Kommentar

Ukrainekrieg: «Drückeberger aller Länder, vereinigt euch!»

Sperber für Sperberauge ©

Thomas Moser /  Kriegsdienstverweigerer gibt es in Russland wie in der Ukraine. Warum werden sie hierzulande nicht stärker unterstützt?

Red. – Dieser Beitrag erschien zuerst in der «Berliner Zeitung», er berichtet aus der deutschen Optik. Mehrere Zwischentitel durch die Redaktion.

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«Wenn Jaroslaw das sehen könnte! Vielleicht würde er sich freuen. Vielleicht wäre er stolz. Wenn er das sehen könnte: all die Menschen, die am Strassenrand stehen bleiben oder in die Knie gehen mit der Hand auf dem Herzen. Männer, Alte, Mütter neben ihren Kinderwagen, (…) einige Frauen weinen.»

So beginnt die Autorin Barbara-Maria Vahl eine Reportage über die Ukraine, abgedruckt in der Esslinger Zeitung im Dezember 2023. Konkret geht es um die Beerdigung eines Soldaten. Man liest weiter: «Aber Jaroslaw kann das nicht sehen. Er liegt in einem schwarz lackierten Sarg in dem schwarzen Van, der den Konvoi aus drei gelben Gelenkbussen anführt, darin die Trauergemeinde.»

Neue Kriegsprosa. Und Zeitungen, die so etwas wieder gerne drucken. Die Reportage stellt aber auch eine Verfälschung dar. Sie suggeriert einen allgemeinen Kriegswillen in der ukrainischen Bevölkerung.

Sechsstellige Zahl an Kriegsdienstverweigerern in der Ukraine

«Die Ukraine» verteidige sich gegen eine Invasion, für «die Ukraine» stirbt man bereitwillig. Die Realität in dem Land ist etwas vielfältiger. Über Männer, die nicht in den Krieg ziehen und nicht sterben wollen, gibt es eher wenig Berichte. Auch Frauen, die mit ihren Kindern dafür demonstrieren, dass die Ehemänner und Väter von der Front nach Hause dürfen, kommen in solchen Reportagen nicht vor. Die Ukrainer sind in der Kriegsfrage keineswegs eins. Die Zahl ukrainischer Kriegsdienstverweigerer ist sechsstellig. Wie hoch genau weiss nur der Staatsapparat.

Was man weiss, ist, dass 650’000 ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 60 das Land verlassen haben. Die Hälfte von ihnen sind wahrscheinlich Wehrpflichtige, meint die Kriegsdienstverweigerer-Organisation Connection e.V. aus Offenbach und geht deshalb von etwa 325’000 Kriegs-Entziehern aus. Das ist etwa die Stärke einer Armee. Über 20’000 ukrainische Soldaten sollen seit Kriegsbeginn im Februar 2022 allein ins angrenzende Moldawien geflohen sein.

Beim Fluchtversuch von den eigenen Truppen erschossen

Mitte Juli wurde über den Fall eines Rekruten berichtet, der beim Versuch, nach Moldawien zu fliehen, von den eigenen Grenztruppen erschossen wurde. Auch nach Rumänien versuchen immer wieder Männer zu entkommen. Dabei kommen in dem gefährlichen Grenzfluss Theiss immer wieder Flüchtende ums Leben. In den ersten Wochen nach Kriegsbeginn gab es in der Ukraine bereits die ersten Strafverfahren wegen Kriegsdienstverweigerung, Militärdienstentziehung oder Selbstverstümmelung. Tendenz steigend. In den ersten neun Monaten des zweiten Kriegsjahres 2023 kam es nach offiziellen Quellen zu knapp 20’000 solcher Verfahren.

Darunter ist der Fall von Yurii Sheliazenko, dem Gründer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung. Der staatliche Sicherheitsdienst wirft ihm vor, er habe die russische Aggression gerechtfertigt. Im Juni 2024 sollte Sheliazenko der Prozess gemacht werden. Laut dem Connection-Mitarbeiter Rudi Friedrich platzte der Prozess, weil sich der Richter für befangen erklärte und das Verfahren abgab.

Frau und Soldat
Hunderttausende Männer in der Ukraine und in Russland wollen nicht in den Krieg ziehen.

Unterstützung durch Dorfbewohner

Aber es gibt auch Unterstützung im Land. Einwohner, die helfend eingreifen, wenn die Rekrutierungsstellen einzelne Männer festnehmen wollen, um sie an die Front zu verschleppen, was immer wieder passiert. Es wird von Zwischenfällen berichtet, nach denen Dorfbewohner zum Gebäude des örtlichen Rekrutierungszentrums gezogen sind und die Freilassung eines Zwangseingezogenen verlangten. In verschiedenen Städten haben sich anarchistische Gruppen gebildet, die Kriegsdienstverweigerer oder Deserteure unterstützen. Zum Beispiel eine Gruppe in Charkow, die sich Assembleia nennt.

In Deutschland gibt es offiziell keine grosse Unterstützung für ukrainische Kriegsdienstverweigerer. Im Gegenteil: konservative Politiker bekommen in den Medien breiten Raum, um eine Neid- und Hetzdebatte über Sozialleistungen für die geflüchteten ukrainischen Männer im wehrpflichtigen Alter anzuzetteln. Sie würden ihr Land im Stich lassen. Gefordert wird zum Beispiel, ihnen das Bürgergeld zu streichen, um sie zur Rückkehr in die Ukraine zu bewegen.

Nach dem neuen Mobilisierungsgesetz in der Ukraine wurde die Wehrerfassung verschärft. Tauglichkeitskriterien wurden gesenkt, abgelaufene Pässe können nur noch in der Ukraine ersetzt werden, wodurch die Männer gezwungen werden sollen, zurückzukehren. Die Organisation Connection fordert deshalb die Ausstellung von Passersatzpapieren für Geflohene und Kriegsdienstverweigerer durch deutsche Behörden.

Schätzungsweise mindestens 250’000 russische Kriegsdienstverweigerer verliessen das Land

Aber auch in Russland gibt es eine wachsende Zahl von Kriegsdienstverweigerern. Nach einer Studie des oppositionellen russischen «Netzwerkes für Analyse und Politik» sollen seit Kriegsbeginn bis zum Juli 2023 zwischen 820’000 und 920’000 Menschen Russland verlassen haben. Darunter sind nach Schätzung der Initiative Connection mindestens 250’000 Kriegsdienstverweigerer.

Laut Bundesinnenministerium (BMI) gingen vom ersten Kriegstag am 24. Februar 2022 bis zum September 2023 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) rund 3500 Asylanträge russischer Männer im wehrfähigen Alter ein, wozu das BMI die Jahre 18 bis 45 zählt. Einen Schutzstatus erhielten 2022 genau 81 Personen, im Jahr 2023 bis einschliesslich August ganze 11.

Als Helden, die dem Aggressor in den Rücken fallen und ihm seinen Krieg erschweren, werden die russischen Fahnenflüchtigen in Deutschland also nicht gehandelt. Vielleicht, weil sie auch eine Legitimation für die ukrainische Kriegsdienstverweigerung darstellen. Und wenn der Verweigerer der einen Seite den Verweigerer der anderen ermuntert und ihm Sinn gibt, wo führt das dann hin? So sind Kriege doch nicht mehr führbar.

Sie wollen sich weder für das Vaterland noch für Oligarchen opfern

Die anarchistischen ukrainischen Kriegsdienstverweigerer haben sich ein Motto gegeben, das dazu passt: «Drückeberger aller Länder, vereinigt euch!» Sie gehen aber noch weiter. Indem sie erklären, sich nicht für das «Vaterland» und auch nicht für die «Oligarchen opfern» zu wollen, weisen sie darauf hin, dass auch im Krieg nicht alle gleich sind. Es gibt Bürger, die in diesem Krieg den Preis bezahlen, und welche, die davon profitieren. Krieg ist immer auch eine soziale Frage.

Was in diesem Krieg zusehends fehlt, sind Soldaten. Die Verluste sind auf beiden Seiten enorm. Trotzdem geht auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit den russischen Verweigerern eher streng als anerkennend um. Ihre Anträge prüft das BAMF anhand des Kriteriums der sogenannten «beachtlichen Wahrscheinlichkeit» einer Kriegsteilnahme. Will heissen: Wie wahrscheinlich ist es, ob ein Rekrut in die russische Truppe eingezogen und zum Einsatz in der Ukraine abkommandiert wird? Es gilt also nicht der Wille des potenziellen Soldaten, nicht eingezogen werden zu wollen.

Dieser rücksichtsvolle Umgang deutscher Behörden mit der russischen Militärmaschinerie passt nicht zur üblichen Anti-Putin-Rhetorik, nach der der Aggressor doch, wenn er könnte, bis zur französischen Atlantikküste vorstossen würde. Zumal deutsche Politiker, wie der Grüne Ex-Pazifist Anton Hofreiter, die FDP-Kriegslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder der CDU-Ex-Bundeswehr-Offizier Roderich Kiesewetter mit Sprüchen auffällig geworden sind wie: «Den Krieg nach Russland tragen.»

Wer so redet, wer das will, hilft nicht der Ukraine und ihrer Bevölkerung, sondern vor allem Putin et al. in deren Krieg. Sie erschweren so Kriegsdienstverweigerung in Russland und helfen dem dortigen Macht- und Militärapparat bei seinem Kampf gegen die russische Opposition. Sie sind auf ihre Weise wahre Putin-Versteher. Wer an der Front nicht stirbt, wird zumindest verletzt an Seele und Körper.

Soldatengräber und Verstümmelte

Neben den Soldatengräbern auf den Friedhöfen breiten sich in der Ukraine auch die Versehrten und Verstümmelten dieses Krieges im Land aus. Doch die Kriegsverherrlicher nutzen auch das noch propagandistisch aus. Und so schreibt unsere Autorin vom Anfang, Barbara-Maria Vahl, über ukrainische Männer, als sei das Gemetzel ihre wahre Bestimmung:

«Pavlo wurde schon dreimal verletzt. (…) Zurzeit ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Der rechte Oberschenkel war zerschmettert. (…) Andriy aus Kramatorsk ist 26 Jahre alt. Er hat am 12. August einen Unterschenkel verloren, wartet auf seine Prothese. Für beide Männer ist klar: Sobald sie können, kehren sie zurück an die Front. Dies habe er vor, nicht obwohl er eine dreijährige Tochter hat, sondern weil er eine Tochter hat, stellt Andriy klar. Sie solle in einer freien Ukraine leben.»

Zweitausend Kilometer westlich des Krieges in der Ostukraine hat sich eine Mentalität breit gemacht wie vor über hundert Jahren. Dazu passen dann auch die neuen Fackelzüge zu den Soldatengräbern auf den deutschen Friedhöfen am Volkstrauertag, wenn Kriegsopfern und ihren Tätern zugleich gedacht wird. Die Kriegspropaganda in Deutschland zielt in Wahrheit auf Deutschland. Tote Soldaten, die stolz sind, wenn sie Opfer werden, Verletzte, die so schnell wie möglich zurück an die Front wollen – das verstehen die Planer und Einheizer unter «Kriegstüchtigkeit» und «Kriegswilligkeit».

Und in der Ukraine: Wollen die Verstümmelten vielleicht im Rollstuhl zurück an die Front, weil sie zu Hause niemand haben will, weil man ihr Leid nicht erträgt und sie selbst es auch nicht? Dann könnte man sogar auf die Idee kommen, dass es Unverletzte geben muss, die nicht dieses Schicksal erleiden wollen und deshalb vom Krieg türmen. Und die nebenbei die Erfahrung haben, dass es eine russisch-sowjetische Besatzung in ihrer Geschichte schon einmal gab und diese schon einmal friedlich überwunden wurde. Warum nicht ein zweites Mal?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Thomas Moser arbeitet als freier Journalist, tätig u.a. für die ARD und verschiedene Internetmagazine.
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3 Meinungen

  • am 5.08.2024 um 12:58 Uhr
    Permalink

    Für die Schweiz gilt:
    «Fahnenflucht oder Desertion bezeichnet das Fernbleiben eines Soldaten von militärischen Verpflichtungen in Kriegs- oder Friedenszeiten. Der Fahnenflüchtige wird allgemein als Deserteur bezeichnet.» In der Schweiz wird Fahnenflucht mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 18 Monaten bestraft.
    In Deutschland gilt folgendes:
    Wer eigenmächtig seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihr fernbleibt und vorsätzlich oder fahrlässig länger als drei volle Kalendertage abwesend ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.
    Ich habe volles Verständnis für die Fahnenflucht aber sie ist eine Straftat.

  • am 5.08.2024 um 17:51 Uhr
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    Wer geht schon gerne in den Krieg und hält für Grössenwahnsinnige und in ihrer Persönlichkeit gestörte Politiker seine Birne hin, da kann man nur verlieren. Ich bestimmt nicht – da bin ich in guter Gesellschaft von eben solchen Politikern.

  • am 6.08.2024 um 15:55 Uhr
    Permalink

    Es wird vollständig ausgeklammert, dass es in der Ukraine eine russische Minderheit gibt, die Kriegsverweigerer gegen die eigenen Leute in den Krieg ziehen müssten.

    Die Ukraine hat ein Recht auf territoriale Integrität und sie hätte es auch weiterhin behaupten können, wenn sie keine menschenverachtenden Gewaltmassnahmen gegen die russischen Mehrheiten in der Ost-Ukraine entfacht hätte.

    Also ist es auch hier (wie bei allen Kriegen) das Vernünftigste, wenn man nicht mitmacht und Kriegsverweigerer ist.

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