Ärzte Unterschriften

45 amerikanische Ärzte berichteten über ihre Erfahrungen in Gaza und unterschrieben einen Appell an Präsident Joe Biden. © zvg

US-Ärzte in Gaza schreiben Biden: «Beenden Sie den Wahnsinn!»

Red. /  45 amerikanische Ärzte und Krankenschwestern waren Augenzeugen. Infosperber veröffentlicht den vollen Wortlaut ihres Appells.

upg. Aus Gaza erreichen den Westen fast nur weichgespülte Informationen von Seiten Israels oder der Hamas. Jetzt liegen besonders glaubwürdige Informationen von Ärzten, Ärztinnen und Krankenschwestern vor. Sie waren alle seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza im Einsatz. Sie haben sich bereits am 25. Juli 2024 an Präsident Joe Biden, Vizepräsidentin Kamala Harris und an die First Lady Jill Biden gewandt. Sie fordern ein Waffenembargo und einen sofortigen Waffenstillstand. Infosperber veröffentlicht den vollen Wortlaut. Zwischentitel von der Redaktion.
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Sehr geehrter Präsident Joseph R. Biden, sehr geehrte Vizepräsidentin Kamala Harris, sehr geehrte Dr. Jill Biden

Wir sind 45 amerikanische Ärzte, Chirurgen und Krankenschwestern, die sich seit dem 7. Oktober 2023 freiwillig im Gazastreifen engagieren. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen und der Weltgesundheitsorganisation WHO haben wir in Spitälern in der gesamten Region geholfen. 

Neben unserer medizinischen und chirurgischen Expertise bringen viele von uns Erfahrungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Arbeit in Krisengebieten mit, einschliesslich der Ukraine während der brutalen russischen Invasion. Einige von uns sind Veteranen der US-Streitkräfte. Wir sind eine multireligiöse und multiethnische Gruppe.

Niemand von uns unterstützt die Gräueltaten, die am 7. Oktober von palästinensischen Gruppen und Einzelpersonen in Israel verübt wurden. Dennoch sehen wir uns in der Verantwortung, unsere Beobachtungen über die katastrophalen menschlichen Verluste im Gazastreifen mitzuteilen – Verluste, die insbesondere Frauen und Kinder betreffen.

Die Verfassung der WHO besagt: «Die Gesundheit aller Völker ist eine wesentliche Voraussetzung für den Frieden und die Sicherheit und hängt von der uneingeschränkten Zusammenarbeit von Individuen und Staaten ab.» In diesem Sinne schreiben wir Ihnen.

«Ich habe in meinem Leben noch nie derart schreckliche Verletzungen in solch einem Ausmass gesehen – und das bei so wenigen Ressourcen. Unsere Bomben töten Tausende Frauen und Kinder. Ihre verstümmelten Körper sind ein grausames Denkmal menschlicher Grausamkeit.» 
Dr. Feroze Sidhwa, Chirurg für Trauma und Intensivmedizin

Erfahrungen aus Gaza

Als eine der wenigen neutralen Beobachtergruppen, die seit dem 7. Oktober Zugang zum Gazastreifen haben, verfügen wir über ein einzigartiges Verständnis der Lage vor Ort. Unsere medizinische und menschliche Expertise in Kombination mit den direkten Erfahrungen, die wir in Gaza gesammelt haben, erlaubt uns, die verheerenden menschlichen Verluste durch die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen zuverlässig einzuschätzen. Besonders besorgniserregend sind die massiven Opferzahlen unter Frauen und Kindern.

Dieser Brief fasst unsere Erfahrungen und Beobachtungen zusammen, die wir in Gaza gemacht haben. Darüber hinaus haben wir einen umfangreichen Anhang bereitgestellt, der öffentlich zugängliche Informationen aus Medien, humanitären Organisationen und akademischen Quellen zur israelischen Invasion in Gaza zusammenfasst.

Zahl der Toten wahrscheinlich über 90’000

Unser Schreiben und der Anhang zeigen, dass die Zahl der Todesopfer in Gaza weitaus höher ist als in den USA angenommen. Wahrscheinlich liegt die Zahl der Toten bereits bei über 92’000 – was rund 4,2 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens ausmacht. (Nicht nur Opfer der kriegerischen Zerstörungen, sondern auch von Seuchen und Unterernährung). Angesichts dieser erschütternden Realität fordern wir unsere Regierung auf, sofort Massnahmen zu ergreifen, um eine noch schlimmere Katastrophe zu verhindern.

Weitverbreitete Unterernährung

Nahezu die gesamte Bevölkerung Gazas ist entweder verletzt, krank oder beides. Dies gilt ebenso für alle lokalen Helfer, die internationalen Freiwilligen und vermutlich auch für die israelischen Geiseln. Während unserer Arbeit in Gaza sahen wir weit verbreitete Unterernährung sowohl bei den Patienten als auch bei unseren palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen. Jeder von uns hat in Gaza dramatisch an Gewicht verloren, obwohl wir privilegierten Zugang zu Lebensmitteln hatten und unsere eigenen Nahrungsergänzungsmittel mitbrachten.

Wir haben Fotobeweise für lebensbedrohliche Mangelernährung insbesondere bei Kindern gesammelt und sind bereit, Ihnen diese zu zeigen. Fast jedes Kind unter fünf Jahren litt an Husten und Durchfall. In fast jedem Krankenhauszimmer fanden wir Fälle von Gelbsucht, was auf eine Hepatitis-A-Infektion hindeutet. Operationswunden infizierten sich aufgrund der Mangelernährung, der schlechten hygienischen Bedingungen und des Mangels an Vorräten und Medikamenten, einschliesslich Antibiotika.

Schwangere Frauen brachten oft untergewichtige Babys zur Welt, die nicht gestillt werden konnten, da die Mütter unterernährt waren. In Gaza gibt es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, sodass viele dieser Säuglinge gestorben sind. Mütter fütterten ihre Babys mit Säuglingsnahrung, die mit verunreinigtem Wasser zubereitet worden war. Die Welt hat diese Frauen und ihre Kinder im Stich gelassen.

Epidemien und katastrophale Zustände

Epidemien breiten sich in Gaza aus. Die wiederholte Vertreibung der Bevölkerung in Gebiete ohne Zugang zu fliessendem Wasser oder sanitären Anlagen ist erschütternd. Es ist nahezu sicher, dass dies zu einer weit verbreiteten Sterblichkeit durch Krankheiten wie Lungenentzündungen und Durchfall führen wird – insbesondere bei Kindern unter fünf Jahren. Tausende sind vermutlich bereits an der tödlichen Kombination aus Krankheit und Unterernährung gestorben. Es ist zu befürchten, dass in den kommenden Monaten Zehntausende weitere sterben werden – vor allem Kinder.

Kinder gelten weltweit als unschuldig im Konflikt. Dennoch haben wir täglich Kinder behandelt, die durch gezielte Schüsse in Kopf oder Brust verletzt wurden.

«Ich habe unzählige Totgeburten und Todesfälle von Müttern erlebt, die vermeidbar gewesen wären, hätten die Krankenhäuser normal arbeiten können.»  
Dr. Thalia Pachiyannakis, Gynäkologin und Geburtshelferin.

Die Hälfte aller medizinischen Einrichtungen sind zerstört

Herr Präsident, Frau Biden, wir wünschen uns, Sie könnten die Albträume sehen, die viele von uns seit unserer Rückkehr heimsuchen: Träume von verstümmelten Kindern, verursacht durch unsere Waffen. Mütter, die uns flehentlich um Hilfe bitten.

Wir können nicht begreifen, dass jemand ein Land weiterhin aufrüstet, das absichtlich Kinder tötet, nachdem wir gesehen haben, was wir gesehen haben.

Schwangere Frauen, die wir behandelten, waren besonders unterernährt. Die Infektionsraten nach Kaiserschnitt waren erschreckend hoch. Frauen wurden ohne Betäubung operiert und erhielten danach lediglich Tylenol, weil keine anderen Schmerzmittel verfügbar waren.

Auch Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Nierenversagen, Bluthochdruck und Diabetes füllten die Notaufnahmen. Intensivstationen waren überfüllt mit Diabetikern, denen der Zugang zu Insulin verwehrt wurde, da medizinische Vorräte ungenügend und die Stromversorgung unzuverlässig waren.

Israel hat mehr als die Hälfte der medizinischen Einrichtungen in Gaza zerstört und etwa jeden vierzigsten Mediziner getötet. Gleichzeitig steigt der Bedarf an medizinischer Versorgung. Grund sind die unaufhörliche militärische Gewalt, Unterernährung und Krankheiten.

Verstösse gegen US-Gesetze und gegen das Völkerrecht

Die Spitäler, in denen wir arbeiteten, waren von nahezu jeglicher Grundversorgung abgeschnitten – es fehlte an allem, von chirurgischem Material bis hin zu Seife. Regelmässig wurde die Strom- und Internetversorgung unterbrochen, und sauberes Wasser stand nicht zur Verfügung. Die Krankenhäuser waren vier- bis siebenmal überbelegt.

Sie waren nicht nur überfüllt mit Vertriebenen, die Zuflucht suchten, sondern auch mit einer stetig wachsenden Zahl an Patienten, deren Behandlung chronischer Krankheiten der Krieg unterbrochen hat. Hinzu kam ein enormer Zustrom schwer verwundeter Menschen sowie schwerkranker und unterernährter Patienten, die dringend medizinische Hilfe benötigten.

Diese Beobachtungen, gestützt durch die im Anhang enthaltenen öffentlich zugänglichen Informationen, lassen uns vermuten, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer dieses Konflikts weitaus höher ist als die vom Gesundheitsministerium des Gazastreifens angegebenen Zahlen. 

Wir sind zudem der Überzeugung, dass diese Situation auf zahlreiche Verstösse gegen amerikanische Gesetze über den Einsatz von Waffen im Ausland sowie gegen das humanitäre Völkerrecht hindeutet. Die grausamen Szenen, die wir miterleben mussten – vor allem gegen Frauen und Kinder – werden uns für immer im Gedächtnis bleiben.

«Im Gazastreifen hielt ich zum ersten Mal das Gehirn eines Babys in meinen Händen. Es war das erste von vielen.» 
Dr. Mark Perlmutter, Orthopäde und Handchirurg

Unterernährtes und traumatisiertes Spitalpersonal

Als wir unsere Kollegen aus dem Gesundheitswesen in Gaza trafen, wurde uns schnell klar, dass sie sowohl körperlich als auch seelisch am Ende ihrer Kräfte waren. Viele von ihnen waren stark unterernährt und psychisch tief traumatisiert. Wie nahezu alle Menschen in Gaza hatten sie Familienmitglieder und ihr Zuhause verloren. Die meisten von ihnen lebten mit ihren überlebenden Angehörigen unter unvorstellbaren Bedingungen in und um die Krankenhäuser. 

Trotz dieser extremen Situation arbeiteten sie weiter unter einem belastenden Dienstplan, obwohl sie seit dem 7. Oktober keine Gehälter mehr erhielten. Es war offensichtlich, dass sie durch ihre Arbeit im Gesundheitswesen gezielt ins Visier genommen wurden. Dies untergräbt den Schutzstatus von Krankenhäusern und medizinischem Personal, der nach den ältesten und weltweit anerkannten Grundsätzen des humanitären Völkerrechts gewährt werden sollte, und macht diesen Schutz zur Farce.

Wir trafen auch medizinisches Personal, das in Spitälern gearbeitet hatte, die von Israel angegriffen und zerstört wurden. Viele dieser Kollegen wurden während der Angriffe gefangen genommen. Sie berichteten uns alle von ähnlichen Erlebnissen: In Gefangenschaft wurden sie kaum ernährt, körperlich und seelisch misshandelt und schliesslich nackt am Strassenrand ausgesetzt. Viele erzählten uns, dass sie Scheinhinrichtungen und anderen Formen der Folter ausgesetzt waren. Viel zu viele unserer Kollegen sagten uns, dass sie einfach nur noch auf den Tod warteten.

Bitte nehmen Sie dringend zur Kenntnis, dass Israel das gesamte Gesundheitssystem des Gazastreifens systematisch ins Visier genommen und vorsätzlich zerstört hat. Zudem hat Israel unsere Kollegen in Gaza gezielt dem Tod, dem Verschwinden und der Folter ausgesetzt. Diese grausamen Handlungen stehen in direktem Widerspruch zu amerikanischem Recht, den Werten unserer Nation und dem humanitären Völkerrecht.

Jill Biden, Sie haben Ihr Leben der Arbeit mit jungen Menschen gewidmet. Wir hoffen und beten, dass Sie die unaussprechlichen Schrecken, denen die Jugend von Gaza heute ausgesetzt ist, nicht übersehen. Schrecken, die nur wir Amerikaner beenden können.

Wir vertrauen darauf, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, um dieses unsägliche Leid zu beenden.

Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris, für jede Lösung dieses Konflikts muss zuerst die militärische, wirtschaftliche und diplomatische Unterstützung für den Staat Israel beendet werden. Zudem muss ein internationales Waffenembargo sowohl gegen Israel als auch gegen alle bewaffneten palästinensischen Gruppen verhängt werden, bis ein dauerhafter Waffenstillstand erreicht und Verhandlungen in gutem Glauben zwischen Israel und den Palästinensern eine dauerhafte Lösung des Konflikts ermöglichen.

In der Zwischenzeit fordern wir Folgendes:

1. Öffnung der Grenzübergänge:
Alle Landübergänge zwischen Gaza und Israel sowie der Grenzübergang Rafah müssen für die ungehinderte Lieferung humanitärer Hilfsgüter durch international anerkannte humanitäre Organisationen geöffnet werden. Die Sicherheitsüberprüfung dieser Lieferungen darf nicht durch die israelischen Streitkräfte erfolgen, sondern muss von einem unabhängigen internationalen Inspektionssystem durchgeführt werden. Diese Inspektionen sollten auf einer klaren, öffentlich zugänglichen Liste verbotener Güter basieren. Diese Verbote müssen unabhängig angefochten werden können, beispielsweise vom Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten im besetzten palästinensischen Gebiet.

2. Wasserversorgung:
Die Bevölkerung von Gaza muss mit einer Mindestmenge von 20 Litern Trinkwasser pro Person und Tag versorgt werden.

3. Zugang für medizinisches Fachpersonal: 
Medizinisches und chirurgisches Fachpersonal sowie notwendige Ausrüstung müssen ungehinderten Zugang zum Gazastreifen erhalten. Dies umfasst auch Gegenstände, die medizinisches Personal im persönlichen Gepäck mitführt, um deren ordnungsgemässe Lagerung, Sterilität und rechtzeitige Bereitstellung zu gewährleisten. 

Es ist erschütternd, dass Israel derzeit allen ausländischen Ärzten palästinensischer Abstammung die Arbeit in Gaza verweigert – selbst amerikanischen Staatsbürgern. Dies macht das amerikanische Ideal, dass «alle Menschen gleich geschaffen sind», zur Farce. Es schädigt sowohl unser nationales Ansehen als auch unseren Berufsstand. 

Unsere Arbeit rettet Leben. Unsere palästinensischen Kollegen im Gesundheitswesen in Gaza sehnen sich verzweifelt nach Unterstützung und Schutz – und sie verdienen beides.

Wir sind keine Politiker. Wir behaupten nicht, alle Antworten zu haben. Aber wir sind Ärzte und Krankenschwestern, die nicht länger schweigen können angesichts dessen, was wir in Gaza gesehen haben. Jeder weitere Tag, an dem wir Waffen und Munition an Israel liefern, bedeutet einen weiteren Tag, an dem Frauen durch unsere Bomben zerfetzt und Kinder durch unsere Kugeln getötet werden.

Präsident Biden, Vizepräsidentin Harris, wir fordern Sie auf: Beenden Sie diesen Wahnsinn jetzt!

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Englische Originalvesion hier. Übersetzung von Infosperber. Mitarbeit Deepl und ChatGPT.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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