Kirche: «Gleichstellung ist noch lange nicht erreicht»
Red. Gabriela Allemann (41) ist seit Juni 2019 Präsidentin der «Evangelischen Frauen Schweiz» (EFS). Die EFS vertreten 37’000 Frauen, werden zu Vernehmlassungsverfahren eingeladen und halten Einsitz in die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen. Die Organisation spricht sich für liberale Werte aus, mischt sich oft in Politik und Aktualität ein und ruft seine Mitglieder unter anderem zur Teilnahme an den Wahlen im Oktober und zur Teilnahme an «Fridays for Future»-Demonstrationen auf. Vor ihrem Engagement bei den EFS arbeitete Allemann während zehn Jahren als Pfarrerin der reformierten Kirchgemeinde Münsingen (BE). Sie absolvierte ihr Theologie-Studium in Bern und wählte als Schwerpunkt unter anderem Feministische Theologie. Allemann bezeichnet sich selber als Öko-Feministin und engagiert sich seit Jahrzehnten innerhalb und ausserhalb der Kirche für die Gleichstellung von Frauen.
Frau Allemann, Sie beschäftigen sich seit Ihrer Jugend mit gesellschaftspolitischen Fragen aus christlich-feministischer Perspektive. Warum?
Mein Grossvater leitete auch nach seiner Pensionierung als Pfarrer noch Gottesdienste. Schon als kleines Mädchen bin ich häufig mitgegangen. Nach den Gottesdiensten fragte er mich immer, was mir gefallen habe und was nicht. Unter anderem dank ihm lernte ich, kritisch zu denken. Das betraf dann vor allem den internen kirchlichen Bereich. Am Familientisch diskutierten wir zudem oft über gesellschaftliche Fragen, Gerechtigkeit und Frieden.
Und der Feminismus?
Der kam während der Zeit im Gymnasium. Ich bin in einer Familie mit klassischem Familienbild und klassischen Rollenbildern aufgewachsen. Lange habe ich das nicht hinterfragt. Was ich als Erweckungserlebnis bezeichne: Ein Deutschlehrer fand, Frauenfussball sei unästhetisch, das gehe gar nicht. Ich habe dann gemerkt, dass es seine Aussage war, die fehl am Platz ist. Von da an verknüpften sich Fragen der Gerechtigkeit mit Frauenfragen.
Sie waren während zehn Jahren reformierte Pfarrerin in Münsingen. Erlebten Sie während dieser Zeit Ungleichbehandlung?
Nein. Faktische Ungleichbehandlung erlebte ich nicht. Ich war rechtlich gleichgestellt wie mein Kollege. In der reformierten Kirche können Frauen aber erst seit einigen Jahrzehnten zur Pfarrerin ordiniert werden, das spürt man. Eine Frau als Pfarrerin ist noch immer nicht die Normalität und etliche denken, wir Frauen sollten nun zufrieden sein und nicht «noch mehr» fordern.
Wie reagierten die Gläubigen?
Die meisten finden es bereichernd, wenn auch Frauen den Gottesdienst leiten. Aber natürlich gibt es auch Menschen, die in einem inneren Zwiespalt gefangen sind: Zwar mögen sie die Inhalte, die ich vermittelte. Dann sind sie aber auch sehr bibeltreu und finden, dass ich ja eigentlich nicht in der Kirche stehen und verkünden dürfte. Diese innere Zerrissenheit spürte ich ab und zu. Diese Menschen möchten zwar etwas Neues annehmen, gleichzeitig sind sie im Biblizismus gefangen.
In Sachen Gleichstellung ist die reformierte Kirche der katholischen um einige Schritte voraus. Fühlen Sie sich in katholischen Gottesdiensten wohl?
Mein Mann ist katholisch und die Rituale der katholischen Kirche finde ich schön. Ich mag auch gemeinsam verantwortete, ökumenische Gottesdienste sehr gern. Ob ich mich in einem Gottesdienst wohlfühle, hängt massgeblich davon ab, wer ihn wie leitet. Oft habe ich Mühe mit der Sprache, besonders in der katholischen Kirche ist die Männlichkeit noch sehr dominant.
Ein unumstösslicher Fakt in der Kirche: Gott ist männlich.
Das ist ja eigentlich erstaunlich – und falsch. Kinder machen diese Kategorisierung noch nicht, das Bild des alten Mannes mit dem Bart wird ihnen im Lauf der Zeit «eingepflanzt». Wenn sie aber noch jünger sind, haben sie vielfältigere Bilder. Die Fokussierung auf Gott als Herrn und Vater, ist eine furchtbare Einengung. Sie macht es für viele schwierig, Anschluss zu finden. Zum Beispiel wenn das Verhältnis zum Vater schwierig war. Es gibt aber immer mehr Kolleginnen und Kollegen, die andere, durchaus biblische Bilder heranziehen, wenn sie von Gott sprechen. Das muss sich noch verstärken. Es muss auch bei der Ausbildung von Pfarrpersonen zwingend thematisiert werden: Wie sprechen wir von Gott und den Erfahrungen, die wir mit dem Göttlichen machen?
Die Kirche als Institution ist geschichtlich gesehen die wohl grösste Feindin der Gleichberechtigung.
In der Tat ist die Kirche einer der Stabilisatoren des Patriarchats – entgegen der Intention des Jesus von Nazaret, auf welchen wir uns ja berufen. Ich werde mir immer wieder bewusst, wie lange patriarchalische Strukturen und die Kirche eng verflochten waren. Und wie die Kirche aktiv daran mitarbeitete, Frauen und das Weibliche auszugrenzen. Ich glaube, die reformierte Kirche ist langsam dabei, solche Rollenbilder zu überwinden. Aber wir sind noch immer auf dem Weg: Das Bewusstsein für die «Gleichwürdigkeit» der Geschlechter ist noch nicht da.
In der reformierten Kirche sind Frauen rechtlich gleichgestellt. Steht diese Errungenschaft unter Beschuss?
Ja. Aktuell gibt es zum Beispiel – zum Glück nur wenige – jüngere Menschen, die Theologie studieren und die Frauenordination in Frage stellen. Die rechtliche Gleichstellung ist in der reformierten Kirche zwar da, man kann sie aber natürlich umgehen. Der typische evangelische Pfarrer ist ein Mann, der in einem hundertprozentigen Pensum arbeitet. Seine Familie lebt im Pfarrhaus und gruppiert sich um ihn. Dieses Bild existiert auch bei vielen Kirchenrätinnen und Kirchenräten noch immer. Diese Vorstellung prägt zum Beispiel auch Anstellungsverfahren.
Sie kennen sowohl die reformierte als auch die katholische Kirche. Sehen Sie auch bei der katholischen Kirche eine Entwicklung in Sachen Gleichberechtigung?
Da schaue ich von aussen – und bin daher vorsichtig. Aber ja, diese Entwicklung gibt es auch in der katholischen Kirche. Beim Frauenstreik waren es insbesondere die katholischen Frauen, die vorangegangen sind und die kirchlichen feministischen Forderungen hochgehalten haben. Immer wieder gibt es Frauen, die wegen der mangelnden Gleichberechtigung aus der katholischen Kirche austreten. Da gibt es sehr viele laute Stimmen, darunter auch die Stimmen von Männern, die finden, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Noch vor wenigen Jahren wäre das schier undenkbar gewesen.
Der Papst sagte erst kürzlich, dass die Ordination für Frauen in naher Zukunft nicht vorgesehen sei.
Ich denke, die katholische Kirche hat Angst vor dem Verlust von Traditionen. Und natürlich gibt es noch immer Stimmen, die sie in ihrem Weg stützen. Sie sagen, die katholische Kirche sei immerhin noch die Einzige, die an der sogenannten Göttlichen Ordnung festhalte. Für die katholische Kirche sind diese konservativen Kreise ein Garant und sie fürchtet sich davor, diese Gläubigen zu verlieren. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass bei der katholischen Kirche viel läuft. Frauen sind im Gottesdienst sichtbar geworden. Die Sakramente sind ihnen aber noch verwehrt.
Die Entwicklung der katholischen Kirche in Sachen Gleichberechtigung kann an folgendem Beispiel festgemacht werden: Bereits in den 70er-Jahren setzte der Vatikan eine Bibelkommission ein, die feststellte, dass es keinen Grund gibt, Frauen zu diskriminieren. Die Ergebnisse des Berichts wurden unter Verschluss gehalten.
Schwieriges Vorgehen! Und dennoch spricht man heute in der katholischen Kirche über die Thematik der Gleichberechtigung. Es gibt feministische Theologinnen und auch männliche Priester, die sich immer wieder entsprechend einbringen – von der Basis kommt viel!
Und immerhin hat die katholische Kirche auch Probleme mit der Schweizer Verfassung und mit internationalem Recht.
Zur staatlichen Anerkennung gehören die Annahme und Umsetzung von Gleichberechtigung und Gleichstellung. Da hat die katholische Kirche ein Problem, welches heute dringender wird, weil sich immer mehr Glaubensgemeinschaften rechtlich anerkennen lassen wollen. In den Diskussionen kommt dann immer wieder zu Sprache, dass eine der grössten anerkannten Glaubensgemeinschaften gewisse Voraussetzungen nicht erfüllt.
Konservative Kreise wollen auch in der Kirche keine Gleichberechtigung der Geschlechter. Exakt diese Kreise wollen dann anderen Glaubensrichtungen vorschreiben, was sie zu tun haben. Das ist heuchlerisch.
Das sehe ich auch so. Heute wird muslimischen oder freikirchlichen Gemeinschaften auferlegt, sie müssten die Gleichberechtigung umsetzen. Das ist richtig. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es auch in der reformierten Kirche und in unserer Gesellschaft ein langer Weg dorthin war und noch immer ist. Wenn rechtskonservative Politiker, die zum Beispiel klare Gegner des Frauenstimmrechts waren, dann plötzlich die Frauenrechte verteidigen, kann ich das nicht ernst nehmen.
Es gibt viele evangelische Freikirchen, die sich als streng bibeltreu verstehen und bei der Gleichstellungs-Thematik als Totalverweigerer auffallen. Dasselbe Bild bei anderen Themen, etwa der Abtreibung oder der Ehe für Alle. Woher kommt diese stark konservative Haltung?
Das hängt mit einem stark biblizistischen Weltverständnis zusammen. Die Bibel wurde vor rund 2500 Jahren und damit in einer stark patriarchal geprägten Zeit geschrieben. Es ist unmöglich, alles eins zu eins ins Heute zu übertragen. Im Übrigen es ist auch nicht sinnvolll. Es ist dann zu beobachten, dass in vielen Freikirchen diejenigen, zum Teil marginalen Aussagen aus der Bibel herausgenommen und weitervermittelt werden, die ins eigene Weltbild passen. Diese werden dann als Fakten von ewiger Geltung und Bedeutung dargestellt. Es geht um das für mich unumängliche historisch-kritische Bibelverständnis, mit welchem viele Freikirchen Mühe haben. Es muss aber betont werden, dass die Bandbreite auch innerhalb der Freikirchen gross ist und die Haltungen sehr unterschiedlich sind.
Wo sehen Sie die Rolle der Kirche?
Ein aktuelles Beispiel sind die Klima-Demos. Die Jugend macht auf die Klima-Krise aufmerksam, das finde ich grandios. Jetzt könnte die Kirche sagen, das geht uns nichts an. Oder sie sagt, das gehört auch zu unserem Auftrag, denn der Mensch hat die Aufgabe, die Schöpfung zu bewahren. Die Kirche kann mitgehen, die Anliegen unterstützen und eigene Stellungnahmen entwickeln. Die Kirche existiert nicht einfach in einer geschlossenen Blase, sie ist mittendrin. Ein weiteres Beispiel ist der Frauenstreik, der ja eigentlich von den Gewerkschaften ausging. Trotzdem gab es viele Frauen aus den unterschiedlichsten kirchlichen Organisationen, die den Streik mitgetragen haben.
Der Slogan der Kirchenfrauen beim Frauenstreik war: «Gleichberechtigung. Punkt. Amen.» Wie weit sind wir davon entfernt?
Die Gleichberechtigung ist noch lange nicht erreicht, das zeigt die Aktualität. Aber der Frauenstreik war ein starkes Zeichen. Ich denke, um im Bild zu bleiben, wir sind auf der Mitte des Weges, vielleicht sogar ein wenig weiter. Weil rechtlich eigentlich schon relativ viel erreicht worden ist und es nun vor allem um die Umsetzung und um Feinjustierungen geht. Was das allgemeine Bewusstsein zu Geschlechterfragen angeht, habe ich das Gefühl, dass weiterhin starker Handlungsbedarf besteht.
Sie und auch die EFS vertreten gesellschaftlich liberale Positionen. Wie weit reichen diese Positionen?
Bei der Ehe für Alle ist für uns eindeutig: Es geht um Liebe, um Bindung und um verantwortungsvolle Beziehungen. Wir sehen keinen Grund, der gegen die Ehe für Alle spricht. Weder bei der zivilrechtlichen noch bei der kirchlichen Trauung, noch bei der Adoption. Wenn es um die Fortpflanzung geht, sind wir zurückhaltender. Wir befürworten, dass auch lesbische Paare Zugang zur Samenspende haben, da sie ein relativ kleiner Eingriff und wenig belastend ist. Alles was weiter geht, zum Beispiel die Frage der Leihmutterschaft, muss unabhängig von der sexuellen Orientierung besprochen werden. Da geht es um Fragen der physischen und psychischen Gesundheit der Frauen. Aus Frauensicht stehen grosse Fragezeichen im Raum.
Und beim Thema der Abtreibung?
Wir sprechen uns für das Recht der Frau aus, zusammen mit ihrem Umfeld die Entscheidung über eine mögliche Abtreibung zu treffen. Obwohl ein kontroverses Thema, gab es kaum Auseinandersetzungen mit den Mitgliedern, auch nicht bei anderen Positionsbezügen. Vielmehr erreichen uns ab und zu Briefe, die die EFS in ihrer Haltung und der klaren Positionierung bestärken.
Kritische Stimmen sagen, die Kirche habe in der Politik nichts verloren und fordern die Trennung von Kirche und Staat.
Die Kirche muss sich in die Politik einbringen. Schlichtweg deshalb, weil wir mittendrin stehen. Keine Stellung beziehen und nichts sagen ist auch eine Haltung. Sie bekundet Desinteresse und Weltabgewandtheit.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Der Protestantismus ist keine Religion, sondern die Sozialdemokratie des Christentums. Wie das Original völlig überflüssig und nur zu Zeiten von Kapitalismus mit relativer Existenzberechtigung versehen.
Selbstverständlich müssen Kirche und Staat getrennt sein, denn die Kirchen sind auch Staaten. Aber eben nicht die herrschenden.
Vielen Dank für diesen informativen Beitrag zu einem wichtigen Thema.
Danke für diesen eindrücklichen Beitrag. Im Kanton Bern sind noch über 50% der Bevölkerung Angehörige einer der Landeskirchen, in denen gesellschaftliche Fragen nicht nur nach den Erfordernissen des Marktes (Wachstumszwang etc.), sondern in Bezug auf menschliche Werte diskutiert werden, die von der unverfügbaren Würde des Menschen ausgehen. Menschen am Rande der Gesellschaft werden wahrgenommen. Nicht nur als Almosenempfänger, sondern als Mitmenschen, die deutlich machen, dass etwas in der Gestaltung des Zusammenlebens aus dem Gleichgewicht gekommen ist.
Es lohnt sich, zur Kirche als gesellschaftliche Kraft Sorge zu tragen. Selbst wenn man sich selber nicht (mehr) zugehörig fühlt.
Ergänzung: «Ein unumstösslicher Fakt in der Kirche: Der Teufel ist männlich», warum stört dies die Feministen nicht? Und gibt es Beweise, dass Gott XY-Chromosomen hat?
Die Frage der «Gleichberechtigung» steht im Raum der Frage, was man unter «gleich» versteht: identisch oder gleich wertvoll oder beides… An dieser Frage eckt immer wieder an da sie nicht zu lösen ist.