Der Kanton Bern tut sich schwer mit Leichter Sprache
«Alle sollen verstehen, was der Kanton Bern macht. Deshalb sind diese Texte in Leichter Sprache.» Das steht auf einer neuen Website des Kantons Bern. Dort ist ein kleiner Teil der Informationen, die auch auf der normalen Website zu finden sind, in Leichte Sprache übersetzt. Der Kanton erfüllt damit einen Auftrag aus dem Parlament. Die Texte sind für Leute mit Leseschwäche gedacht.
Leichte Sprache bedeutet: Die Texte sind sowohl sprachlich als auch inhaltlich stark vereinfacht. Zudem sind sie anders dargestellt – in grösserer Schrift, mit mehr Absätzen und mit vielen Bindestrichen. Das sieht dann so aus:
Und so zu Post-Covid:
«Alkohol, Angst haben, Ausweis gestohlen»
Bis jetzt ist erst ein kleiner Teil der normalen Website des Kantons Bern in Leichte Sprache übersetzt. Was auffällt: Themen zu Sucht, sozialen Problemen und Kriminalität sind sehr stark vertreten.
Zur Illustration die Stichwörter, die mit A beginnen. «Alkohol, Ambulante Massnahmen, Angst haben, Anzeige machen bei der Polizei, Arbeits-los, Ausweise, Ausweis gestohlen.» Manch anderes, das ebenfalls wichtig wäre, fehlt. Zum Beispiel eine Anleitung zum Ausfüllen der Steuererklärung.
215 Seiten
Dazu muss man wissen: Die «Wegleitung Natürliche Personen» im Kanton Bern umfasst 215 Seiten – ohne die zusätzlichen Merkblätter. In der «Wegleitung» ist die Rede von einer «unterjährigen Steuererklärung», von «qualifizierenden Beteiligungen», von einem «DA-1-Antrag», von einer «Rückerstattung Steuerrückbehalt» oder von einem «R-US-164-Antrag».
Das verstehen auch Leute ohne Leseschwäche nicht. Der Kanton Bern täte gut daran, auch solche Dokumente zu vereinfachen – für Leute mit und für Leute ohne Leseschwäche. Die Verantwortlichen in der Steuerverwaltung könnten schon mal damit anfangen, sich Gedanken darüber zu machen, ob es wirklich «Wegleitung Natürliche Personen» heissen soll. Oder ob «Informationen für Privatpersonen» nicht besser verständlich wäre.
Völlig unverständlich
Aber auch sonst gibt sich der Kanton wenig Mühe, die Bürger und Bürgerinnen verständlich zu informieren. Hier ein kleines Beispiel aus dem Bereich der Sozialhilfe. Der Satz (es ist nur einer, aber ein ziemlich langer) ist völlig unverständlich. Infosperber möchte ihn den Leserinnen und Lesern trotzdem nicht vorenthalten:
«Gemäss BSIG Nr. 8/860.1/6.1 vom 25. August 2023 über die Abrechnung der lastenausgleichsberechtigten Aufwendungen und Erträge gemäss dem Sozialhilfegesetz sind die nachstehenden Formulare des Jahres 2023 gemäss Art. 44 Sozialhilfeverordnung der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern, Amt für Integration und Soziales bis spätestens 31. März 2024 einzureichen.»
Formular nur in «schwerer Sprache»
Doch zurück zur Website in Leichter Sprache. Dort ist – wie erwähnt – keine Anleitung zum Ausfüllen der Steuererklärung zu finden. Aber immerhin hat es einen Hinweis samt Link auf ein Kontaktformular, das Personen ausfüllen können, die nicht mehr weiter wissen. Aber – und hier zeigen sich schon die ganzen Unzulänglichkeiten – das Kontaktformular gibt es nicht in Leichter Sprache:
Und die «schwere Sprache» ist wirklich schwer verständlich. Auf dem Weg zum Kontaktformular ist erst mal von «Veranlagungsverfügungen», vom «BE-Login», von «TaxInfo», «Ansässigkeitsbescheinigungen», «Fall-Nummern» und «ID-Codes» die Rede. Nur wer sich da durchkämpft, dringt schliesslich zum Kontaktformular vor. Aber eben: Dieses gibt es lediglich in «schwerer Sprache».
Nur eine Meldung
Auch sonst ist die Website in Leichter Sprache eine halbbatzige Sache. Unter «News» findet sich seit Mitte April genau eine Meldung. Ansonsten: Funkstille. In normaler Sprache sind es seit Mitte April über 40 Meldungen. Der Kanton Bern macht nicht den Eindruck, als ob es ihm ernst damit wäre, Leute mit Leseschwäche wirklich einzubinden.
Der Kanton Bern schreibt auf Anfrage von Infosperber dazu: «Es ist weder möglich noch sinnvoll, alle Inhalte in Leichter Sprache bzw. Français facile bereitzustellen.» Der Kanton prüfe ständig, welche Informationen für Leute mit Leseschwäche besonders sinnvoll seien. Dass seien etwa Themen wie Erwachsenenschutz, Gewaltprävention und Gesundheitsthemen.
Eine Anleitung zum Ausfüllen der Steuererklärung in Leichter Sprache sei «im Moment nicht vorgesehen». Ebenso wenig Wahlunterlagen und Abstimmungserläuterungen. Dazu schreibt der Kanton Bern: «Die Texte zu Abstimmungsunterlagen lassen sich nicht beliebig vereinfachen, weil sie den gesetzlichen Anforderungen an die Information der Stimmberechtigten genügen müssen.» Aber der Kanton publiziere «schon seit mehreren Jahren zu jeder kantonalen Abstimmungsvorlage ein Erklärvideo».
Übrigens: Schreiben in Leichter Sprache ist alles andere als einfach. Der Kanton Bern wählt zuweilen fragwürdige Schreibweisen. Ein Beispiel: Der Kanton schreibt «Land-Wirte». Da stellt sich die Frage, ob der Begriff «Bauern» nicht leichter verständlich wäre. Ob «Land-Wirte» – zumal mit Bindestrich geschrieben – nicht missverstanden werden könnte. Als «Wirte vom Land». Im Gegensatz zu den «Stadt-Wirten», den «Wirten aus der Stadt».
Einfach kompliziert
Der Kanton Bern erklärt Leuten mit Leseschwäche auf der Website in Leichter Sprache, was Leichte Sprache und einfache Sprache sind. Einfach ist das nicht.
Das Problem mit den Geschlechtern
Die Stadt Bern interpretiert die Leichte Sprache anders als der Kanton Bern. Der Kanton teilt lange Wörter mit Bindestrich: «Arbeits-Plätze.» Die Stadt verwendet dafür einen Punkt auf halber Höhe: «Arbeits·plätze.»
Die Stadt Bern unterbricht mit dem Punkt auf halber Höhe auch lange Wörter, die gar keine Zusammensetzungen sind. Etwa: «Informa·tionen.»
Der Punkt auf halber Höhe dient auch zur Unterscheidung der verschiedenen Geschlechter. Die Empfehlungen der Stadt Bern machen die Sache aber ziemlich kompliziert, wie dieses Dokument zeigt:
Und auch bei der Erklärung, was LGBTIQ bedeutet, hat die Stadt Bern noch ein bisschen Potential für Vereinfachungen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Oh weh, ich bin sprachlos!!!
Neben 𝗟𝗲𝗶𝗰𝗵𝘁𝗲𝗿 𝗦𝗽𝗿𝗮𝗰𝗵𝗲 für Mitmenschen mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lesen und Verstehen gibt es auch die 𝗘𝗶𝗻𝗳𝗮𝗰𝗵𝗲 𝗦𝗽𝗿𝗮𝗰𝗵𝗲.
Von Administrationen wie dem Kanton Bern, aber auch von Servicedienstleistern wie Banken, Versicherungen, Verkehrsbetrieben oder Gesundheitskassen wäre zu erwarten, publikumsrelevante Informationen in 𝗘𝗶𝗻𝗳𝗮𝗰𝗵𝗲𝗿 𝗦𝗽𝗿𝗮𝗰𝗵𝗲 zu publizieren, also auf Sprachniveau B1.
Texte auf Sprachniveau B1 werden von etwa 95% aller Menschen verstanden, die auf Deutsch kommunizieren.