«Kapitalismus und Internet werden Chinas Volk nicht befreien»
Chinas Kommunistische Partei habe schon in der Vergangenheit Massenkampagnen dazu verwendet, um das Volk hinter sich zu scharen. Das schreibt Ai Weiwei in einem Gastkommentar der New York Times. Er war in China inhaftiert und lebt heute im Westen.
Der «Grosse Sprung nach vorn», eine 1958 begonnene Kampagne zur Erneuerung der Industrie, löste eine verheerende Hungersnot aus. Eine nächste Kampagne waren die «politischen Hexenjagden der Kulturrevolution von 1966–76», die China fast zerrissen habe. Es folgten noch andere Massenkampagnen, «eine schädlicher als die andere». Ai Weiwei sieht darin «eine nahezu perfekte Symbiose zwischen diktatorischer Regierung und unterwürfiger Bevölkerung».
Die Null-Covid-Kampagne
Eine der schlimmsten Kampagnen sei die fast drei Jahre alte Null-Covid-Kampagne. Sie sei «ein Affront gegen die Wissenschaft und den gesunden Menschenverstand». Und doch würden Beamte und Bürger im ganzen Land lächerliche Massnahmen befolgen. Ganze Städte würden selbst bei kleinen Ausbrüchen geschlossen, und Coronavirus-Tests und Desinfektionen würden an Fisch und anderen Lebensmitteln, Autos und sogar Baumaterialien durchgeführt: «Das führte zu Chaos und Leid für die Menschen in China, die wiederholt eingesperrt und wegen fehlender Coronavirus-Tests inhaftiert wurden und ihren Arbeitsplatz oder ihr Geschäft verloren. Als Chengdu, eine Stadt mit 21 Millionen Einwohnern, im September abgeriegelt wurde, durften die Bewohner selbst bei einem Erdbeben ihre Wohnungen nicht verlassen.»
Diese neuste Kampagne der Massenkontrolle sei noch gefährlicher als die früheren, schreibt Ai Weiwei, weil landesweit eine Überwachungstechnologie eingeführt wurde, um Covid zu unterdrücken. Die Kampagne ermögliche es den Behörden, die Bürgerinnen und Bürger zu verfolgen und ihre Bewegungsfreiheit einzuschränken.
Regierungsbeamte hätten dieses System dazu missbraucht, um die Bewegungsfreiheit von Menschen einzuschränken, die im Juni an einer Demonstration in Zentralchina teilnehmen wollten. Diese Beamten seien später zwar bestraft worden, aber es bleibe die Tatsache, dass die Regierung nun über ein System verfügt, von dem Mao Zedong nur träumen konnte, und das auf Daten und Algorithmen basiert, um die Bevölkerung zu überwachen und zu kontrollieren.
China ist und war seit 2‘000 Jahren ein zentralistischer Staat
China sei die meiste Zeit der letzten 2‘000 Jahre ein weitgehend geeinter, zentralisierter Staat gewesen. Eine entsprechende Ethik und ein ähnliches Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten seien tief verwurzelt. Von Chinas niederem Volk werde Gehorsam erwartet.
Ai Weiwei: «Als die Kommunistische Partei 1949 die Staatsmacht an sich riss, flackerte kurz die Hoffnung auf eine neue Ära auf. Mein Vater Ai Qing, damals einer der führenden Dichter Chinas, war mit Begeisterung der Partei beigetreten. Doch Mao nutzte die alte Machtdynamik Chinas geschickt aus und machte die Partei zum neuen unangefochtenen Herrscher.»
Wie viele Intellektuelle sei auch Weiweis Vater bald unter Beschuss gekommen, als Mao immer wieder politische Kampagnen startete, um alle loszuwerden, die es wagten, unabhängig zu denken. Das geistige, intellektuelle und kulturelle Leben Chinas sei verkümmert.
In den letzten zehn Jahren habe sich die Lage verschlimmert. Die Behörden hätten die letzten Reste unabhängigen Denkens unterdrückt, die chinesische Zivilgesellschaft dezimiert und Wissenschaft, Medien, Kultur und Wirtschaft gegängelt.
«Dem Westen geht es in erster Linie um Profit»
Fairerweise müsse man sagen, dass individuelle Gedanken und Meinungsäusserungen auch in westlichen Demokratien eingeschränkt würden: «Die politische Korrektheit zwingt die Menschen, das, was sie wirklich glauben, für sich zu behalten und leere Slogans nachzuplappern, um den vorherrschenden Narrativen zu entsprechen.»
Und das Engagement des Westens in China sei «nicht von den proklamierten Werten bestimmt, sondern eher vom Profitstreben». Westliche Staats- und Regierungschefs würden Verstösse der Kommunistischen Partei gegen die Menschenrechte, die Redefreiheit und die geistige Freiheit kritisieren, machten aber seit langem Geschäfte mit Peking: «Die Heuchelei der USA in Bezug auf unabhängiges Denken zeigt sich im Umgang mit dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange, der für die Informationsfreiheit eintritt, aber von der US-Regierung verfolgt wird.»
Stolz auf den erreichten Wohlstand
Millionen von Chinesen seien stolz auf den wachsenden Reichtum und die Macht des modernen China. Dieses Gefühl des Wohlstands werde verstärkt und geschürt durch ständige Propaganda über den Niedergang des Westens.
Freiheit setze Mut und eine nachhaltige Risikobereitschaft voraus, schreibt Weiwei. Doch die grosse Mehrheit der chinesischen Bevölkerung habe das Gefühl, dass Widerstand unmöglich sei, und dass das persönliche Überleben vom Einhalten der Vorschriften abhänge. Die Menschen seien auf eine ängstliche Unterwürfigkeit reduziert, warteten wie Schafe in langen Schlangen auf ihre Coronavirus-Tests oder drängelten sich vor Lebensmittelgeschäften, bevor diese abgeriegelt würden.
Weiwei schliesst seinen Gastbeitrag mit der Einschätzung ab: «Freiheit und Individualität können niemals vollständig unterdrückt werden. Kein Land, egal wie stark es erscheint, kann ohne Meinungsvielfalt wirklich gedeihen. Aber solange die Kommunistische Partei an der Macht ist, gibt es keine Hoffnung auf grundlegende Veränderungen in meinem Land.»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Ai ist Künstler und Autor, der von der chinesischen Regierung inhaftiert wurde. Er lebt seit einigen Jahren im Westen.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Ich hatte des öftern die Frage zu beantworten, ob ich als Missionar — Wahrheitsträger einer etablierten Wertegemeinschaft — oder als Partner auf Augenhöhe agieren sollte. Ich habe mich immer für die zweite Antwort entschieden, im Glauben an das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Sozialgruppen.
In der heutigen globalisierten Welt ist der Respekt anderer Weltanschauungen weitgehend verschwunden. Zurück ist aber der missionarische Eifer der früheren Kolonialherren.
Ich gebe zu von China nicht viel zu verstehen. Aber aus der Geschichte habe ich gelernt, dass das Reich der Mitte von diversen Kolonialmächten extrem verunglimpft wurde und dass die zögerliche Haltung gegenüber «westlichen Werten» mehr als begründet ist.
Es wäre wohl für die weitere Geschichte von Vorteil, wenn auch unsere «Wertevetreter» etwas mehr Bescheidenheit und Offenheit für andere Kulturkreise zeigen könnten.
Statt mit Russland zusammenzuarbeiten, wie Putin das wollte (Rede vor dem deutschen Bundestag), wurde Russland – unter der Fuchtel der USA – vom «Westen» gedemütigt. Dies wohl weil die USA das Zusammengehen der EU und Russland als Machtkonkurrenz nicht wollten. Ich denke, dass das aber heute als Gegengewicht zu China gut wäre. China ist nach meinem Empfinden gefährlicher als Russland!
Was momentan geschieht ist unverständlich, auf allen Seiten unvernünftig, einfach unerträglich kafkaesk!