Stephanie und Ruedi Baumann

Stephanie (72 Jahre) und Ruedi Baumann (76 J.) wanderten vor über 20 Jahren nach Frankreich aus und kauften dort ein grosses Landgut. © Balzli & Fahrer GmbH

«Wir Erben» – bejubelte Weltpremiere in Locarno 

Daniela Giuliani und Alfred Schlienger /  Der Dokfilmer Simon Baumann fokussiert ein gesellschaftlich hochrelevantes Thema –radikal persönlich, mit viel Witz und Verstand.

Wann zuletzt hat man bei einem Schweizer Dokumentarfilm so viel gelacht? Und zwar dieses so herzhafte wie zarte Erkenntnislachen, bei dem man sich oft auch selbst ertappt fühlt? Dabei handelt der Film von einem durchaus ernsten Thema, das viele Familien in Streit und tiefe Zerrissenheit treibt: Das Erben.

In der reichen Schweiz dürften 90 Prozent der Bevölkerung irgendeinmal in ihrem Leben etwas erben, das hat der Lausanner Wirtschaftsprofessor Marius Brülhart errechnet. Die meisten eher wenig, ganz wenige sehr viel. Jeder zweite Vermögensfranken in der Schweiz ist geerbt. Die Summe aller Erbschaften und Schenkungen hat sich in den letzten 15 Jahren fast verdoppelt und wird sich 2024 auf 97 Milliarden belaufen. Das ist mehr als das Doppelte der AHV-Renten, die in diesem Jahr ausbezahlt werden.

Wer hat, dem wird gegeben

Brülharts noch unveröffentlichte Studie zeigt aber auch: Die 1 Prozent der grössten Erbschaften machen 30 Prozent der gesamten Erbsumme aus. Bei den Top 10 sind es schon 63 Prozent, den restlichen 90 Prozent bleibt also nur etwas mehr als ein Drittel. Kurz: Erbschaften sind in der Schweiz der wohl grösste Treiber für die zunehmende ökonomische Ungleichheit in unserem Land.

Der Dokumentarfilm von Simon Baumann hält sich gar nicht mit solchen Zahlen auf. Er setzt ein gewisses Problembewusstsein im Umgang mit Erbfragen ganz selbstverständlich voraus und schafft so Platz für einen ganz und gar persönlichen Fokus: Die eigene Familie und ihren Umgang mit einem anfallenden Erbe. Seine Motivation zu diesem Film fasst der Regisseur so zusammen: «Meine Eltern wollen uns ihr Lebenswerk vererben. Wir müssen reden. Über Erwartungen und Ideale. Über Privilegien und Bürden. Aber auch über Geld.» Das schafft den Rahmen für eine sehr intime, hochtransparente und gesellschaftlich relevante Auslegeordnung.

Die Eltern von Simon Baumann haben – es schadet nichts, dies in Erinnerung zu rufen – eine gewisse Politprominenz. Sie waren das erste Ehepaar im Nationalrat: Ruedi Baumann bei den Grünen (1991 – 2003), Stephanie Baumann bei der SP (1994 – 2003). Von 1997 bis 2001 war Ruedi Baumann zudem Parteipräsident der Schweizer Grünen. Seit 2019 sitzt nun auch Simons jüngerer Bruder Kilian als Grüner im Nationalrat und ist Präsident der Kleinbauern-Vereinigung. Da kommen also viel bäuerlicher Sachverstand und jahrzehntelanger Einsatz für eine ökologischere Landwirtschaft, für einen nachhaltigen Umgang mit unseren Ressourcen zusammen.

Vor über zwanzig Jahren sind Ruedi und Stephanie Baumann, heute 76- und 72-jährig, nach Frankreich ausgewandert und haben im Südwesten nahe an den Pyrenäen ein grosses Landgut erworben, das sie bis heute bewirtschaften. Aber das Alter ist auch an den beiden Charakterköpfen nicht spurlos vorübergegangen und es stellt sich die Frage: Wie weiter? 

Stephanie Baumann
Die Mutter des Dokumentarfilmers vor ihrer Nähmaschine.

Die grosse Leichtigkeit im Ernst

Was den Dokumentarfilm «Wir Erben» so herausragend macht, ist diese stupende Mischung aus Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit. Es geht um ganze Lebensgeschichten, um tiefe Überzeugungen, um gesellschaftliche Verantwortung, und doch hat der Film in keiner Sekunde etwas Missionarisches. Er beobachtet einfach ganz genau, was diese Erbfrage bei den verschiedenen Beteiligten auslöst. Das hat eine Offenheit und Ehrlichkeit, die tief berührt. Familiendynamiken werden sichtbar, in einem Wegschauen, in einem Zögern, in einem Ins-Wort-Fallen. Und wir sind mittendrin im spannenden Diskurs. Schlicht zauberhaft und erhellend.

Bereits das Intro zum Film haut einen um: Jeder Satz eine Pointe. Lakonisch, zielsicher, nie gesucht. Bild- und Sprachwitz laufen zur Höchstform auf. Das Publikum lacht wie aus einer Kehle. 

Ruedi Baumann
Ruedi Baumann sass mehr als zehn Jahre für die Grünen im Nationalrat.

Man darf hier einen kleinen Exkurs zur Theorie und Praxis des dokumentarischen Filmens einfügen. Vereinfacht gesagt gibt es seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts zwei Bewegungen, die sich einig sind bei der Suche nach der dokumentarischen Wahrheit, aber unterschiedliche Wege gehen bei der Umsetzung. Das amerikanische direct cinema verfolgt das Ideal, dass die Kamera und der Filmer völlig unsichtbar bleiben und nur beobachten, quasi wie eine «Fliege an der Wand». Das französische cinéma vérité hingegen macht Kamera und Regisseur durchaus sichtbar und baut dadurch auch einen Aspekt der Selbstreflexivität des Mediums ein. 

Das Gegenteil von eitel

In diesem Sinne kann man Simon Baumann als durchaus radikalen Vertreter eines cinéma vérité verstehen. Er erzählt die Geschichte seiner eigenen Familie und von sich selbst, spricht den Off-Kommentar, stellt die Fragen, hakt nach. Solche Konzepte können manchmal auch etwas Eitles und allzu Selbstreferentielles haben (wie etwa beim Theatermann und Dokfilmer Milo Rau, der sich in seinen Filmen oft völlig unnötig und unmotiviert ins Bild drängt). Bei Simon Baumann ist es das genaue Gegenteil: Er stellt sich und seine Familie zur Verfügung als Anregung für einen wichtigen gesellschaftlichen Diskurs. Getragen von Klugheit, Witz und Selbstironie. 

Gleichzeitig darf man durchaus bewundernd feststellen, dass Simon Baumann etwas von einem richtigen Maniak des Autorenfilms hat. Er ist der Regisseur und als Sohn Mitprotagonist des Films, er schreibt gemeinsam mit seiner Partnerin Kathrin Gschwend das Drehbuch, führt die Kamera, zeichnet verantwortlich für den Soundmix und vieles mehr.

Das war schon bei seinem letzten Film, «Zum Beispiel Suberg» (2013), so. Er wurde zu einem wirklich exemplarischen Soziogramm eines Integrationsversuchs in eine Dorfgemeinschaft, die einem fremdblieb, obwohl man ihr entstammt. Das sind genau die Ambivalenzen, die auch den neuen Film «Wir Erben» auszeichnen und beleben. Neun Jahre haben Simon Baumann und sein Team an diesem Projekt gearbeitet. Er widmet es seiner älteren Tochter, mit der seine Partnerin schwanger war, als sie sich erste Ideen für den Film notierten.

In Locarno gab es jetzt bei der Weltpremiere im Rahmen der «Semaine de la critique» herzliche Ovationen des zahlreichen Publikums. Diesen Winter kommt der Film in die Schweizer Kinos. «Wir Erben» wird, das kann man jetzt schon sagen, ein sehr ernsthafter Bewerber um den Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm sein.

Werkstatt
Die Werkstatt auf dem Landgut der Baumanns nahe den Pyrenäen.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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