Deutschland definiert den Begriff «Antisemitismus» neu
Ist Kritik an der Politik Netanyahus wirklich schon Antisemitismus? Infosperber hat die Besatzungspolitik von Netanyahu schon mehrmals kritisiert und damit auch die Frage, ob Israel-Kritik ein Ausdruck von Antisemitismus ist, schon wiederholt thematisiert. Dies nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Verleihung des Göttinger Friedenspreises an die «Jüdische Stimme». Nun hat auch die grosse deutsche Online-Plattform «NachDenkSeiten» zum Thema «Israelkritik und Antisemitismus» Stellung bezogen: Die Antisemitismus-Falle: Wie ein Begriff manipuliert und entwertet wird. Es lohnt sich, den Artikel dazu in extenso zu lesen, dazu einfach hier anklicken. Es gibt den Artikel dort auch in Audio-Form.
Dass echter Antisemitismus tendenziell wieder zunimmt, ist offenkundig – wie leider auch andere Arten von Rassismus. Auch darüber hat Infosperber schon berichtet. Wenn allerdings jede politische Kritik an der Besatzungspolitik des israelischen Premierministers Benjamin Netanyahu schon ein Ausdruck von Antisemitismus ist, dann nimmt die Zahl antisemitischer Äusserungen gerade auch deshalb zu – und verwässert den Sinn des Wortes.
Vor einem Monat hat der deutsche Bundestag in einem Schnellverfahren die Bewegung BDS – Boycott, Divestment and Sanctions – zur antisemitischen Bewegung erklärt. Gegen diese Entscheidung haben 240 israelische Intellektuelle mit einem Brief an die deutsche Bundesregierung protestiert. Hat man in den deutschen und Schweizer Zeitungen darüber lesen können? Die Medien machen eine Kurve darum herum und meiden das Thema. Offensichtlich fürchten sie, dass selbst ein solcher Aufruf jüdischer und israelischer Wissenschaftler von der «offiziellen» deutschen Politik als antisemitisch eingestuft werden könnte.
Hier der genaue Wortlaut des Aufrufs:
AUFRUF AN DIE BUNDESREGIERUNG VON
240 JÜDISCHEN UND ISRAELISCHEN WISSENSCHAFTLERN:
SETZEN SIE «BDS» NICHT MIT ANTISEMITISMUS GLEICH
3. Juni 2019
«Mitte Mai wiesen jüdische und israelische Wissenschaftler, von denen viele in den Bereichen Antisemitismusforschung, jüdische Geschichte und Geschichte des Holocaust spezialisiert sind, auf den alarmierenden und zunehmenden Trend hin, Unterstützer palästinensischer Menschenrechte als antisemitisch abzustempeln. Dies geschah in einem an den Deutschen Bundestag gerichteten Aufruf zu mehreren Anträgen, die gegen die Bewegung für Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsmassnahmen (BDS) eingereicht wurden. Viele von uns haben diesen Aufruf unterzeichnet.
Am 17. Mai wurde einer dieser Anträge, eingereicht durch die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, angenommen. Wir lehnen diesen Beschluss, der auf dem falschen Vorwurf beruht, dass BDS als solches Antisemitismus gleichkommt, ab. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesem Beschluss nicht zu folgen und Antisemitismus zu bekämpfen, während sie die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, die unbestreitbar angegriffen werden, respektiert und schützt.
Wie in der früheren Erklärung zum Ausdruck gebracht, betrachten wir Antisemitismus und alle Formen von Rassismus und Fanatismus als Bedrohungen, die bekämpft werden müssen, und wir ermutigen die deutsche Regierung und den Bundestag, dies zu tun. Der Bundestagsbeschluss unterstützt diesen Kampf jedoch nicht. Im Gegenteil, er untergräbt ihn.
Die Meinungen zu BDS gehen unter den Unterzeichnern dieses Aufrufs erheblich auseinander: Manche mögen BDS unterstützen, während andere es aus verschiedenen Gründen ablehnen. Wir alle lehnen jedoch gleichermassen die trügerische Behauptung ab, BDS sei als solches antisemitisch, und wir bekräftigen, dass Boykotte ein legitimes und gewaltfreies Mittel des Widerstands sind. Wir, darunter führende Antisemitismusforscher, erklären, dass man nach dem Inhalt und dem Kontext seiner Worte und Taten als Antisemit betrachtet werden sollte – ob sie nun von BDS-Unterstützern stammen oder nicht.
Bedauerlicherweise ignoriert der Beschluss die ausdrückliche Ablehnung „aller Formen von Rassismus, einschliesslich Antisemitismus“ durch die BDS-Bewegung. Die BDS-Bewegung versucht, die Regierungspolitik eines Staates zu beeinflussen, der für die anhaltende Besetzung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes verantwortlich ist. Eine solche Politik kann nicht immun gegen Kritik sein. In diesem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass viele jüdische und israelische Einzelpersonen und Gruppen BDS entweder ausdrücklich unterstützen oder das Recht darauf verteidigen. Wir halten es für unangemessen und beleidigend, wenn deutsche Regierungs- und parlamentarische Institutionen sie als antisemitisch abstempeln.
Darüber hinaus entsprechen die drei Hauptziele des BDS – die Beendigung der Besatzung, die volle Gleichberechtigung der arabischen Bürger Israels und das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge – internationalem Recht, auch wenn das dritte Ziel zweifellos diskussionswürdig ist. Wir sind entsetzt darüber, dass Forderungen nach Gleichberechtigung und der Einhaltung des Völkerrechts als antisemitisch angesehen werden.
Wir kommen zu dem Schluss, dass der Anstieg des Antisemitismus eindeutig nicht die Sorge ist, die den vom Bundestag beschlossenen Antrag inspiriert hat. Im Gegenteil, dieser Antrag ist von den politischen Interessen und der Politik der am stärksten rechtsgerichteten Regierung Israels in der Geschichte des Landes angetrieben.
Seit Jahren bezeichnet die israelische Regierung unter Premierminister Benjamin Netanyahu jede Opposition gegen ihre illegale und friedensschädigende Politik als antisemitisch. Es kann niemanden überraschen, dass Netanyahu den Beschluss des Bundestages sehr begrüsst hat. Dies veranschaulicht, wie der Kampf gegen den Antisemitismus instrumentalisiert wird, um die Politik der israelischen Regierung abzuschirmen, die schwere Menschenrechtsverletzungen verursacht und die Chancen auf Frieden zerstört. Wir halten es für inakzeptabel und absolut kontraproduktiv, wenn die Unterstützung für „das Existenzrecht des jüdischen und demokratischen Staates Israel“ und der Kampf gegen Antisemitismus diese Politik tatsächlich fördert.
Zu allem Überfluss unterscheidet der angenommene Antrag nicht zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Er verurteilt kategorisch alle Boykotte israelischer Unternehmen und Waren – einschliesslich der Unternehmen und Waren aus illegalen israelischen Siedlungen. Infolgedessen würde er eine Kampagne zum Boykott von Produkten eines an Menschenrechtsverletzungen beteiligten Unternehmens in einer Siedlung als antisemitisch einstufen. Dies stellt einen bedauerlichen Rückzug von der eindeutigen und konsequenten Ablehnung durch die Bundesregierung und die EU der israelischen Siedlungspolitik dar.
Darüber hinaus ignoriert der Antrag, dass Erklärungen im Zusammenhang mit BDS durch die Meinungsfreiheit geschützt sind, wie auch von der EU bestätigt, die „fest entschlossen ist, die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu schützen, die auf dem Hoheitsgebiet der EU-Mitgliedstaaten anwendbar ist, einschliesslich in Bezug auf BDS-Aktionen, die in diesem Gebiet durchgeführt werden“. Gerade auf Grund seiner Geschichte sollte Deutschland bezüglich eines Rückzugs von diesen demokratischen Grundnormen sehr vorsichtig sein.
Abschliessend ist festzustellen, dass die Vermischung von BDS und Antisemitismus den dringenden Kampf gegen Antisemitismus nicht fördert. Die antisemitische Bedrohung geht nicht von palästinensischen Menschenrechtsaktivisten aus, sondern vor allem von der extremen Rechten und von dschihadistischen Gruppen. Die Leugnung dieser Tatsache könnte Muslime und Araber dem bedeutenden Kampf gegen Antisemitismus entfremden und behindert die Herausbildung echter Solidarität zwischen Juden, Israelis, Muslimen und Arabern im Kampf gegen Antisemitismus und andere Formen von Rassismus. Sie sendet auch eine falsche Botschaft an diejenigen, die sich der Unterdrückung des palästinensischen Volkes mit gewaltfreien Mitteln widersetzen.
Aus all diesen Gründen lehnen wir, jüdische und israelische Wissenschaftler, den Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen ab. Nach dem Bundestagsbeschluss fordern wir nun die Bundesregierung auf, diesem Antrag nicht zu folgen und BDS nicht mit Antisemitismus gleichzusetzen. Vielmehr muss die Bundesregierung ihrer positiven Verantwortung zur Förderung und zum Schutz der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit nachkommen.
Darüber hinaus rufen wir die Bundesregierung dazu auf, ihre direkte und indirekte Finanzierung israelischer und palästinensischer Nichtregierungsorganisationen aufrechtzuerhalten, die der israelischen Besatzung friedlich entgegenwirken, schwere Verstösse gegen das Völkerrecht aufdecken und die Zivilgesellschaft stärken. Diese Organisationen verteidigen die Prinzipien und Werte, die das Herzstück der liberalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und andernorts bilden. Sie brauchen mehr denn je finanzielle und politische Unterstützung.»
Ende des Aufrufs.
Der ganze Aufruf und dazu die Namen und die Funktionen und Positionen der 240 Unterzeichnenden können hier eingesehen werden.
Aus aktuellem Anlass dazu ein paar Fragen:
Das Ziel der Israel-Lobby, dass Kritik an der Politik Israels als Antisemitismus gilt und also in der öffentlichen Diskussion keinen Platz hat, ist schon fast weltweit erreicht. Dass dieses Ziel höchst problematisch ist, weil es den Begriff «Antisemitismus» relativiert und vom ursprünglichen Inhalt des Begriffs ablenkt, scheint – noch – kaum jemanden zu stören, zumindest nicht in Deutschland. Dass die deutschen NachDenkSeiten da Gegensteuer geben, ist deshalb sehr zu begrüssen. Der Antisemitismus muss bekämpft werden, nicht die Kritik an der Besatzungspolitik Israels.
Kleiner Nachtrag, a apropos BDS:
Internationale Show-Berühmtheiten, speziell Sänger und Musiker, werden oft von BDS-Seite aufgefordert, nicht in Israel aufzutreten. Nun hat auch eine oppositionelle Gruppe in Israel selber Jennifer Lopez aufgefordert, ihren Auftritt in Tel Aviv abzusagen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Es gibt keine Interessenkollisionen.
Dass Deutsche sich vorsichtig geben, kann man verstehen.
Aber es ist ganz wichtig, dass auch diese vorsichtigen Deutschen gut auf die kritischen Stimmen in Israel hören, denn die brauchen dringend unsere Unterstützung, und sei’s auch nur moralische.
Antisemitisch ist übrigens rein technisch gesehen auch, wer über die Palästinenser herzieht, denn die sind, wie meines Wissens alle Araber, ja auch Semiten!
Netanyahu zu kritisieren ist auch noch nicht das Gleiche wie Juden schlechtmachen. Netanyahu macht Politik und Politik kann man immer kritisieren, auch wenn andere nicht derselben Meinung sind.
Kritik an der israelischen Regierung wird in Deutschland systematisch unterdrückt. Das musste Abraham Melzer, Autor des Buches «Die Antisemitenmacher» schon mehrerer Male erfahren. Bei der Präsentation seines Buches während der Frankfurter Buchmesse wurde ihm auf Druck der jüdischen Lobby Lesungen in städtischen Räumen verweigert. Auch in anderen deutschen Städten passierte ähnliches, Köln und München! Abraham Melzer hat Dienst in der israelischen Armee geleistet und weiss wovon er schreibt. Trotzdem wird er von Juden in Deutschland, die noch nie in der Armee gedient haben, gemobbt. Allen voran von Frau Knobloch die alles tat um Melzer an der freien Meinungsäusserung zu hindern. Es geht um eine Einschränkung der Meinungsfreihheit! Niemand fragt, ob der Antisemitismus auch mit dem Verhalten der israelischen Regierung zu tun hat. Annektion von palästinensischen Land und damit die Vertreibung von Menschen und der Zerstörung der Existenzgrundlagen von Generationen. Israel betreibt mit Unterstützung von Trump ein übles Spiel im Nahen Osten und ist Brandbeschleuniger. Versteckt sucht der Atomwaffenstaat Israel geradezu den Konflikt, in Palästina, mit dem Iran!
Das Lager des US-Alt-Right-Movements aus Libertären, Neocons u. Ultrachristen, die bisher nicht als Freunde der Juden auffielen, brauchen/missbrauchen gerade auch Israel, um die Ölregion am persischen Golf zu beherrschen.
Weit her mit dem US-Fracking scheint es nicht zu sein, wenn man auch noch die Ölreserven im Irak, Venezuela u. Brasilen zu brauchen scheint, zumindest dass der Ölpreis am Weltmarkt nicht unter die Gesamtkosten von fossilen Produkten aus US-Fracking sinkt.
Wehe den Israeli, wenn die vom US-Imperium nicht mehr gebraucht werden.
Weder die Bundesregierung noch der Bundestag sind dazu befugt – geschweige denn qualifiziert – den falsch verwendeten Begriff „Antisemitismus“ zu definieren!
Der Begriff „Antisemitismus“ also solcher ist abzulehnen, da die Beschränkung von „semitisch“ nur auf Juden falsch ist. „Semitisch“ läßt sich nur über die Sprache definieren, es gibt keine semitische Rasse oder Volkszugehörigkeit. Jeder, der eine der semitischen Sprachen, von denen das Arabische die ursprünglichste ist, spricht, ist ein Semit, nicht nur Juden. Vielmehr sind Juden, die keine semitische Sprache sprechen, demnach keine Semiten. Daher stößt es bei den Arabern auf Unverständnis, wenn man ihnen „Antisemitismus“ vorwirft.
Demnach dürfte man nur Juden, die Hebräisch oder eine andere semitische Sprache gebrauchen, als „Semiten“ bezeichnen, nicht jedoch Juden, die keine der semitischen Sprachen sprechen.
Man sollte es das nennen, was es ist, nämlich „Abneigung gegen Juden“, „Judenfeindlichkeit“ oder „Antijudaismus“!
Es versteht sich wohl von selbst, daß man die Politik Israels – wie die eines jeden anderen Staates auch – kritisieren dürfen muß, solange man keinen expliziten Bezug auf das Judentum als solches nimmt.
Das alles zeigt nur, wie fest sich dieses Gebilde BRD im Würgegriff der Zionisten und ihrer Handlanger befindet!
ich habe eben den begriff „ökofaschismus“ in einer zeitung gelesen. durch die verwendung in ganz anderen zusammenhängen werden solche worte in ihrer bedeutung verwässert.
Wer Israelkritik als Antisemitismus bezeichnet, verhöhnt die jüdischen Opfer des antisemitischen Nazifaschismus. Es ist unerträglich.