Kommentar

Bürgerliche Politik entlastet Reiche statt Mittelschicht 

Walter Langenegger © zvg

Walter Langenegger /  Reformen von Bundesrat und Parlament begünstigen meistens die Reichen und belasten die Mittelschicht.

Die Ungleichheit in der Schweiz ist nicht gottgegeben, sondern von einer bestimmten, meist bürgerlichen Politik gemacht. Das Muster ist stets dasselbe: Fast jede Reform in zentralen Politikbereichen führt dazu, dass die Mittelschicht zugunsten der Oberschicht belastet wird. Wie dies im Einzelnen geschieht, zeigt sich aktuell an verschiedenen Vorlagen, von der Individualbesteuerung über das bundesrätliche Sparpaket bis hin zur EFAS-Abstimmung.

Die Unterschiede bei Vermögen und Einkommen sind enorm. Die oberen zehn Prozent der Bevölkerung vereinen rund 35 bis 40 Prozent der gesamten Lohnsumme auf sich und kontrollieren über 75 Prozent der gesamten Privatvermögen. Dies belegen regelmässig Zahlen des Gewerkschaftsbundes SGB und des Bundesamtes für Statistik. Diese Ungleichheit ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer jahrzehntelangen, bürgerlich dominierten Mehrheitspolitik. Sie ergibt sich aus einer sich fortsetzenden Reihe von Reformen in der Steuer-, Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, deren verteilungspolitische Tragweite oft unterschätzt oder verschleiert wird.

Steuersenkungen machen ungleich

Ein erstes Beispiel dafür ist die Individualbesteuerung, die das Parlament derzeit berät. Sie wird als gesellschaftspolitische Reform präsentiert, da sie die steuerliche Gleichstellung von Mann und Frau voranbringen soll. Darum wird heftig über Rollenbilder gestritten. Dabei droht jedoch eine wichtige Tatsache unterzugehen: Es handelt sich um eine Steuersenkung im Umfang von einer Milliarde, von der in erster Linie Doppelverdiener-Paare mit hohen Einkommen über 120’000 Franken profitieren. Weil die Individualbesteuerung die Progression bricht, sparen sie Zehntausende Franken.

Dies im Gegensatz zu Paaren mit tiefen und mittleren Einkommen: Ihnen bringt die Steuerreform finanziell kaum etwas.

Kürzungen treffen Normalverdienende

Ein zweites Beispiel ist das jüngste Sparpaket, mit dem Finanzministerin Keller-Sutter trotz international rekordtiefer Verschuldung und stabiler Staatsausgaben einen Notstand suggeriert. Der Bundesbeitrag von zwölf Milliarden an die AHV soll gekürzt werden, und zwar um mehrere hundert Millionen. Wichtig zu wissen: Der Bundesbeitrag wird kalkulatorisch zur Hälfte von der Bundessteuer finanziert – also von jener Steuer, die wegen der Progression vor allem von den hohen Einkommen bezahlt wird. Je tiefer der Bundesbeitrag an die AHV ist, desto schwerer hat es die politische Linke, eine Erhöhung dieser Reichensteuer zu fordern. Zudem gehen die AHV-Reserven rascher zur Neige. Das wiederum erhöht den Druck, Renten zu kürzen und das Rentenalter anzuheben – Massnahmen also, die vor allem die Mittelschicht treffen.

Ein drittes Beispiel ist die vorgesehene Kürzung der Kita-Zuschüsse von 800 Millionen Franken. Diese werden ebenfalls durch die Bundessteuer mitfinanziert. Die Kantone dürften kaum in die Lücke springen, zumal viele von ihnen – darunter die beiden Basel, St. Gallen, Zug, Schaffhausen, Genf und Waadt – jüngst bereits wieder die Kantonssteuern gesenkt haben oder dies planen. Die Folge sind höhere Kita-Kosten für die Eltern. Das trifft jene mit niedrigen und mittleren Löhnen. Dies gilt umso mehr, als ihnen tiefere Kantonssteuern kaum Ersparnisse bringen. Anders die wohlhabenden Familien: Sie können höhere Kita-Kosten durch spürbare Steuersenkungen kompensieren.

Sparen heisst mehr zahlen

Ungleichheit durch Kostenabwälzung findet auch im Gesundheitswesen statt. So forderte der Ständerat in der Herbstsession eine Erhöhung der Franchise von 300 auf 500 Franken. Dies kostet die Versicherten laut einer Helsana-Studie rund 1,2 Milliarden Franken. Für hohe Einkommen ist eine höhere Franchise kaum spürbar. Sie profitieren ohnehin von einer vergleichsweise günstigen Gesundheitsversorgung, weil die Prämien nicht einkommensabhängig sind. Doch für jenen beträchtlichen Teil der Mittelschicht mit normalem Lohn und Mindestfranchise und ohne Prämienverbilligung bedeuten 200 Franken für eine höhere Franchise eine erhebliche Belastung.

Kopfsteuern verschärfen Ungleichheit

Auch Konsumsteuern wie die Mehrwertsteuer, die sich wie eine Kopfsteuer auswirken, verstärken die Ungleichheit. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer fasst der Bundesrat zur Finanzierung der 13. AHV-Rente ins Auge. Statt sie auf soziale Weise über Lohnprozente, eine Erhöhung der Bundessteuer oder mit Bundeszuschüssen zu finanzieren, will er die Mehrwertsteuer erhöhen und argumentiert, dies sei gerecht, da alle zahlten. 

Doch in Wirklichkeit trifft eine höhere Besteuerung des täglichen Konsums die breite Bevölkerung viel stärker als die Oberschicht. Damit zwingt die Landesregierung die Menschen mit normalen Löhnen, die Kosten für die zusätzliche 13. Rente de facto selbst zu tragen, und sorgt gleichzeitig dafür, dass sich die höheren Einkommen nicht solidarisch an der Mitfinanzierung der 13. AHV-Rente beteiligen müssen.

Eine Entlastung der Ober- zulasten der Mittelschicht droht auch mit der Vereinheitlichung der Finanzierung im Gesundheitswesen (EFAS), über die wir im November abstimmen. Zwar sollen sich die Kantone mit Steuergeldern neu auch am ambulanten Bereich beteiligen. Doch die überdurchschnittlich stark steigenden Kosten der Langzeitpflege dürften dazu führen, dass die Prämienzahlenden eine immer grössere Last tragen. Denn die Krankenkassen müssen bis zu 73 Prozent der Pflegekosten übernehmen, die steuerfinanzierten Kantone nur 27 Prozent. Die Kosten der Langzeitpflege werden besonders stark zunehmen, weil der Anteil der Betagten in der Gesellschaft steigt.  

Umverteilung nach oben

Alle diese Systemänderungen haben tiefgreifende Folgen für die Steuerstruktur. Während die Einkommenssteuern, die hauptsächlich hohe Einkommen belasten, seit 30 Jahren sinken, sind die Konsumsteuern und die Prämien, die die Kaufkraft der breiten Bevölkerung schmälern, massiv gestiegen. 

Der SGB hat berechnet, dass eine alleinstehende Person mit einem Einkommen von einer Million heute im Schnitt über 30’000 Franken weniger Steuern zahlt als im Jahr 2000, während es bei einer alleinstehenden Person mit 75‘000 Franken Einkommen nur 125 Franken weniger sind. Gleichzeitig stieg die Mehrwertsteuer von 6,5 auf 8,1 Prozent, und die durchschnittliche Krankenkassenprämie erhöhte sich um 158 Prozent von 173 auf 427 Franken.

Dieser Trend wird selten unterbrochen, zuletzt etwa mit der Mindeststeuer für Konzerne, die auf Druck der OECD eingeführt wurde. Allerdings profitiert die Bevölkerung kaum davon. Denn das Parlament sorgte dafür, dass die Steuererträge grösstenteils zurück in die Tiefsteuer-Kantone fliessen. Diese erstatten die Mittel den Konzernen indirekt zurück, indem sie ihnen anderweitige Steuervergünstigungen gewähren sowie Dienstleistungs- und Infrastrukturkosten finanzieren.

Politik gegen die Mittelschicht

Insgesamt findet damit eine kontinuierliche Umverteilung von unten nach oben statt. Es ist das Gegenteil dessen, was die Bundesverfassung verlangt, nämlich eine Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Die Politik lässt zu, dass die wirtschaftlich starke Oberschicht sich immer mehr ihrer Pflicht entzieht, einen gerechten Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Hand zu leisten, während die Lasten zunehmend auf die Schultern der Mittelschicht überbürdet werden. 

Heute gehört die Schweiz zu den OECD-Staaten, die am wenigsten umverteilen – was vor allem den Menschen mit mittleren Löhnen schadet, die keine Prämienverbilligungen oder andere Transferleistungen erhalten.

Das ist die Mechanik der Ungleichheit. Es macht die Reichen immer reicher. Und es gibt keinen Hinweis darauf, dass die bürgerliche Mehrheitspolitik gewillt ist, dies zu ändern.

Grafik Internationaler Vergleich der staatlichen Umverteilung
Grafik des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zur staatlichen Umverteilung: Im Unterschied zu den anderen Ländern in Europa wirkt die staatliche Abgaben- und Sozialpolitik in der Schweiz kaum ausgleichend. Hauptursache sind die Kopfprämien bei der Krankenkasse. (Für eine grössere Auflösung bitte hier klicken und auf Seite 13 anschauen.)

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Walter Langenegger war Inlandchef des «St.Galler Tagblatts» und später Kommunikationschef der Stadt Bern. Er veröffentlicht seine Beiträge im Blog «Meinung».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 10.10.2024 um 11:43 Uhr
    Permalink

    Neustes Beispiel: bürgerlicher BR verweigert Diskussion zur Finanztransaktionssteuer. Bei der AHV bevorzugt er die unsoziale MwSt obwohl mit einer Mikrosteuer auf die spekulativen Börsengeschäfte die Finanzprobleme zu lösen sind.

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