«Hochintelligent bei Abwesenheit jeglicher Erotik»
Frau Ranke-Heinemann, werden Sie Ende Monat nach Rom reisen?
Uta Ranke-Heinemann: Nein, zu hundert Prozent nicht!
Papst Benedikt XVI. wird am 27. Februar seine letzte Generalaudienz geben. Möchten Sie nicht dabei sein?
Überhaupt nicht. Aber ich gucke mir jeden Abend den Fernsehsender des Vatikans an.
Seine Demission kam für Rom und die katholische Welt völlig überraschend. Für Sie auch?
Ja, ich war völlig überrascht.
Benedikts Vorgänger Johannes Paul II. amtete bis zur finalen Agonie. Nach seinem Tod trauerten Millionen auf Strassen und Plätzen. Diese Verbundenheit fehlt heute völlig.
Als Johannes Paul starb, haben alle um ihn getrauert. Ich auch, obwohl ich mich 26 Jahre über ihn aufgeregt und Ratzinger immer entschuldigt hatte: «Wes Brot ich ess des Lied ich sing.» Erst als er dann Papst wurde, habe ich gemerkt, dass er es war, der die Kirche seit 1981 beherrschte und alle fortschrittlichen Professoren weltweit von ihren Lehrstühlen kippte. Und er hat sich auf allen Bischofssitzen geklont. Deshalb habe ich auch keine Hoffnung, dass es beim nächsten Papst besser wird.
Seine Demission ist ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Eigentlich holt Gott den Papst zu sich, wenn die Zeit gekommen ist.
Ja natürlich, die Päpste sind gestorben wie jeder Mensch. Einen Rücktritt habe ich wirklich nicht erwartet. Ich bin ja nur einige Monate jünger als er und kann deshalb gut verstehen, dass er diesen weiten Reisen kräftemässig nicht mehr gewachsen ist. Bei ihm kommt aber noch etwas anderes hinzu: Mit all den Intrigen und Misswirtschaft geht ja momentan im Vatikan einiges drunter und drüber, sodass er sich besser aus der Verantwortung entfernt.
Der letzte Rücktritt geht auf das Jahr 1294 zurück, als Coelestin V. als überforderter Sonderling das Amt niederlegte. Damals kam es zu einem Volksaufstand und zu Diskussionen, ob dies überhaupt möglich sei …
… und nun nimmt man Coelestin als Beispiel, dass so etwas möglich ist …
… wie erklären Sie sich die fehlende Rücktrittskultur im Vatikan?
Naja: Wer so weit nach oben kommt, muss ehrgeizig sein. Dieser Ehrgeiz ist ganz sicher bei Papst Benedikt vorhanden.
Wäre also die Rolle des Papstes grundsätzlich neu zu überdenken?
Darüber, dass das eine Fehlentwicklung ist, kann man seit 2000 Jahren nachdenken. Wie kann sich ein Mann – noch nicht mal eine Frau – in Glaubens- und Sittenfragen für unfehlbar erklären. Das ist eine derartige Arroganz! Demnach ist nämlich auch Papst Sixtus V. unfehlbar, der im Jahr 1586 Homosexuelle verbrennen liess.
Der Papst ist eben der Stellvertreter Christi auf Erden.
Wer sagt denn das? Das ist er nach Meinung der Päpste über sich selbst und all der Beifallklatscher unter den Leuten, die ihren Verstand nicht genug benutzen. Das Christentum hat zu einer Infantilisierung der Menschheit geführt: Alle Hirten sind Männer, alle Frauen sind Schafe! Die Intelligenz der Frauen spielt da überhaupt keine Rolle.
Führt die Wahl eines Nachfolgers bei einem noch lebenden Papst nicht zu Problemen?
Das Ganze ist ein Problem! Ein Unfehlbarer tritt zurück – ein neuer Unfehlbarer wird gewählt. Aus diesem irren Zirkus kann man gar nicht aussteigen, wenn man jemanden in Glaubens- und Sittenfragen als unfehlbar erklärt.
Sie haben einst mit Joseph Ratzinger studiert. Wie war er?
Als ich 1953/54 in München studierte, musste man die Thesen der Doktorarbeit ins Lateinische übersetzen. Ich war damals schon verlobt, also suchte ich mir einen Kommilitonen für die einsamen Stunden in den dunklen, leeren Räumen der Universität, bei dem ich mir absolut sicher war, dass er mir nicht plötzlich einen Kuss auf die Backe drückte. Da ist mir Ratzinger aufgefallen. Er war sozusagen das reine Latein und hatte schon immer die Aura eines Kardinals: Hochintelligent bei Abwesenheit jeglicher Erotik. Genau das suchte ich.
Als Sie dann Ihren Lehrstuhl verloren, hatte er Ihnen Trost zugesprochen. Eine nette Geste?
Da kann ich nur bitter lachen!
Sie verloren Ihren Lehrauftrag, weil Sie die Jungfrauengeburt in Frage stellten. Das tat Ratzinger damals auch?
Das Thema war damals wochenlang im Fernsehen. In der allerletzten WDR-Sendung, am Samstag, 13. Juni 1987, abends 22.45 Uhr, hatte ich das Buch von Ratzinger, den ich damals sehr verehrte, auf dem Schoss: «Einführung in das Christentum», 2. Auflage 1968, Seite 225. Daraus las ich vor: «Die Jungfrauengeburt ist nicht biologisch zu verstehen.» Worauf ein Dominikaner mich korrigierte: «Was Ratzinger sagt, ist falsch, Sie dürfen sich nicht auf ihn berufen». Tags darauf habe ich Ratzinger einen Brief geschrieben über die hier herrschende Primitiv-Theologie – mit Kopie an das Bistum Essen. Am Montag, 15. Juni kam dann die Meldung im Fernsehen, meine Lehrbefugnis sei mir entzogen worden.
Wie reagierte Ratzinger?
Nun, inzwischen ist der WDR-Film über die damalige Diskussionsrunde völlig verfälscht: Der Dominikaner ist zwar noch da, aber die Worte sind weggeschnitten. Und ich lese auch nicht aus Ratzingers Buch vor. Das ganze Filmdokument wurde verfälscht. Jetzt sind Leute daran, dies aufzuklären. Allerdings kann ich mir schon vorstellen, wer dahinter steckte.
An wen denken Sie?
Meinen Brief über die Primitivtheologie hier hatte ich ja nur an Ratzinger und in einer Kopie an das Bistum geschickt. Auf Anfrage sagte das Bistum Essen, die Korrespondenz mit Ranke-Heinemann sei bis 2027 versiegelt. Wenn ich also 100 bin und tot, wird dann alles vernichtet. Aber ich habe keine Lust, mich in meinen letzten Tagen von Pompeji als einsame Witwe gegen diese verlogene Weltkirche zu wehren.
Ratzingers Wahl zum Papst im Jahr 2005 hatten Sie aber noch begrüsst …
… und wie! Im Fernsehen und überall hatte ich erzählt, in der Kathedrale meines Herzens habe immer eine Kerze für ihn gebrannt. Ich dachte, jetzt sei ein Reformator des Zölibates gewählt worden. Da hatte ich mich schwer getäuscht!
Er galt als wenig konfliktfähig. Haben Sie diesen Charakterzug auch festgestellt?
Sie fragen jemanden, der sich über ein halbes Jahrhundert getäuscht hat! In meinem Buch «Eunuchen für das Himmelreich» ist jetzt ein Kapitel über Benedikt XVI. angehängt: Er war es, der die Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche vollendete. Das habe ich einfach zu spät gemerkt!
Benedikt war mehr Theologe als Kirchenführer. War er deswegen in seinem Amt überfordert?
Sie fragen das eine Frau, die sich über ein halbes Jahrhundert in ihm getäuscht hat.
Wie charakterisieren Sie seinen Fundamentalismus?
Katastrophal! Nur ein Beispiel: In seinem neuesten Buch vom November 2012 schreibt er Seite 46 «Alles ist historisch wahr.» In der Sprache der Kirchenväter habe Maria «durch ihr Ohr empfangen». Erst durch ihr Ja (»Mir geschehe nach deinem Willen»), durch ihren Gehorsam, werde sie Mutter. Die Gynäkologen können ihre Praxis schliessen, sie werden jetzt durch Hals-, Nasen-, Ohrenärzte ersetzt. Der Ohrsex als Durchbruch in der Sexualforschung in der neuen Vatikanstudie des Buches von Joseph Ratzinger/Benedikt, Jesus von Nazareth.
Das hat er doch bloss in übertragenem Sinn gemeint?
Keineswegs. Ratzinger ist ja dafür, dass alles wörtlich genommen werden muss – also haben wir auch alles zu glauben, was irgendwo geschrieben steht. Wie gesagt: Das Christentum ist die totale Infantilisierung. Insofern ist es nicht überraschend, dass er auf dem wortwörtlichen Bibelverständnis beharrt, damit Jahrhunderte von historisch-kritischer Bibelforschung ignoriert und uns wieder zu einem Märchen-Glauben verdonnert. Da frage ich mich: Wofür hat Gott mir Verstand gegeben?
Benedikts Nachfolger wird von jenen 118 Kardinälen bestimmt, die alle von ihm und Johannes Paul gewählt wurden. Ein Kurswechsel ist vom neuen Papst nicht zu erwarten?
Nein. Die amtierenden Kardinäle sind alle von Benedikt geklont.
Als einer der Papabili und Hoffnungsträger gilt Luis Antonio Tagle, der Erzbischof von Manila. Wird es ein Nicht-Europäer schaffen?
Ich weiss es nicht und ich habe gar keine Lust, mich in Vermutungen zu ergehen. Es ist doch alles Unsinn: Wie kann sich jemand als Stellvertreter Gottes fühlen? Das ist mir völlig unerklärlich. Je mehr man über Gott nachdenkt, desto mehr begreift man, dass man die Grösse Gottes gar nicht begreifen kann.
Sie sind einst zum Katholizismus konvertiert. Würden Sie das heute noch tun?
Nein, ganz hundertprozentig nicht!
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Uta Ranke-Heinemann wurde am 2. Oktober 1927 in Essen als älteste Tochter des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann geboren. Von 1947 bis 1953 studierte sie in Basel, Oxford, Montpellier und Bonn evangelische Theologie, nach ihrer Konversion am 25. September 1953 studierte sie katholische Theologie in München – zusammen mit Joseph Ratzinger. 1969 habilitierte sie sich als erste Frau der Welt in katholischer Theologie und wurde 1970 weltweit die erste Professorin in diesem Fach. 1987 wurde ihr die Lehrbefugnis entzogen. Sie engagierte sich in der Friedensbewegung und kandidierte 1999 als parteilose Pazifistin für das Amt der Bundespräsidentin. 1988 erschien ihr Hauptwerk «Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität», 2012 erweitert: Von Jesus bis Benedikt XVI. 2002 erschien ihr zweiter Bestseller «Nein und Amen. Mein Abschied vom traditionellen Christentum.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Das Interview erschien zuerst im der "Südostschweiz am Sonntag".
Besten Dank für dieses Interview! Offenbar gibt es noch Menschen, die mit dem Alter weiser werden. Bei jeder Zurschaustellung des Popanz der katholischen Kirche denke ich, Jesus würde sich im Grabe umdrehen. Die Figur des Papstes setzt dem lediglich die Krone auf, sie stellt in dem Sinne die Verkörperung der Pervertierung der Lehre Jesu dar. Zu hoffen bleibt, dass sich mehr und mehr Menschen wie Frau Ranke-Heinemann eingestehen, sich geirrt zu haben.