Was 65 Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter in Gaza sahen
Zuerst habe er angenommen, es müsse ein besonders sadistischer Soldat in der Nähe sein, sagte US-Chirurg Feroze Sidhwa gegenüber der «New York Times». Aber nach seiner Rückkehr habe er einen Notfallarzt getroffen, der zwei Monate vor ihm in einem anderen Spital in Gaza gearbeitet hatte. Dieser sagte ihm: «Ich konnte auch nicht glauben, wie viele Kinder ich sah, denen in den Kopf geschossen wurde – praktisch jeden Tag.»
Der amerikanische Arzt Feroze Sidhwa operierte Ende März 2024 während zweier Wochen im Spital von Khan Younis in Gaza: «Ich hatte in der Ukraine und in Haiti als Freiwilliger gearbeitet. Ich habe in Konfliktgebieten gearbeitet. Aber von allem, was ich bei der Arbeit in Gaza erlebte, hat mich eines besonders getroffen: Fast jeden Tag sah ich ein neues Kind, dem in den Kopf oder die Brust geschossen worden war. In 14 Tagen insgesamt 13.»
Die Ärztin Mimi Syed, die vom 8. August bis zum 5. September in Khan Younis arbeitete, erklärte: «Ich hatte mehrere pädiatrische Patienten, von denen meisten unter zwölf Jahre alt waren, denen in den Kopf oder in die linke Brust geschossen worden war. Meistens handelte es sich um einzelne Schüsse. Die Patienten kamen entweder tot oder in kritischem Zustand ins Spital und starben kurz nach ihrer Ankunft.»
Solche Informationen dringen selten an die Öffentlichkeit. Denn nur wenige Journalisten oder Vertreter von NGOs dürfen – ins israelische Militär «eingebettet» – den Gazastreifen besuchen. Wenige andere, vor allem vom katarischen TV-Sender «Al Jazeera», riskieren ihr Leben und deren Vor-Ort-Berichte werden von westlichen Medien nicht zitiert.
Doch es gibt unabhängige Beobachter, die diesen Krieg Tag für Tag vom Boden aus miterlebt haben: Ausländische Ärzte und Pflegende, die einen freiwilligen Einsatz leisten. Mit 65 von ihnen, alles Amerikanerinnen und Amerikaner, konnte die «New York Times» dank persönlicher Kontakte und Online-Recherchen reden. Alle hatten seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza gedient. Viele haben familiäre oder religiöse Verbindungen zum Nahen Osten.
57 der 65 Befragten waren bereit, ihre Erfahrungen öffentlich zu teilen. Die anderen äusserten sich nur anonym, weil sie entweder Familienmitglieder in Gaza oder im Westjordanland haben oder weil sie Vergeltungsmassnahmen am Arbeitsplatz befürchten.
Der Arzt Feroze Sidhwa bat die israelischen Streitkräfte IDF um eine Stellungnahme. Doch die Fragen, ob das Militär Berichte über Schüsse auf Kinder im Vorschulalter untersucht hätten und allenfalls gegen Soldaten Disziplinarverfahren eröffnet wurden, beantwortete der IDF-Sprecher nicht. Er teilte nur allgemein mit:
«Die IDF sind verpflichtet, während operativer Aktivitäten zivile Schäden zu mindern. Die IDF tun das Möglichste, um potenzielle zivile Kollateralschäden bei ihren Angriffen abzuschätzen und zu berücksichtigen. Die IDF ist verpflichtet, das Kriegsvölkerrecht einzuhalten.»
Das amerikanische Recht verbietet den Transfer von Waffen an Nationen und militärische Einheiten, die sich grober Menschenrechtsverletzungen schuldig machen. Dies müsse insbesondere gelten, wenn diese Verletzungen Kinder betreffen, sagt Chirurg Feroze Sidhwa. Man könne sich kaum schwerere Verstösse gegen diesen Standard vorstellen: Junge Kinder, denen regelmässig in den Kopf oder in die Brust geschossen wird; Neugeborene und ihre Mütter, die verhungern, weil Nahrungsmittelhilfe blockiert und die Wasserinfrastruktur zerstört wurde; die vielen Gesundheitseinrichtungen, die zerstört wurden.
Acht amtierende US-Senatoren, 88 Mitglieder des Repräsentantenhauses, 185 Anwälte (darunter Dutzende, die in der Verwaltung tätig sind) und 12 Beamte, die aus Protest gegen unsere Gaza-Politik zurücktraten, haben der Regierung mitgeteilt, dass die weitere Aufrüstung Israels nach US-Recht illegal sei.
Die tödliche Kombination von dem, was Human Rights Watch als wahllose militärische Gewalt beschreibt, was Oxfam als vorsätzliche Einschränkung von Nahrungsmitteln und humanitärer Hilfe bezeichnet und die nahezu universelle Vertreibung der Bevölkerung würden die katastrophale Wirkung haben, vor der viele Wissenschaftler vor fast einem Jahr gewarnt hätten.
Sidhwa kritisiert seine Regierung: Sie hätte den Fluss der US-Militärhilfe nach Israel stoppen können.
US-Chirurg zeigt Originalaufnahmen aus einem zum Teil zerstörten Spital in Gaza
Samer Attar ist Orthopäde am Kinderspital in Chicago. Noch nie habe er bei seinen Auslandeinätzen so Schreckliches gesehen. Hier ein Ausschnitt seiner eigenen Aufnahmen:
Wer Zugang zur «New York Times» hat, kann hier das ganze Video konsultieren (nach dem Öffnen auf Pfeil klicken):
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Zum Originalartikel der «New York Times» ohne Paywall auf dieser Webseite
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Es ist fürchterlich was auf der Welt geschieht. Es grenzt vielerorts schon an Völkermord und ganz besonders im Gaza! Aber der Zorn dieser Menschen wird nicht lange auf sich warten lassen. Israel bringt sich selber in Gefahr.
Bei den Schüssen auf Kinder wäre es interessant zu wissen mit was für einem Kaliber geschossen wurde. Da wären die Schuldigen sehr schnell klar aber da will sich wohl niemand die Finger verbrennen wenn der Waffenhandel so floriert.
Diese Berichte von glaubwürdigen Augenzeugen über die unverhältnismäßigen Reaktionen Israels auf den Hamas-Überfall sind erschütternd. Wer sich einigermaßen allseitig informiert, weiß um die genozidalen Verbrechen Israels an den Palästinensern. Die Sprachlosigkeit der «Leit-» und «Qualitäts»-Medien zu diesen Verbrechen ist empörend, vor allem wenn aus viel weniger schlimmen Situationen in anderen Regionen der Welt sehr viel mehr emotionalisierend und personalisiert berichtet wird. Israel zählt ja zu den «Guten», die deutsche Staatsraison lässt keine Kritik zu. Andernfalls ist man «Antisemit».
Vergleicht man die Opferzahlen in diesem neusten Kapitel eines Jahrzehnte dauernden Konfliktes, kommt man mit eiskalter Arithmetik auf ein Verhältnis von mindestens 1:50. Mit anderen Worten, 1 israelisches ist mindestens 50 palästinensische Opfer wert. Dies sagt alles zum israelischen Rachefeldzug im Gazastreifen, den damit verbundenen Gräueltaten an Zivilisten. Dass dabei auch unschuldige Kinder und Jugendliche gezielt getötet werden, ist die kaum zu überbietende abscheuliche Logik der israelischen Regierung, ein für alle Mal aufzuräumen. Die explizit von ihr ausgesprochenen rassistischen, menschenverachtenden Ziele der Vertreibung und Auslöschung der Palästinenser sind auch im Westen bekannt. Umso unverständlicher ist das nur zögerliche Verurteilen, die fehlende Empathie, die eindimensionale Kontextualisierung des Konfliktes, das immer wieder und wieder verwendete – im wahrsten Sinne des Wortes – Tot-Schlag-Argument «Antisemitismus». Ein Trauerspiel der westlich neoliberalen Welt.
Ganz herzlichen Dank, Herr Gasche, für diesen Artikel. Er ist ein Licht in der medialen Finsternis. Ich bin seit Monaten entsetzt, was Politik und Medien alles verschweigen. Es ist ein politischer Skandal, es ist ein Medienskandal. Menschen, die sich selber vermutlich als aufgeklärt und humanistisch betrachten, die den Holocaust verurteilen und stets auf der richtigen Seite der Geschichte stehen wollen, ignorieren das unglaublich Böse, welchem die Menschen in Gaza seit Monaten ausgesetzt sind. Dieses Böse an sich und die Bösartigkeit, es zu ignorieren und zu verschweigen, machen fassungslos und machen Angst. Man kann Medien wie Infosperber und Menschen wie diesen Ärzten, die so viel Mut beweisen und Herz haben, gar nicht genug danken, für das Licht, das sie in die momentan vorherrschende Finsternis bringen.