage eine innert 50 Jahren zu vollziehende volle Trennung von Kirche und Staat. Ein Geistlicher empfahl mir «Moskau einfach"!
@Beutler. Persönliches unter Kollegen werde ich inskünftig in privatem Mail beantworten. Sicher ging es nicht darum, die von mir mit aufgearbeiteten «Schattenseiten» des Christentums über die Opfer des Stalinismus und anderen -ismen mit «Wir nicht – die anderen auch» gegeneinander aufzurechnen. Das wäre läppische Tendenzhistorie. Selber glaube ich Verzeichnungen des Bildes von Robert Grimm, dem CB die Opfer des Kommunismus anlasten wollte, in http://www.aargauerzeitung.ch profiliert zurückgewiesen zu haben. Nehme entschuldigend zur Kenntnis, dass du im Gegensatz zu Christentumskritiker Karlheinz Deschner, mit dem ich über Jahrzehnte im kritischen Gespräch war, der Religionsgemeinschaft mit dem aus Deiner Sicht schlimmsten Sündenverzeichnis aller Religionen nicht den Rücken gekehrt hast. Ich glaube, mit nicht wenigen sehr linken, kommunistischen und gewerkschaftlichen Weggefährten ebenfalls in konstruktivem Dialog gestanden zu haben wie du mit deinen Pfarrern. Mit Respekt bewahre ich Originalbriefe des marxistischen Denkers K.F. auf. An Robert Grimm, im Gegensatz zu dir konfessionslos und als Sänger der Internationalen überzeugt, dass kein Gott uns rette, beeindruckt das Ringen um historische Gerechtigkeit. Statt Pauschalurteile über die Religion, «die am meisten Menschenleben auf dem Gewissen» hat, findest du bei Grimm eine Würdigung des christlichsozialen Denkers Montalembert und einen «Hegelschen Rechten» wie Friedrich Albert Lange reduziert er nicht auf den «Club» des Feindes.
Wenn ich Kurt Martis Kommentar zur Sendung lese, verstehe ich die Welt nicht mehr. In meiner Wahrnehmung hat keiner den anderen gepisakt, keinem lupfte es den Hut und keiner erteilte dem anderen eine Lektion. Aber man kann alles nach seinem Gusto interpretieren, und der Kommentar sagt mehr über den Schreiber selbst aus als über die Protagonisten. Zu sagen ist, dass Gespräche über den Islam nie Aufklärung bringen, es sei denn, man lasse die Aufklärer des Islam zu Wort kommen und höre ihnen zu. Es sind Männer und Frauen, die in diese Kultur hineingeboren sind. Sie haben die Religion als Kind verinnerlicht, darunter mörderisch gelitten, sich freigekämpft. Sie haben den Mut, ihr Wissen öffentlich zu machen, vor der Gefahr der Islamisierung des Westens zu warnen, obwohl sie dauernd mit dem Tod bedroht werden. Noch besser, man liest ihre Bücher. Dann müsste Friedrich Wilhelm Graf auf die Frage von Katja Gentinetta über den Zusammenhang von Religion und Gewaltbereitschaft nicht antworten: «Genau erklären können wir das nicht, weil wir zu wenig über diese Menschen wissen, denn das Problem ist, dass sozusagen alles, was wir an sozialwissenschaftlicher Feldforschung anstellen können: dahingehen, mit ihnen reden, in aller Regel wenig bringt.» Dazu muss gesagt sein: Nichts, was in einer muslimischen Familie passiert, darf nach aussen dringen. Es muss das Geheimnis des Hauses bleiben. Die Aufklärer des Islam durchbrechen dieses Tabu. Sie riskieren ihr Leben wie alle Aufklärer vor Ihnen.
@Koller
Vor der Gefahr der Terrorisierung und Amerikanisierung des Ostens, ja der gsamten Erde, ist ebenso -noch mehr sogar – zu warnen. Man lese nur mal die Bücher von Zbigniew Brzeziński, der grauen Emininenz, die seit Jahrzehnetn hinter den wechselnden Administrationen von Washington stand und die «Drehbücher» für die illegalen Kriege der Nato geschrieben hat. Der Westen hat sich zu hüten vor:
-der Dogmatisierung und des Missbrauchs der christichen Weisheit
-dem Euro- und Amerika-Zentrismus
Er hat sich für den Dialog der Kulturen, statt dessen (herbeigereden) «Kampf» (S. Huntington) im Namen geld- und machtgierigiger Grosskonzerne -schussendlich der Eliten (auch des Ostens, die mit den westlichen längst in einem Boot sitzen)-einzusetzen. Das wäre eine spezifisch neue Ausrichtung wirklich europäischer Politik, und dabei müssten die Deutschen (mit ihrer schlimmen Vergangenheit) eine zentrale Rolle spielen. Dazu bräuchte es Mut und Weitsicht!
Und falls falls ihnen zur einen oder anderen Aussage nur das Wort «Verschwörungstheorie» einfällt bitte ich das gut zu überdenken. Denn es keine Theorien. Ich werfe auch keine Verschwörung vor. Es handelt sich um einen diffusen (nicht gesteuerten) Mechanismus von Gewalt, Lügen und Betrug, der einfach durchschaut werden muss. Schlussendlich gibt es bei dieser Kriegstreiberei (des Westens) keine Gewinner…