Die IV kämpft vor Gericht gegen die Realität
Die Kritik an der Invaliditätsversicherung ebbt nicht ab. Nach dem Skandal um parteiische IV-Gutachter werfen Fachleute der IV vor, falsch zu rechnen. Die Berechnung der Renten sei diskriminierend und unfair. Sie konnten zeigen, dass sich die IV bei der Bemessung der Renten auf eine ungeeignete Datengrundlage abstützt: Sie benützt Tabellen, welche die Löhne von Gesunden abbilden. Wer krank ist, verdient aber nachweislich weniger. So lautet das Fazit einer Untersuchung. Die Folge: Viele IV-Teilrenten sind zu tief. Ausserdem führt die fehlerhafte Berechnung zu zahlreichen Ablehnungen.
Nun zeigt sich, dass die IV den Bezug zur Realität verloren hat – und dies amtlich und offiziell. Vor dem höchsten Schweizer Gericht kämpft sie derzeit nämlich für eine Fiktion. Das Bundesgericht wird am 9. März entscheiden, ob die umstrittene Berechnung der IV-Renten rechtens ist. Ein arbeitsunfähiger Anlageführer kämpft dort um die Höhe seiner IV-Rente (siehe Kasten). Die Stellungnahme des für die IV zuständigen Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) liegt Infosperber vor. Es verteidigt sich gegen die Beschwerde, indem es zusammenfassend argumentiert, dass die konkrete Situation auf dem Arbeitsmarkt für die Berechnung der IV-Renten keine Rolle spiele. «So ist es für die IV nicht massgeblich (…), ob die versicherte Person tatsächlich einen Arbeitgeber findet oder nicht», heisst es in dem Schreiben. Eine Sozialversicherung, die sich gar nicht erst für die Jobchancen seiner Versicherten interessiert? Das klingt zunächst absurd.
Fiktive Jobs: Museumswärter, Parkplatzwächter
Allerdings ist das höchste Gericht selbst mitverantwortlich dafür, dass die IV sich der Realität verweigert. Das BSV verweist nämlich auf das Gesetz: In Artikel 16 des Allgemeinen Teils über das Sozialversicherungsgesetz (ATSG) stehe, dass der Invaliditätsgrad (Höhe der IV-Rente) bei «ausgeglichener Arbeitsmarktlage» zu bestimmen sei. Was darunter zu verstehen ist, definierte die Politik nicht weiter. Dies ist Aufgabe der Gerichte. Das Bundesgericht legte die Stelle derart aus, dass darunter eine Fiktion verstanden werden kann; dass es also keine Rolle spiele, ob es auf dem Arbeitsmarkt überhaupt realistische Chancen auf einen Job gibt für die gesundheitlich eingeschränkten Versicherten. Die von der Politik zum Sparen verdonnerte IV nahm die Urteile dankend auf: In zahlreichen abgelehnten Gesuchen findet sich die Argumentation, dass die Versicherten «in angepasster, belastungsarmer Tätigkeit» weiterarbeiten könnten. So konnte die IV beispielsweise verunfallte Bauarbeiter auf Jobs wie Museumswärter oder Parkplatzwächter verweisen – Stellen, die es in der Realität praktisch gar nicht mehr gibt.
Bundesgerichtsentscheid auch für Unfallversicherung relevant
Ein 57-jähriger ehemaliger Anlageführer, der wegen verschiedener gesundheitlicher Probleme seit 20 Jahren nicht mehr voll arbeitsfähig ist, klagt vor Bundesgericht gegen die IV-Stelle Luzern. Zuletzt hatte das Kantonsgericht dem Mann gegen den Willen der IV eine Rente zugesprochen. Dieser fordert vor dem Bundesgericht eine höhere Rente. Streitpunkt ist die besagte Berechnungsmethode der IV. Das Kantonsgericht Luzern hatte mit den üblichen Tabellen der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) einen Invaliditätsgrad von 47 Prozent errechnet. Dies berechtigt den Mann zu einer Viertelrente. Christian Haag, Anwalt des Klägers, hält diese Tabellen für diskriminierend, weil sie die Löhne von gesunden Menschen widerspiegeln. Er fordert, dass die IV das unterste Quartil der Einkommensstatistik als Vergleichslohn heranzieht. So kommt er auf einen IV-Grad von 53 Prozent, was den Mann zu einer halben statt zu einer Viertel-Rente berechtigen würde.
Die Folgen des Falls könnten weitreichend sein. Kommt das höchste Gericht nämlich zum Schluss, dass die Praxis widerrechtlich ist, müsste der für die IV zuständige Bundesrat Alain Berset wohl handeln. «Ändert das Bundesgericht seine Praxis, so wird dies für versicherte Personen einen Meilenstein darstellen und endlich einen fairen, diskriminierungsfreien Zugang zu Sozialversicherungsleistungen bewirken», ist Anwalt Haag überzeugt. Er rechnet damit, dass der Entscheid Auswirkungen haben wird auf «viele Tausend Fälle jährlich aus dem Bereich Unfallversicherung, Invalidenversicherung und Pensionskasse.» Alleine für die IV dürften Mehrkosten von 300 bis 400 Millionen Franken anfallen, wie das BSV vorgerechnet hat. Bei der Unfallversicherung dürfte es noch mehr sein. Dies hängt auch davon ab, wie die Renten neu berechnet würden. Neben dem von Anwalt Haag eingebrachten pragmatischen Vorschlag steht seit kurzem auch ein komplett neuer Ansatz im Raum: Wissenschaftler haben eine alternative Berechnungsmethode vorgestellt, welche Renten in Zukunft fair und präzise berechnen könnte.
Wie die Chancen stehen, dass das Bundesgericht dem Bundesrat Beine macht, ist schwer abzuschätzen. Alleine die Tatsache, dass die Verhandlung öffentlich stattfindet, bedeutet, dass sich die Bundesrichter uneinig sind. Auch hatte das Bundesgericht die ursprünglich für November geplante Verhandlung verschoben.
Die Interpretation des Gesetzesartikels durch das Bundesgericht ist unter Juristen umstritten: Ursprünglich schuf die Politik die Passage zum ausgeglichenen Arbeitsmarkt, um die IV gegenüber der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen. Ein Bericht der Nationalratskommission von 1999 legt nahe, dass mit der Passage «normale Arbeitsmarktverhältnisse» gemeint waren. Wer aufgrund einer Konjunkturschwankung seine Stelle verliert, so die Idee, ist nicht gleich bei der IV anspruchsberechtigt. Kritiker monieren, dass die Rechtsprechung zwar nicht auf konjunkturelle, aber sehr wohl auf strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarkts reagieren sollte. Der vorliegende Fall wäre eine Möglichkeit für das Bundesgericht, auch in dieser Frage seine Haltung zu ändern und der Realität auf dem für viele Angestellte härter gewordenen Arbeitsmarkt Rechnung zu tragen.
Rechtsprofessoren protestierten beim Bundesrat
Vertreter von Betroffenen hoffen nun aber vor allem, dass das Bundesgericht dafür sorgt, dass die IV richtig rechnet. Sie halten die jetzige Methode für unfair und diskriminierend, wie sie in einer gemeinsamen Erklärung schrieben: «Es ist schwer vorstellbar, dass diese Vorgehensweise mit der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sein soll.» Doch längst nicht nur Betroffenenvertreter erachten die Berechnungsmethode der IV für unhaltbar. In der Vernehmlassung war diese von allen politischen Seiten unter Beschuss geraten. Als der Bundesrat dennoch daran festhielt, verlangten Politiker Antworten. Die Protestwelle ging auch weiter, nachdem die neue Verordnung per 1. Januar 2022 in Kraft getreten war: Nur fünf Tage später bekam die Landesregierung Post von 16 Rechtswissenschaftlern. Die Unterzeichner – ein Who is Who der Schweizer Sozialversicherungsrechtswissenschaft – forderten den Bundesrat dazu auf, alternative Berechnungsmethoden sofort zu prüfen und nicht erst in drei Jahren wie angekündigt. «Der Änderungsbedarf erscheint uns derart deutlich belegt und ausgewiesen, dass aus unserer Sicht nicht mehr weiter zugewartet werden sollte.»
Doch nach Lobbyisten, Politikern und Anwälten blitzten auch die Professoren beim Bundesrat ab. Möglicherweise bringt nun ein arbeitsunfähiger Anlageführer die Landesregierung zum Handeln.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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