Unbeirrter Feldzug gegen die Abtreibung
«Die Anti-Abtreibungs-Bewegungen haben sich modernisiert, professionalisiert und politisiert», sagt Neil Datta. Er ist Generalsekretär des Europäischen Parlamentarischen Forums für Bevölkerung und Entwicklung, eines unabhängigen Netzwerks europäischer Parlamentsfraktionen, das sich für die Verbesserung der Gesundheit und der Rechte im Bereich Sexualität und Fortpflanzung einsetzt.
Nachdem der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten am 24. Juni 2022 das Bundesrecht auf Abtreibung aufgehoben hat, beobachtet Neil Datta nun mit Sorge den Aufstieg der Pro-Life-Bewegung auf dem europäischen Kontinent. «Seit einem Jahrzehnt häufen sich die Versuche, das Recht auf Abtreibung zu beschneiden, in Portugal, Spanien, Litauen, der Slowakei, Polen, Österreich, Finnland und sogar in Schweden», stellt er fest.
Das Phänomen betrifft auch die Schweiz. Auch wenn sich nur wenige Schweizer*innen offen gegen Abtreibung aussprechen, sind die Organisationen, die gegen den Schwangerschaftsabbruch eintreten, erfinderisch, wenn es darum geht, ihre Ideen zu verbreiten.
Lobbying im Parlament
In der Politik werden ihre Forderungen von einem Teil der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) vertreten. Regelmässig reichen Abgeordnete der grössten Partei der Schweiz Vorstösse im Parlament ein oder lancieren Volksinitiativen, um die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen einzuschränken.
Da diese Vorstösse bisher immer abgelehnt wurden, haben sich zwei SVP-Politikerinnen im Dezember letzten Jahres erneut an die Arbeit gemacht. Sie lancierten zwei Volksinitiativen, um den Zugang zu Abtreibungen zu erschweren. Die Frist für die Sammlung der 100’000 Unterschriften, die für eine Volksabstimmung erforderlich sind, läuft bis zum 21. Juni 2023.
Die erste Initiative mit dem Titel «Einmal darüber schlafen» hat die Berner Nationalrätin Andrea Geissbühler lanciert. Sie will eine Bedenkzeit von einem Tag vor jedem Schwangerschaftsabbruch einführen, um «Frauen vor übereilten Abtreibungen zu schützen». Der zweite Vorschlag, der von der Luzerner Nationalrätin Yvette Estermann eingereicht wurde, richtet sich gegen «Spätabtreibungen». Er fordert, dass Abtreibungen nicht mehr möglich sein sollen, sobald «das Kind ausserhalb der Gebärmutter atmen kann, eventuell mit Hilfe von Intensivpflegemassnahmen».
Beide Frauen betonen zwar, dass ihre Initiativen nicht darauf abzielen, Abtreibungen zu verbieten, sie stehen aber der Pro-Life-Bewegung nahe und übernehmen deren Argumentation. Andrea Geissbühler sitzt im Vorstand der Schweizer Vereinigung Pro Life, die offen gegen Abtreibungen ist. Diese zögert im Übrigen nicht, Abtreibung mit Mord zu vergleichen. «Wenn diese Initiativen einige Leben retten können, sind sie den Aufwand wert», sagt Geissbühler gegenüber swissinfo.ch.
Die beiden rechtskonservativen Politikerinnen treten als Sprecherinnen der Initiativen auf, haben sie aber nicht selbst ausgearbeitet. Hinter ihnen stehen Gruppierungen, die radikal gegen Abtreibung eintreten. «Verschiedene Organisationen haben die Initiativen entworfen. Sie haben uns dann kontaktiert und uns angeboten, das Initiativkomitee zu präsidieren», sagt Geissbühler.
«Marsch für s’Läbe»
Yvette Estermann und Andrea Geissbühler geben die Namen dieser Organisationen nicht bekannt. Die gesammelten Unterschriften für die Texte sollten aber direkt an eine dieser Organisationen, den Verein Mamma, gesendet werden. Dessen Präsident Dominik Müggler, ein entschiedener Abtreibungsgegner, hatte bereits 2002 erfolglos gegen die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in der Schweiz gekämpft. Der Basler sitzt nun in beiden Initiativkomitees.
Dominik Mügglers Ziel geht über die in den Texten geforderten Einschränkungen hinaus. «Die Zukunft wird früher oder später ohne Abtreibung auskommen, nicht weil sie verboten wird, sondern weil die Menschheit davon überzeugt ist, dass Abtreibung der Menschenwürde diametral entgegensteht», schreibt er auf Anfrage an swissinfo.ch. Die Abtreibung sei kein Schwangerschaftsabbruch, sondern die Tötung des eigenen Kindes, heisst es auf der Website seiner Vereinigung.
Müggler ist als Aktivist sehr aktiv und bestens vernetzt. Er nimmt an Kongressen und Demonstrationen gegen Abtreibung im Ausland teil und lässt sich von den dortigen Organisationen inspirieren. Auf einem Foto ist er beispielsweise bei einem «Marsch für das Leben» (eine Anti-Abtreibungsdemonstration, die es in vielen Ländern gibt) in Washington im Jahr 2019 zu sehen. In Anlehnung an eine amerikanische Organisation war Müggler 2020 auch an der Gründung des Vereins hope21 beteiligt, der sich gegen die Abtreibung von Föten mit Trisomie 21 einsetzt.
Umstrittene Babyklappen
Derselbe Dominik Müggler hat mit seiner Stiftung Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) die «Babyklappen» ins Leben gerufen. Er installierte 2001 in Einsiedeln im Kanton Schwyz die erste dieser Einrichtungen, die es verzweifelten Müttern ermöglichen, ihre Babys in einem von aussen zugänglichen Abteil eines Krankenhausgebäudes abzugeben. Heute betreibt die Stiftung sieben der acht Boxen im Land. Darüber hinaus übernimmt sie die Kosten für die Einrichtung und die Pflege der Babys.
Auch wenn das Konzept auf den ersten Blick unbedenklich erscheint, sind Babyklappen umstritten. Im Jahr 2015 hatte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes der Schweiz empfohlen, sie zu verbieten, weil sie gegen das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Herkunft verstossen würden.
Die Einrichtung wird auch von Sexuelle Gesundheit Schweiz, dem Dachverband der Zentren für sexuelle Gesundheit, kritisiert. Nicht nur weil sie von Abtreibungsgegner*innen betrieben wird, sondern auch weil sie Risiken für die Frau und das Kind mit sich bringen würde. «Die Ideologie ist rein lebensbejahend: Es ist wichtig, dass Babys geboren werden. Die Frau ist nicht wichtig», sagt die Direktorin Barbara Berger.
Als Alternative empfiehlt Sexuelle Gesundheit Schweiz die vertrauliche Geburt, die bereits in 18 Kantonen möglich ist. Sie ermöglicht es, unter einem Pseudonym im Spital zu gebären, anstatt allein und im Geheimen. Dadurch wird die Vertraulichkeit gewahrt und eine angemessene medizinische Versorgung der Frau und des Kindes sowie die Wahrung ihrer Rechte gewährleistet.
Hilfszentren für Frauen
Die SHMK bezeichnet sich selbst auch als Hilfs- und Beratungszentrum für Frauen, die nach einer Schwangerschaft oder Geburt in Schwierigkeiten geraten. Auf ihrer Webseite verbreitet die Stiftung Argumente gegen Abtreibung, aber auch zahlreiche Informationen über die angeblichen physischen und psychischen Gefahren eines Schwangerschaftsabbruchs. Tatsächlich ist der Schwangerschaftsabbruch eines der häufigsten chirurgischen Verfahren. In Ländern, in denen eine Abtreibung legal ist, ist diese in der Regel sicher und Komplikationen sind selten, so das MSD-Handbuch, ein Standardnachschlagewerk der Medizinberufe.
Darüber hinaus kommen zahlreiche wissenschaftliche Studien zum Schluss, dass Abtreibungen keine psychischen Störungen verursachen. Die Stigmatisierung der Abtreibung und die Tabuisierung des Themas können mehr Leid verursachen als der Schwangerschaftsabbruch selbst, betont Sexuelle Gesundheit Schweiz. «Diese Organisationen verbreiten falsche Informationen, um Frauen von einer Abtreibung abzuhalten. Sie versuchen, eine Notlage auszunutzen. Das sind schockierende Praktiken», kommentiert Barbara Berger.
Rabatte bei der Krankenversicherung
Die SHMK ist bei weitem nicht die einzige Pro-Life-Organisation, die in der Schweiz umstrittene Methoden anwendet. Andere bieten Frauen, die auf eine Abtreibung verzichten, sogar Vergünstigungen an. Dies tut etwa die 1989 gegründete Organisation Pro Life, die in der Schweiz rund 70’000 Mitglieder hat.
Diese handelt Verträge mit dem Krankenversicherer Helsana aus. So gewährt sie ihren Mitgliedern, die eine Charta zum Verzicht auf Abtreibung unterzeichnen, Ermässigungen auf die Prämien für die Zusatzversicherung. Diese Charta hat jedoch keinerlei rechtliche Bedeutung, da ein Schwangerschaftsabbruch gesetzlich von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bezahlt werden muss.
Was Helsana betrifft, so erklärt sie in einem Artikel der Zeitung ArcInfo, dass sie «keine besondere Beziehung» zu Pro Life habe. Man habe mit der Organisation «einen branchenüblichen Kollektivvertrag» abgeschlossen.
Die Praxis wurde mehrfach angeprangert, unter anderem von der grünen Ständerätin Lisa Mazzone, die eine Interpellation zu diesem Thema eingereicht hat. Die Regierung räumt zwar ein, dass die Praxis «als problematisch angesehen werden kann», ist aber der Ansicht, dass «das Recht der Versicherten, die im Krankenversicherungsgesetz vorgesehenen Leistungen zu erhalten, dadurch nicht eingeschränkt wird».
Ein internationales Netzwerk
Die Schweizer Abtreibungsgegner*innen arbeiten nicht isoliert. «Sie sind Teil eines stark verflochtenen internationalen Netzwerks, das gegen den Schwangerschaftsabbruch, gegen die Rechte von LGBTQI und gegen Sexualaufklärung ist», sagt Barbara Berger. Berger macht das beispielsweise daran fest, dass parlamentarische Vorstösse zu diesen Themen eingereicht werden, die Sätze aus den Argumentarien von Pro-Life-Verbänden im Ausland eins zu eins übernehmen.
Neil Datta stellt Ähnliches fest. In Europa sind diese Bewegungen, die eine ultrakonservative Sicht der Gesellschaft teilen, seiner Meinung nach 2013 als Reaktion auf die Einführung der Ehe für alle in Frankreich und Grossbritannien gewachsen und haben begonnen, sich zu organisieren. «Sie begannen, sich zu treffen und Ideen auszutauschen, insbesondere über ein Netzwerk namens Agenda Europe oder den Weltfamilienkongress», erläutert er.
Diese Organisationen haben sich also modernisiert, und das ist vielleicht der Schlüssel zu ihrem Erfolg, weil sie auf diese Weise mehr finanzielle Unterstützung erhalten, wie eine Studie des Europäischen Parlamentarischen Forums für Reproduktive Rechte zeigt. «Die Beträge, die in diese Bewegungen in Europa investiert wurden, haben sich zwischen 2009 und 2018 auf umgerechnet 700 Millionen Dollar vervierfacht», sagt Datta, der den Bericht verfasst hat.
Dieses Geld stammt von 54 Organisationen (NGOs, Stiftungen, religiösen Organisationen und politischen Parteien). «Es gibt drei geografische Hauptquellen: die Vereinigten Staaten, die Russische Föderation und, am wichtigsten, Europa selbst», so Datta.
In der Schweiz, wie auch in den meisten anderen europäischen Ländern, sind diese Bewegungen trotz ihres Aktivismus in der Minderheit. «Sie sind jedoch präsent und warten nur auf die richtige Gelegenheit, die richtigen politischen Rahmenbedingungen, um ihre Ideen voranzutreiben. Ausserdem haben wir festgestellt, dass viele Länder die Abtreibung rechtlich schlecht schützen», warnt Neil Datta.
Vor diesem Hintergrund gelang es der konservativen Regierung in Polen, 2021 ein fast vollständiges Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen durchzusetzen. Abtreibungen sind in Polen nun nur noch bei Vergewaltigung oder Gefahr für das Leben der Frau erlaubt.
«In Europa liegt der Fortschritt der Pro-Life-Bewegung 15 Jahre hinter den USA zurück. Aber ein ähnlicher Prozess hat bereits begonnen», meint Datta.
Gegendarstellung
In einer früheren Version des Artikels hiess es, dass Dominik Müggler «das Konzept des ‹Marschs für das Leben’ in der Schweiz eingeführt hat.» Der ‹Marsch fürs Läbe› wurde 2010 erstellt. Damit habe er nichts zu tun, sagt Dominik Müggler in einer Gegendarstellung, die er swissinfo.ch zukommen liess.“
Dieser Beitrag ist zuerst auf swissinfo.ch erschienen.
Editiert von Samuel Jaberg und Virginie Mangin. Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Warum verbreitet der Infosperber solche unreflektierten Artikel?
Eine Abtreibung ist ok wenn die Lebensgefahr für die Mutter (von mehreren Seiten) bestätigt wurde. Ebenfalls bei einer Vergewaltigung. Es ist, meines Erachtens, nicht zumutbar, dass einer Frau ein Leben lang das Resultat ihrer Demütigung vor Augen geführt wird.
Für alle anderen Fälle sollten Abtreibungen verboten werden.(siehe Polen)
Die UN findet, dass die Babyklappen verboten werden sollen, wegen dem Recht zu wissen woher man kommt.
Dies steht doch diametral zum Recht auf Leben.
Über 10’000 Abtreibungen pro Jahr, (32 pro Tag/320 Arbeitstage) alleine in der kleinen Schweiz, sollten uns zum Denken anregen.
Welche Gründe könnten aufgezählt werden für 32 Abtreibungen pro Tag?
Doch nur Egoismus, Dummheit und Profitgier.
Warum wird die Tötung eines lebensfähigen Neugeborenen als Mord deklariert, während die selbe Tat bei einem lebensfähige Ungeborenen straffrei bleibt?
unsere gesellschaft wertet die bedürfnisse der schwangeren frau sehr stark und vergisst dabei, dass auch der ungeborene mensch bedürfnisse hat – jeder mensch will nämlich leben!
dieser artikel entsetzt sich über menschen, die sich für die ungeborenen menschen einsetzen. verkehrte welt!
Als Atheist spreche ich mich klar gegen die Tötung von menschlichem Leben aus. Die Grenze, ab wann einem Menschen Würde zugesprochen werden soll, darf oder muss, ist immer ein rein willkürlicher Akt. Diese Grenze, die man m.E. niemals ziehen sollte, da ich jedem Leben unabhängig vom Entwicklungsstand Würde zuspreche, ist ein völlig rationaler Entscheid, der sich über unsere Biologie stellen will.
Die höchste Motivation unseres Körpers ist, sich fortzupflanzen. Sich mit unserem rationalen, berechnenden Verstand gegen unsere Biologie zu entscheiden, wird zwangsläufig negative Konsequenzen nach sich ziehen – zumal die Entscheidung zur Abtreibung und die anschliessende Handlung einem bis zum eigenen Tod begleiten wird. Unmöglich, dass so eine Handlung zu vertieftem Menschsein und zu unserer geistigen und seelischen Gesundheit beitragen kann!