Medien ist es egal: Hunderte Migranten hätte man retten können
Trotz des höchstwahrscheinlich vermeidbaren Unglücks mit über 500 toten Migrantinnen und Migranten vor der griechischen Küste recherchierten Medien in der Schweiz und in Deutschland nicht, welches die Ursachen und die Verantwortlichen waren. Dafür berichteten sie umfangreich über Hintergründe des U-Boot-Unfalls mit den fünf verunglückten Milliardären an Bord.
Fast nur online informierten unsere grossen Medien einzig darüber, dass die Grenzschutzagentur Frontex kritisierte, dass die «griechischen Behörden trotz Aufforderung keine zusätzliche Luftunterstützung gewährten».
Anders als europäische Medien beauftragte die «New York Times» ein ganzes Recherche-Team, um die Verantwortlichen des Bootunglücks ausfindig zu machen. Unter dem Titel «Das Schiff, das die Welt nicht wollte – Griechische Regierung schickt ein Polizeiboot der Küstenwache statt Rettungskräfte» entlarvte die Zeitung zuerst am 1. Juli und ergänzt am 3. Juli Angaben griechischer Behörden als Ausreden und Lügen.
Über diese NYT-Recherche informierte von den grossen Medien in Europa erst heute, am 6. Juli, die NZZ ausführlich.
Fazit der NYT: Die meisten Toten hätten gerettet werden können
Hier die wichtigsten der recherchierten Fakten:
- Die Schlepper kassierten von den 750 auf dem Boot zusammengepferchten Migrantinnen und Migranten insgesamt 3,5 Millionen Dollar. Abgemachtes Ziel war Italien. Schon am zweiten Tag, so erinnerten sich Überlebende, machte der Motor Probleme.
- Niemand an Bord trug eine Rettungsweste.
- Die griechischen Behörden behaupteten, das Boot sei weiter normal in Richtung nach Italien gefahren, weshalb sie nicht eingeschritten seien. Doch Satellitenbilder, welche die NYT beschaffen konnte, zeigen eindeutig, dass das Boot mit einem Motorschaden in den letzten sechseinhalb Stunden vor dem Kentern eine unkontrollierte Schleife rückwärts zog.
- Die griechischen Behörden zitieren nur den 22-jährigen Ägypter, der das Boot steuerte und angab, die Fahrt in Richtung Italien fortsetzen zu wollen. Es entsprach seinen persönlichen Interessen. Denn die Schlepper zahlen Kapitäne meist erst im Nachhinein und nur, wenn sie ihr Ziel erreichen. Ein Helikopter der griechischen Küstenwache überflog das Boot und sah um Hilfe rufende Migranten.
- Die Küstenwache bat zwei vorbeifahrende Schiffe, das Migrantenboot mit Wasser, Nahrung und Benzin zu versorgen. Eines der Frachtschiffe meldete dem griechischen Kontrollzentrum, dass das Boot «bedrohlich schaukelt». Die griechischen Behörden sandten keine Hilfe.
- Etwa drei Stunden, bevor das Migrantenboot kenterte, näherte sich ein kleines Polizeiboot der griechischen Küstenwache, nahm aber keine Migranten auf. Die maskierten Männer des Polizeiboots verursachten noch mehr Angst, nachdem auf dem Migrantenboot bereits Panik ausgebrochen war. Wenige Überlebende berichteten als Zeugen, wobei ihnen die griechischen Behörden die Handys als Beweismittel konfiszierten.
- Nach dem Untergang des Bootes konnte eine Luxusjacht, die sich in der Nähe befand, etwa hundert Überlebende aus dem Wasser retten.
Die «New York Times» kommt zum Schluss:
«Griechenland als eine der führenden Seefahrernationen der Welt war in der Lage, eine Rettungsaktion durchzuführen. In den 13 Stunden nach dem Frontex-Alarm hätten Marineschiffe, einschliesslich solche mit medizinischer Ausrüstung, vor Ort sein können.»
Weder von der EU noch von Regierungen der EU-Staaten war ein lautstarker Protest zu hören.
Den genauen Zeitablauf hat die NYT zusammengestellt und hier beschrieben (Link).
Schlepper verdienen Millionen mit verzweifelten Menschen voller Hoffnung
Insgesamt zahlten die rund 750 Migranten durchschnittlich je 4660 Dollar oder insgesamt rund 3,5 Millionen Dollar, um nach Italien geschleust zu werden. Sie wurden auf dem Kutter Adriana in einem Klassensystem zusammengepfercht: Pakistaner am unteren Ende, Frauen und Kinder in der Mitte und Syrer, Palästinenser und Ägypter oben.
Für etwa 50 Dollar mehr konnte man sich einen Platz an Deck sichern. Für einige war das der Unterschied zwischen Leben und Tod.
Mindestens 350 der Passagiere kamen nach Angaben der pakistanischen Regierung aus Pakistan. Die meisten befanden sich in den unteren Decks und im Laderaum des Schiffes. Von ihnen überlebten nur zwölf.
Die Frauen und kleinen Kinder gingen mit dem Schiff unter.
Der 17-jährige Teenager Kamiran Ahmad war mit der Hoffnung auf ein neues Leben in Tobruk, Libyen, per Flugzeug angekommen. Seine Eltern in Syrien verkauften Land, um Schmuggler zu bezahlen. Sie beteten, dass Kamiran es nach Deutschland schaffen würde, um zu studieren, zu arbeiten und vielleicht etwas Geld nach Hause zu schicken.
Doch als die Adriana im Morgengrauen des 9. Juni in See stach, war Kamiran besorgt. Sein Cousin Roghaayan Adil Ehmed, 24, der ihn begleitete, konnte nicht schwimmen. Und das Boot war mit fast doppelt so vielen Passagieren überfüllt, wie ihm gesagt worden war.
Da es keine Schwimmwesten gab, zahlte Roghaayan zusätzliche 600 Dollar, um sich selbst, Kamiran und einen Freund auf ein Oberdeck zu bringen.
Sie gehörten zu einer Gruppe von elf jungen Männern und Jungen aus Kobani, einer mehrheitlich kurdischen Stadt in Syrien, die von einem mehr als zehnjährigen Krieg verwüstet wurde. Die Gruppe wohnte in schäbigen, gemieteten Zimmern in Beirut, Libanon, und flog dann nach Ägypten und weiter nach Libyen.
Der Jüngste, Waleed Mohammad Qasem, 14, wollte Arzt werden. Als er hörte, dass sein Onkel Mohammad Fawzi Sheikhi nach Europa gehen würde, bettelte er darum, mitkommen zu dürfen. Auf dem Flug nach Ägypten lächelten die beiden für ein Selfie. Sie haben die Fahrt nicht überlebt.
Unruhen breiteten sich aus, als klar wurde, dass der Kapitän, der die meiste Zeit mit einem Satellitentelefon verbrachte, sich verfahren hatte.
Als die Pakistaner auf das Oberdeck drängten, schlugen ägyptische Männer, die mit dem Kapitän zusammenarbeiteten, laut Zeugenaussagen auf sie ein. Es kam zu Tumulten.
Überlebende der Adriana sagten in eidesstattlichen Erklärungen aus, dass etliche der neun Crewmitglieder die Passagiere brutal behandelt und erpresst haben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Insgesamt könnte man so viele Menschenleben retten wenn man nur wollte!
Aber was ist schon gewollt, so wie in sinnlosen Kriegen Menschensterben und in Gebieten mit Hungersnot nichts getan wird, stehen in so gut wie allen Fällen wirtschaftliche Gründe im Vordergrund.
Womit sich kein Geld verdienen lässt, womöglich sogar was kostet, nimmt man lieber Abstand.
Rettung muss man sich halt leisten können, so der Eindruck der entsteht…
Ist die NYT auch so sorgfältig, wenn es um tote Flüchtlinge an der mexikanischen Grenze geht? Oder kritisiert gar, die australische Flüchtlingspolitik. Aber trotzdem nett, dass sich die Amerikaner um «unsere» Flüchtlinge sorgen, die sie ja auch, in gewisser Weise mitgeschaffen haben. Auch wenn sie nicht dafür bezahlen müssen. Und das unsere Medien davon ablenken, ist nicht mehr verwunderlich, weil sie das in vielen Bereichen mittlerweile so machen…… müssen.
Sehr geehrter Herr Gasche
Die eigentliche Tragödie ist nach welchen Prioritäten Medienschaffende berichten und welchen Beitrag sie leisten, dass es gar nicht zu diesen Tragödien kommt.
Hängen geblieben ist bei mir der Spruch von Loriot: «Idioten suchen Schuldige, Intelligente Lösungen».
Wir wissen längst, dass einer der Hauptursachen solcher Tragödien das «klaufen» (Wortschöpfung aus klauen und kaufen) von Ressourcen (Wasser, Energie usw.) ist.
Seit Monaten weisen wir darauf hin, dass es ein völliger Wahnsinn ist, dass Deutschland, Frankreich, Schweiz, Italien alle glauben, sie könnten sich Strom beschaffen im Nachbarland bei grosser Kälte.
Viele meiner Bekannten sagen, es braucht ein Blackout, ohne sich bewusst zu sein, dass eine lang andauernde Strommangelage zu Tausenden von Toten führt.
Es genügt offensichtlich nicht, dass Ressourcenmangel viele in den Tod treibt. Wir müssen es wohl selbst erleben, bis wir zur Vernunft kommen.
Es ist ein widerliches Spiel zwischen Schleppern und den europäischen Staaten: Schlepper kassieren und schicken Menschen auf Seelenverkäufern los, natürlich rechnen sie mit deren Rettung und Versorgung durch die lokale Marine und durch NGO-Schiffe. Die euroäischen Staaten zögern hier und da eine Rettung bis aufs äußerste hinaus – die Botschaft richtet sich gegen die Flüchtlinge: Vertraut ihr euch solchen Schiffen an, werdet ihr ertrinken. Bleibt zuhause, wenn euch euer Leben lieb ist. Ich unterstelle, dass auch den Flüchtlingen die Gefährlichkeit der Passage wohlbekannt ist und das Risiko trotzdem in Kauf genommen wird. Hier ist neben der unterlassenen Hilfeleistung der Küstenwache leider auch die Frage zu klären, ob die Eltern der beiden jungen Männer auf dem Foto wussten, dass für diese Gefahr besteht, im Mittelmeer zu ertrinken und alle dieses Risiko bewußt eingegangen sind.
Mit diesem Geld hätten die Migranten sogar weiter als Europa fliegen können, wenn man ihnen ein Visum ausgestellt hätte… und dieses hätten sie verdient! Aber eben, wie Gewisse sagen, «es sind die Falschen», die zu uns kommen. Eine Schande für Europa!
Die menschenverachtende Unsitte, stösst mir schon lange auf: die Eltern schicken ihre minderjährigen Kinder als «elternlose Flüchtlinge» nach Europa, da diese sogleich Asyl erhalten. Kaum haben die Waisenkinder Asyl erhalten, erfolgt der Familiennachzug.Die Rabeneltern: «Der 17-jährige Teenager Kamiran Ahmad war mit der Hoffnung auf ein neues Leben in Tobruk, Libyen, per Flugzeug angekommen. Seine Eltern in Syrien verkauften Land, um Schmuggler zu bezahlen.»
NB: In Europa gibt es viele, die sich weder einen Flug von Pakitstan nach Libyen noch ein Smartphone leisten können.
@Hrn. Herzog: Die «Reisen» der Jugendlichen nach Europa sind alles andere als schön. Fragen Sie solche Jugendliche doch einmal nach ihren Erlebnissen auf dem Weg hierher. Dass Eltern in einem vom Krieg gebeutelten Land ihre Kinder nach Europa schicken, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, ist doch völlig verständlich. Ebenso nachvollziehbar ist, dass Familien zusammen sein möchten, umso mehr, wenn die Kinder noch in einer Lebensphase sind, in der sie ihre Eltern – die notabene in einem Kriegsgebiet zurückbleiben – brauchen.