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Streikende des Nudelwerks Riesa vor dem Hauptsitz von Alb Gold in Trochtelfingen. © NGG Ost

Deutschland: Die Niedriglöhne nebenan

Daniela Gschweng /  Ost-Angestellte verdienen viel weniger als ihre westdeutschen Kolleginnen. Ein Unding, musste auch ein schwäbisches KMU einsehen.

Wenn das Wort «Lieferkette» fällt, geht es oft um Missstände in weit entfernten Niedriglohnländern, um Kinderarbeit in Ghana oder Abholzung im Amazonas. Manchmal ist die Lieferkette aber gar nicht so lang. Gelegentlich steht sie unversehens vor der Tür. Wie am 20. Oktober im schwäbischen Trochtelfingen.

Da stand eine Gruppe Demonstranten vor dem Hauptsitz des Nudelherstellers Alb Gold auf der schwäbischen Alb. Etwa 20 Angestellte des Tochterunternehmens Riesa Teigwaren hatten in neunstündiger Busfahrt aus Sachsen «rübergemacht», um ihrer Forderung nach höheren Löhnen Nachdruck zu verleihen. Die Belegschaft des Tochterunternehmens in Riesa streikte da schon seit zwei Wochen.

Bis dahin bekamen zwei Fünftel der Riesa-Angestellten kaum mehr als den Mindestlohn von 12 Euro. Zwei Euro mehr Stundenlohn bis Ende 2023 forderte die Delegation. Am Ende war ihr Streik erfolgreich, das sollte aber noch einige Wochen dauern.

Die beliebte «Nudelbude» im Osten und der schwäbische Fabrikant

Was bei Riesa passiert, ist typisch für viele Ost-Unternehmen. Gegründet 1914, stellt Riesa im ganzen Osten bekannte Nudeln her. Ende der 1980er-Jahre war der Teigwarenhersteller Marktführer in der DDR. Dann kam die Wende. Am 1. September 1993 wurde das Unternehmen dichtgemacht und am 1. Januar 1994 als Teil der Alb-Gold Teigwaren GmbH in Trochtelfingen wiedereröffnet. Bezahlt hatte der schwäbische Nudelhersteller für die sächsische Nudelfabrik vermutlich sehr wenig.

Die sächsischen Angestellten fabrizieren also seit 1994 Nudeln für das Familienunternehmen Alb Gold. Die Marke Riesa bleib bestehen, die Übernahme tat ihrer Beliebtheit wenig Abbruch. Obwohl oder gerade deshalb, weil die Spaghetti, Makkaroni und Spirelli von Riesa schon vor der Wende da gewesen waren. Im Westen sind Riesa-Nudeln als «Ost-Marke» erfolgreich.

Alb Gold machte 2020 einen Umsatz von 95 Millionen Euro und 2,2 Millionen Euro Gewinn. Im Osten kam davon wenig an. Viele der 150 Mitarbeiter von Riesa Teigwaren erhielten kaum mehr als den Mindestlohn. Teilweise bekämen sie auch keine Nacht- und Wochenendzuschläge. Auch dann, wenn sie schon viele Jahre im Unternehmen arbeiteten, erklärte Frank Meyer, der Vorsitzende des 2018 gegründeten Betriebsrats, vor zwei Jahren gegenüber Klar, der Zeitung der Linksfraktion im Bundestag.

Das Niedriglohnland nebenan

Rund 600 Kilometer entfernt in Trochtelfingen ist das Aus- und Einkommen besser. Die etwa 180 Angestellten am Firmenhauptsitz verdienten bis zu einem Drittel mehr als die Riesa-Angestellten in Sachsen, sagt Meyer. Wie viel genau, ist schwer zu sagen, in Trochtelfingen gibt es keinen Tarifvertrag und keinen Betriebsrat.

Ein Unterschied, der sich mehr als 30 Jahre nach der Wende auch mit höheren Lebenshaltungskosten nicht mehr rechtfertigen lässt. 2019 und 2021 streikten die Riesa-Mitarbeiter, um ihre Niedriglöhne dem westdeutschen Niveau anzugleichen. Mit überschaubarem Erfolg – als der deutsche Mindestlohn am 1. Oktober 2022 auf 12 Euro angehoben wurde, lagen viele Löhne mit 12,51 Euro pro Stunde nur knapp darüber. Die Inflation kam dazu.

Vorzeigeunternehmen Alb Gold

Alb-Gold gilt im Ländle als innovativ, trendy, engagiert und umweltfreundlich. Der Nudelfabrikant bietet seit 2018 eine nur in Papier verpackte Nudelserie an und führt unter anderem Nudeln mit Insektenprotein. Das Unternehmen verwendet vorzugsweise regionale Rohstoffe und bezahlt Prämien an Mitarbeiter, die mit dem Velo zu Arbeit kommen.

Das von der Eigentümerfamilie Irmgard Freidler und den Söhnen Oliver und André geführte Unternehmen betreibt zwei Solaranlagen, die Strom ins Netz einspeichern, und sponsert Sportveranstaltungen. Alb Gold unterstützt Kulturvereine und Naturschutzverbände und wurde mehrfach ausgezeichnet. Das klingt eher nicht nach einem gierigen Unternehmerclan.

Das Ende der Dankbarkeit

In Riesa hat man dazu naturgemäss eine andere Perspektive. Die Löhne müssten endlich deutlich steigen, um zwei Euro pro Stunde mindestens. Einen Euro davon sofort, den zweiten im Laufe des Jahres 2023, forderte der Riesa-Betriebsrat. Alb-Gold würde die Lohnerhöhung rund 60.000 Euro im Monat kosten, rechnete die Gewerkschaft vor.

Alb Gold bot eine Lohnerhöhung um 10 Prozent, aufgeteilt in eine Einmalzahlung und zwei Lohnerhöhungen im Abstand von sechs Monaten, zusammen 1,20 Euro mehr pro Stunde. Der Betriebsrat in Riesa lehnte ab. Im Oktober legte die Belegschaft in Riesa die Arbeit nieder.

Die Lohnlücke ist ein Unding, das musste auch der schwäbische Kleinunternehmer einsehen

Fünf Verhandlungsrunden brachten keinen Erfolg. Alb Gold dachte publikumswirksam darüber nach, die Produktion nach Bayern auszulagern. Kostenpunkt der Arbeitsniederlegung für den schwäbischen Nudelfabrikanten: 500’000 bis 750’000 Euro pro Woche, schreibt «Labournet» unter Bezug auf die Alb-Gold-Geschäftsleitung.

«Erstens sollte sich Politik aus Tarifverhandlungen heraushalten, zweitens sollten wir uns daran erinnern, was wir dem 9. November 1989 zu verdanken haben und wer uns, drittens, beim Aufbau in Ostdeutschland unterstützt hat», zitiert der «Reutlinger Generalanzeiger» Alb Gold-Geschäftsführer Mike Henning.

Den Mitarbeitenden von Riesa war wohl nicht nach Dankbarkeit. Ende November kam es mit Hilfe einer Moderation von Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und dem ehemaligen Arbeitsrichter Gerhard Binkert zur Einigung. Die Gewerkschaft NGG (Nahrung-Genuss-Gaststätten) hatte sich nach sieben Wochen Streik durchgesetzt.

Hoffnung auf ein Ende der «Lohnmauer»

Seit dem 1. Dezember bekommen die Riesa-Angestellten einen Euro mehr Stundenlohn, zum 1. Juli und 1. Dezember 2023 steigen die Löhne nochmals um 50 Cent. Dazu komme bis Ende 2023 eine monatliche Prämie, berichtet der MDR. Von Gleichstellung ist das noch ein Stück entfernt.

Viele Medien, nicht nur die linken, sehen den Tarifabschluss als Anfang einer Lohnangleichung zwischen Ost und West. Sachsen habe als Mindestlohnland ausgedient, sagt DGB-Chef Markus Schlimbach. Der Weg sei aber noch weit: Von der Erhöhung der Mindestlöhne seien vier von zehn Beschäftigten in Sachsen betroffen gewesen. Tatsächlich verdienen Ost-Angestellte bis zu einem Viertel weniger als ihre West-Pendants.

In der Region Riesa wächst die Hoffnung. Auch andere Lieferketten nehmen in Riesa und Umgebung ihren Anfang: Dort fertigen unter anderen der Lebensmittelgigant Cargill, der Unilever-Konzern und das Tiefkühlunternehmen Frosta.

In Sachsen wurde 2021 dabei noch am besten bezahlt – nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts liegt das Bundesland im Osten beim Lohneinkommen an erster Stelle. Schlusslicht ist Mecklenburg-Vorpommern mit durchschnittlich 41’715 Euro Jahresgehalt. In Sachsen seien es fast 500 Euro mehr, berichtete die deutsche «Tagesschau». Der niedrigste durchschnittliche Jahreslohn im Westen lag dabei bei 49’005 Euro (Schleswig-Holstein), der höchste bei 62’506 Euro (Hamburg). Von 2020 auf 2021 hat sich die Lohnmauer um insgesamt 206 Euro pro Jahr erhöht.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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6 Meinungen

  • am 29.12.2022 um 15:11 Uhr
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    Wie wäre es eigentlich wenn der Lohn, oder das Einkommen mindestens so hoch sein muss, dass man damit eine Rente erwirtschaften kann die von Sozialleistungen unabhängig macht?
    Das wäre das was ich unter Mindestlohn verstehen würde.
    Bei den Gewinnen die eingefahren werden beim Lohn derart unsozial zu sein ist der Trend, seit langem. Der Mensch scheint nicht mehr viel Wert zu sein. Aber zum Glück ist das nicht überall so…

  • am 29.12.2022 um 15:25 Uhr
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    «Lohnmauer» – ein interessantes Wort!

    Bei der Wiedervereinigung Deutschlands geschahen unrümliche Begebenheiten, die gefeierte Überlegenheit des kapitalistischen Systems wurde weit über der realen Überlegenheit gefeiert.
    Alles aus der DDR «musste» schlecht sein, und wurde gebodigt.
    Medizinische Erfolge wurden von BigPharma gekapert und begraben, dabei wäre ein Zusammenführen der unterschiedlichen Erfolge zum Wohle aller Menschen redlich gewesen.
    Die «Treuhand» hatte mit «treu» nichts zu tun, ein guter Name für unzählige Raubzüge am Eigentum der eigentlich Berechtigten.
    Josef Stalin soll kurz nach dem Krieg mit einer Wiedervereinigung Deutschlands einverstanden gewesen sein unter der Bedingung, dass Deutschland ein neutrales Land würde (bin kein Stalin-Fan).
    Leider wurde das wiedervereinte Deutschland auch 1998 nicht neutral, ganz zum Schaden von Deutschland selbst und von ganz Europa!
    Mindestlohn? – die Ukraine senkte ihn auf 1.40 EUR/h… alles für den makaberen Aufschwung.

  • am 29.12.2022 um 18:02 Uhr
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    Riesa – hier werden auch die berühmten Zündhölzer mit der markanten Schachtel hergestellt. Es stimmt mich froh, dass hier Arbeiter hart blieben und bessere Löhne verhandeln konnten. Hoffentlich kommt die Firma nicht auf den dummen Gedanken, abzuwandern. Der Osten bleibt ein ewiges Sorgenkind, dabei ist es schon 32 Jahre her. Ein drittel Menschenleben, wenn man so will.

  • am 29.12.2022 um 21:26 Uhr
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    Kapitalismus pur – die Deutschen haben nach dem Krieg viel gelernt, von den USA und lassen sich von genau dieser USA heute wieder «demontieren» !!! Tschüss Deutschland. Schade um die vielen kulturellen Werte.

  • am 30.12.2022 um 07:51 Uhr
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    Die Wirtschaft Westeuropas – insbesondere jene in Deutschland – weiss um die Bedeutung der Ex-DDR als Niedriglohnland. Diese Bedeutung wird weiter schrumpfen, bis hin zu einer faktischen Angleichung. Kein Wunder also, wenn alles unternommen wird, um der Wirtschaft im Westen auch künftighin niedrige Löhne zu sichern. Man bräuchte sich nur in Rumänien umzuschauen, oder in Bulgarien, Moldawien oder – welch ein Zufall! – in der Ukraine. Die EU-Politiker, nichts als die 5. Kolonne der Gross-Industrie, versuchen mit allen Mitteln, Südosteuropa mit so genannten Assoziationsabkommen dermassen zu knebeln, dass einerseits künftige Absatzmärkte für Industriegüter gesichert werden und gleichzeitig hundsmiserable Mindestlöhne, um die Lieferketten zu «europäisieren». Warum wohl wurde der Maidan-Putsch in Kiew just nach der Ablehnung des Assoziationsabkommens inszeniert? Das Gelaber von der Verteidigung gemeinsamer Werte in der Ukraine bekommt langsam jedenfalls einen bitteren Beigeschmack.

  • am 30.12.2022 um 20:13 Uhr
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    «……und schon in wenigen Jahren werden wir wieder blühende Landschaften sehen» – Zitat Helmut Kohl. Genau der sagte auch, dass das Volk für «ca. 2 bis 3 Jahre» die sogenannte «Aufbau Ost Abgabe» zahlen muss. Diese Abgabe beträgt heute nach 32 Jahren immer noch 1% von sämtlichen Löhnen und wird immer noch abgezogen. Alles Lüge, was Herr Kohl «versprochen» hat. Jeder der «freiwillig» in einer Krankenversicherung ist, muss ca. 16% vom Lohn abgeben, egal ob er 1000 EUR verdient oder 10 000 EUR. im Monat.
    Auch ein Zitat «Gewerkschaften und Versicherungen sind staatlich anerkannte Verbrecher». In Deutschland haben Gewerkschaften nicht ihren Sitz in Arbeiterquartieren, sondern u.a. im Bankenviertel in Frankfurt. Die Ungleichheit in Deutschland wird noch lange bleiben und Menschen wie die von der Nudelfabrik können stolz sein auf ihren Erfolg. Nur wer selbst kämpft kann Erfolg haben, die Gewerkschaften braucht keiner mehr.

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