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Ein muslimischer AKW-Techniker hat seine Lebensgrundlage verloren – weil er ein Terrorrisiko sei. © pixabay/Montage

Kernkraftwerk-Techniker wird zum potentiellen Terroristen

Tobias Tscherrig /  Im Namen der Sicherheit verbot der französische Staat einem Muslim den Zugang zu Atomstandorten. Zu Unrecht, urteilt ein Gericht.

Der französische Staat verbot einem Techniker muslimischen Glaubens während zwei Jahren den Zugang zu sämtlichen Atomstandorten. Der Mann habe Verbindungen zum radikalen Islam, sagen die Behörden – bleiben den Beweis dafür aber schuldig. Ein Gericht gab dem Techniker recht und verurteilte die französische Republik zur Zahlung einer Entschädigung von insgesamt 24’366 Euro. Seinen Job erhielt der Techniker trotzdem nicht zurück. Seine Existenz ist zerstört.

Der Fall wirft Fragen auf: Wie weit dürfen Behörden gehen, um die Sicherheit von sensiblen Anlagen zu gewährleisten? Wie weit bei Radikalisierungsabwägungen, die nicht auf begangenen Taten, sondern auf einem Risiko beruhen? Darf der Staat im Namen dieses Vorsorgeprinzips eine Karriere und eine Familie zerstören, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen?

«Offene und tolerante Familie»
Rami* ist 53 Jahre alt, wurde in Marokko geboren, besitzt die französische Staatsbürgerschaft und lebt seit über 40 Jahren in Frankreich. Er kam nie mit dem Gesetz in Konflikt, hat keine Vorstrafen. Sein Vater ist Kriegsveteran und beteiligte sich während des Zweiten Weltkriegs an der Befreiung Frankreichs.

Rami ist vierfacher Vater und wohnt mit seiner Familie in Saône-et-Loire. Die Kinder besuchen sämtliche gemischten schulischen Sportaktivitäten, essen in der Kantine zu Mittag, tragen keinen Schleier. Nachbarn bezeichnen die Familie als «offen», als «tolerant und nicht radikal». Rami sei ein «ernster Mann, der sein Leben der Arbeit widmet, um seine Familie zu ernähren».

Aber Rami ist praktizierender Muslim. Obwohl er jede Verbindung zum radikalen Islam vehement bestreitet, ist sein Glaube zum Problem geworden.

Plötzlich ist die Existenzgrundlage weg
Seit 1990 arbeitet Rami als technischer Koordinator für zwei Subunternehmen der «Éléctricité de France SA» (EDF). In seiner Funktion reist der 53-Jährige seit 28 Jahren durch ganz Frankreich und wartet Kernkraftwerke.

Am 14. April 2016 arbeitet Rami am Block 1 des Kernkraftwerks Civaux, als sein Telefon klingelt. «Mein Chef hat mich angerufen. Er sagte mir, man hätte meine Zugangsberechtigung zurückgezogen. Ich müsse das Gelände unverzüglich verlassen», so Rami gegenüber «mediapart». Aber ohne die Zugangsberechtigung zu den französischen Kernkraftwerken, kann er seine Arbeit nicht mehr ausführen.

Um ihn nicht entlassen zu müssen, schickt ihn sein Arbeitgeber in eine Auszeit. Während dieser versuchen Rami und sein Chef, eine neue Zugangsberechtigung zu erhalten. Fehlanzeige. Heute lebt die Familie von Sozialhilfe, das sind ungefähr 1500 Euro im Monat.

Finanziell und psychologisch sei es sehr schwer, sagt Ramis Frau gegenüber «mediapart». Die Tochter habe beinahe ihr Studium abgebrochen, um Geld zu verdienen. Alle drei Monate muss die Familie im Rathaus erscheinen, um ihren Anspruch auf die Mindestsicherung (RSA) zu rechtfertigen. Das Vertrauen in den Staat ist weg: Die Kinder wollen das Land verlassen, sobald sie ihre Diplome in der Tasche haben.

Nach 28 Jahren: plötzlich Terrorist
Mangels anderer Erklärungen, sieht sich Rami als Opfer von Islamophobie und weigert sich, in einem anderen Sektor Arbeit zu suchen. «Ich bitte nur um Gerechtigkeit, ich habe nichts getan. Ich möchte wieder eingestellt werden.»

Aber egal, wie oft er den Grund für die Löschung seiner Zugangsberechtigung erfahren will, Rami erhält keine Antwort. Die involvierten Stellen verweisen auf den jeweils anderen und bleiben ansonsten stumm. Im Dezember 2016 antwortet das Ministerium für Umwelt, nachhaltige Entwicklung und Energie schliesslich, dass Zugangsverbot sei bereits klassifiziert, die Gründe seien nicht kommunizierbar.

Rami gibt sich damit nicht zufrieden und verklagt den Staat Frankreich auf Schadenersatz. Dadurch erhofft er sich zumindest eine Antwort. Er will wissen, warum er nach 28 Jahren plötzlich nicht mehr in seinem Beruf tätig sein darf.

Während dem Prozess kommt der Grund ans Licht: In einem zweiseitigen Schreiben weist das zuständige Ministerium auf eine Untersuchung des Innenministeriums hin. Diese zeige, dass Rami durch bestimmte Verbindungen sensibel für die Thesen des radikalen Islams sei. Durch den Zugang zu sensiblen Bereichen für nukleare Sicherheit, könnte seine «Verwundbarkeit» für böswillige Zwecke – zum Beispiel durch terroristische Organisationen – genutzt werden.

Aufgrund von Informationen der französischen Geheimdienste ist Rami zum «Gefährder», zum potenziellen Terroristen geworden.

Vorsorgliche Strafe für ein nicht begangenes Verbrechen
Obwohl sich Rami vehement gegen diese Anschuldigung wehrt, hat er das Nachsehen. Die Informationen der Geheimdienste bleiben auch vor Gericht unter Verschluss – obwohl sie nach Ansicht der Behörden den Entzug der Zugangsberechtigung legitimieren sollen. Damit weiss Rami nicht einmal genau, wogegen er sich wehren muss. Es geht nicht um eine Straftat in seiner Vergangenheit, es geht darum, dass jemand bei ihm ein erhöhtes Risiko zur Möglichkeit eines terroristischen Anschlags gefunden hatte.

Immerhin erhält er vor Gericht recht. Die Richter weisen darauf hin, dass die Behörden «sich nicht auf eine bestimmte materielle Tatsache beziehen, die geeignet ist, die Realität der Verbindungen zwischen Rami und dem radikalen Islam sowie die Risiken von böswilligen Handlungen zu belegen». Die Richter gehen noch weiter und erklären, dass der Entzug der Zutrittsberechtigung mit «Illegalität behaftet» ist. Dies, weil spezifische Elemente fehlen würden, die es dem Gericht ermöglicht hätten, die Risiken für die öffentliche Sicherheit, auf die sich die Behörden berufen, zu bewerten.

«Die Entscheidung wird als illegal eingeschätzt aber nicht annulliert», sagt Aïcha Lamamra, die Anwältin von Rami, gegenüber «mediapart». «Als Vorsichtsmassnahme scheint die Regierung entschieden zu haben, Vertreter muslimischen Glaubens aus sensiblen Bereichen zu entlassen. Das ist illegal und stört das Leben der Menschen.»

Rami erhält eine Entschädigung von insgesamt 24’366 Euro zugesprochen. Da seine Klage jedoch nur den erlittenen Schaden und nicht das Zugangsverbot selbst behandelte, hebt das Gericht die Verweigerung zur Erteilung der Zugangsberechtigung nicht auf.

Damit sind die Behörden zufrieden, sie werden keine Berufung gegen das Urteil einlegen. Man sei nicht in der Lage, einem Berufungsrichter andere Argumente vorzulegen. Die meisten Elemente, auf die sich der Entscheid zur Verweigerung des Zutritts stütze, seien durch das nationale Verteidigungsgeheimnis abgedeckt, nehmen die Behörden bei «mediapart» Stellung. Im Übrigen sei man noch immer der Meinung, dass Rami ein zu grosses Sicherheitsrisiko darstelle, um ihm den Zugang zu einer Nuklearanlage zu ermöglichen. Nur – niemand weiss genau warum.

Steigende Anzahl von Fällen
Für Malik Salemkour, Präsident der Liga für Menschenrechte (LDH) werden Menschen wie Rami doppelt bestraft: durch die Behauptung der Behörden, dass sie gefährlich sind und durch die Verweigerung des Zugangs zur Beschäftigung.

Derartige Fälle sind in Frankreich keine Seltenheit. Exemplarisch dafür steht die Rücknahme der Zutrittsberechtigung von 72 muslimischen Mitarbeitern des Flughafens Roissy-Charles-de Gaulle im Jahr 2016. Ihre Zutrittsberechtigungen zu sensiblen Bereichen wurde zurückgezogen, nachdem der französische MPF-Politiker und Publizist Philippe de Villiers im Buch «Les Mosques de Roissy» behauptet hatte, Islamisten hätten die Dienste grosser Flughafen unterwandert. «Nach dieser ersten Welle gab es noch vor dem Ausnahmezustand einige ähnliche Fälle, seitdem steigt die Fallzahl», sagt Lila Charef, Direktorin des Kollektivs gegen Islamophobie in Frankreich (CCIF) gegenüber «mediapart».

Knapp zwei Prozent wegen Radikalisierung
Unternehmen, die in Frankreich im Nuklearbereich tätig sind, müssen regelmässig ein individuelles Antragsformular für die Zugangsberechtigung ihrer Mitarbeitenden stellen. Der Direktor der EDF stellt den Passagierschein erst nach einer Verwaltungsuntersuchung der staatlichen Dienste und der Meinung des jeweiligen Präfekten aus.

Wie «mediapart» in Erfahrung brachte, werden in Frankreich jedes Jahr rund 150’000 Anfragen für Zutrittsberechtigungen durchgeführt. Dabei liegt die Ablehnungsquote bei etwa 0.7 Prozent. Innenminister Gérard Collomb erklärte, dass die negativen Meinungen am Häufigsten im Zusammenhang mit dem regelmässigen Konsum von Betäubungsmitteln, wegen schwerem Diebstahl, Betrug oder schwerer Gewalt abgegeben würden. Von 753 negativen Meinungen seien 15 mit Phänomenen der Radikalisierung verbunden gewesen. Das sind knapp zwei Prozent.

Sicherheit in AKW’s ist nicht gegeben
Nachdem der rund zwei Jahre dauernde Ausnahmezustand in Frankreich beendet wurde, verpasste sich Frankreich im Oktober 2017 ein neues Anti-Terrorgesetz. Seitdem müssen sich Arbeiter mit Zugang zu Nuklearstandorten vermehrt Kontrollen unterziehen. So werden zum Beispiel EDF-Angestellte nicht mehr wie bisher alle drei Jahre, sondern jedes Jahr befragt.

«Es genügt, mehrmals betrunken zu sein (…), um ein Zugangsverbot zu erhalten», sagt Thierry Raymond vom französischen Gewerkschaftsbund (CGT) gegenüber «mediapart». «Früher haben wir es geschafft, diese Fälle zu lösen, indem wir mit dem Direktor des Betriebsstandortes gesprochen haben. Aber seit den Anschlägen gehen sie selten die Gefahr ein, dem Präfekten zu widersprechen.»

Allerdings sind die Zutrittsberechtigungen nur eine Seite der Sicherheit von Frankreichs Kernkraftwerken. In den anderen Bereichen geschieht dagegen nur wenig. Als die 58 Reaktoren, die Frankreich mit Strom beliefern, nach der Fukushima-Katastrophe im Rahmen von europaweiten Kontrollen überprüft wurden, fielen alle negativ auf. Selbst das beste französische Kernkraftwerk lag mit fünf Rügen weit unter dem europäischen Schnitt.

Auf Frankreichs Druck wurden in der gesamten EU nur 38 von 134 Kernkraftwerken inspiziert. Acht weitere Anlagen kamen dazu – nachdem es heftige Kritik gegeben hatte. Zusammen mit Grossbritannien ist Frankreich auch dafür verantwortlich, dass terroristische Anschläge und Cyberattacken aus dem Prüfkatalog gestrichen wurden.

Es erstaunt kaum, dass französische NGO’s die Zustände seit Langem kritisieren. Zum wiederholten Mal lenkten sie kürzlich einige Drohnen in ein Atomkraftwerk – um gegen die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen zu protestieren.

* Name geändert
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