Albero dei pensieri

Der «Baum des Gedenkens» am Strand von San Ferdinando erinnert an ertrunkene und ermordete Flüchtlinge © Walter Aeschimann

Gleich hinter dem Badestrand beginnt die Hölle

Walter Aeschimann /  Nirgends in Italien ist das Elend so bedrückend wie im Umland von Gioia Tauro, wo Jugendliche Hetzjagd auf Migranten machen.

Der Mann schlägt mit den Fäusten auf ein Blech, sagt verwirrende Sachen über Afrika, über Italien und fragt nach etwas Brot. Die Worte sind auch Hilferufe gegen Kälte, Einsamkeit, gegen die eigene Verzweiflung, die Täuschungen und die nicht eingehaltenen Versprechen. Wir hören ihm geduldig zu, als wir durch das Ghetto in San Ferdinando laufen. Er wird uns stets begleiten. Wir sehen Menschen, die wie Schatten schweigend vor den Zelten sitzen, andere verschwinden augenblicklich, als sie uns kommen sehen, oder schauen uns verächtlich an, als ob sie sagen möchten: «Was wollt ihr hier? Uns wie Tiere im Zoo betrachten? In einer Stunde seid ihr wieder weg und geht im klimatisierten Restaurant eine Pizza essen.» Wir sehen die Zelte, die löchrig sind vom Funkenflug der offenen Feuer jeden Abend. Es gibt keine Infrastruktur im Ghetto.

2 Ghetto
Im Zelt-Ghetto «Tendopoli» am Rand des Touristenortes San Ferdinando «leben», je nach Saison, zwischen 300 und 500 Menschen

Vergleiche wirken hilflos. Aber gäbe es eine Steigerung des Leids, dann wäre es hier. Es ist so bedrückend, dass man gleich wieder gehen möchte. Die Begegnung sei nötig, um nachhaltig zu begreifen, was unser Wohlstand auch angerichtet hat, rede ich mir ein.

Die Solidarreise führt uns in die Ebene zwischen Gioia Tauro und Rosarno, weit im Süden am Tyrrhenischen Meer. Auf der Autobahn A2 sind es 50 Kilometer bis Reggio di Calabria.

Gioia Taura: Von der Mafia unterwandert

Gioia Tauro ist der grösste Containerhafen Italiens. Die italienische Polizei vermutet, dass es der grösste Umschlagplatz für Kokain in Europa ist, andere sagen, der grösste auf der Welt – auf jeden Fall von der Mafia unterwandert. Hier soll die Mafia auch Waffen illegal verschieben und Giftmüll sortieren, den sie heimlich entsorgt. Das fünfzehn Kilometer entfernte Rosarno ist ein kleines Städtchen. Leicht erhöht liegt die sehenswerte Altstadt, bei deren touristischer Verehrung man nicht ahnen würde, dass hier die mächtigsten Familien der ’Ndrangheta, der kalabrischen Form der Mafia, wohnhaft sind. Sie kontrollieren auch die Lebensmittelproduktion und koordinieren den «Menschenhandel» mit migrantischen Feldarbeitern. Hier wird nach gleichen Regeln wie in der Ebene von Foggia Landwirtschaft betrieben. Migrantische Feldarbeiter ernten Mandarinen, Orangen und Zitronen für einen Hungerlohn und verbringen ihre Abende ausserhalb der Zivilisation in notdürftig zusammengebebastelten Unterkünften.

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Notdürftig zusammengebastelte Behausungen der migrantischen Feldarbeiter

Einheimische jagen Migranten mit Eisenstangen und Gewehren

Dieses Geschäftsmodell betrieb die Mafia jahrelang mit diskreter Brutalität. Bis Rosarno am 7. Januar 2010 in die Schlagzeilen der Weltpresse kam. Ayiva Saibou war auf dem Weg zurück von der Plantage ins Ghetto. Jugendliche, darunter der Sohn eines ‹Ndrangheta-Oberhaupts, schossen mit Luftgewehren auf den migrantischen Saisonarbeiter aus Afrika. Als sich die Nachricht verbreitete, versammelten sich hunderte von afrikanischen Menschen, um gegen dieses Verbrechen zu protestieren, und hielten einen Sitzstreik im Zentrum von Rosarno ab. Die Kundgebung eskalierte. Einheimische, ausgerüstet mit Eisenstangen, bewaffnet mit Jagdgewehren, verfolgten bis in die Nacht des nächsten Tages dunkelhäutige Menschen. Es gab über siebzig teilweise schwer Verletzte, die grosse Mehrzahl davon Afrikaner. Die Behörden stellten «institutionelle» Zeltstädte hin, im Nirgendwo, um die migrantischen Arbeiter sozial und geografisch zu isolieren, damit sie an den Abenden aus Rosarno verschwanden, weg von «normalen» Menschen.

Ricci
Gianantonio Ricci: Versteht seinen Einsatz für die Migranten als «konkrete Antwort auf die Politik der Verfolgung, der Ausgrenzung und Kriminalisierung»

Am Bahnhof in Rosarno treffen wir Gianantonio Ricci und Jacob Atta. Ricci war 40 Jahre in Nicaragua als Agrarberater tätig und arbeitet jetzt als landwirtschaftlicher Berater für die italienische Fair-Trade-Organisation ChicoMendes. Atta arbeitete früher auf den Feldern, ist IT-Experte, gibt Computerkurse für migrantische Arbeiter im Auftrag verschiedener NGOs und unterstützt Ricci bei seiner Tätigkeit. Sie fahren mit uns an den Rand des Containerhafens, wo die «institutionelle» Zeltstadt (Tendopoli) von San Ferdinando liegt. San Ferdinando ist eine beliebte Feriendestination direkt am Meer mit einem fantastisch schönen Strand. Unweit von hier sind die bekanntesten Badeorte Kalabriens: Scilla, Palmi und Tropea. Im Ghetto «leben», je nach Saison, zwischen 300 und 500 Menschen. Die Stimmung ist weit angespannter, feindlicher als in Borgo Mezzanone. Man merkt die unterschwellige Gewalt, auch gegen uns. «Die Situation ist unberechenbar. Sie kann jederzeit in reale Gewalt kippen», sagt Atta. Ricci und Atta akzeptieren sie, die Fremden nicht. Wir laufen wortlos durch das Ghetto. Es gibt kein asphaltiertes Terrain, wenn der Regen schauerartig fällt, ist hier Schlamm.

Jacob Atta
Jacob Atta: «Die Situation ist unberechenbar. Sie kann jederzeit in reale Gewalt kippen»

In Rosarno und Umgebung scheint gut 13 Jahre nach der Revolte alles wie bisher, unveränderlich. Der Staat errichtet Zelte und zieht sich zurück. Am 27. Januar 2018 ist das Ghetto völlig abgebrannt. Das Innenministerium stellte notfallmässig wieder neue Unterstände auf. Matteo Salvini war am 10. Juli 2018 sogar hier und hat die Arbeit medienwirksam inspiziert. Der damalige Ministerpräsident Italiens versprach Unterstützung, es folgte Vernachlässigung. Bei unserem Besuch Ende März 2024 waren die Sanitärcontainer nicht intakt, die Kanalisation war hoffnungslos verstopft. Aus Wut darüber haben migrantische Feldarbeiter einige Container teils beschädigt oder ganz zertrümmert. NGOs leisten eine minimale Gesundheitspflege und Rechtsberatung im Asylverfahren. Sonst kümmert sich niemand um die Menschen, Polizei und Feuerwehr wurden abgezogen.

Sie sterben an Krankheiten, werden erschossen oder überfahren

Die Ausgebeuteten fallen auf, wenn sie an den Orten der Ausbeutung sterben. Sie sterben, krank und verlassen, weil sie zu arm sind, um einen Arzt aufzusuchen, und zu allein, um Hilfe einzufordern. Oder sie werden ermordet. Soumalia Sacko suchte am 2. Juni 2018 in Calogera, unweit von hier, in einer alten Fabrik Bleche, um seine Hütte im Lager von San Fernando einzukleiden. Er war nicht nur ein ausgebeuteter Arbeiter aus Mali, sondern ein junger Gewerkschafter und Aktivist für die Rechte der Arbeiter. Ein Rechtsnationalist der Bürgerwehr hat ihn mit Gewehrsalven ermordet, weil er angeblich Eigentum gestohlen habe. Auch seine Begleiter Drame und Fofana, ebenfalls Gewerkschaftsaktivisten und migrantischer Feldarbeiter, wurden ermordet. Dann starb ein Junge auf dem Feld. Zuerst dachte man, es sei ein Arbeitsunfall gewesen. Aber es schien, dass er an Tuberkulose gestorben war.

Die Menschen sterben an der Vergiftung durch Kohlenmonoxid oder weil nachts eine Hütte brennt. Sie sterben bei der nächtlichen Rückkehr von den Feldern, weil sie von einem Auto überfahren werden, auf Fahrrädern, die kein Licht haben, auf schmalen Strassen, die stockdunkel sind. Luci su Rosarno (Licht auf Rosarno) heisst ein Projekt, das migrantischen Feldarbeitern gelbe Westen verteilt, damit sie in der Nacht auf ihren Fahrrädern sichtbarer sind. Im übertragenen Sinn will das Projekt auch die unerträgliche Situation «beleuchten».

In kleinen Schritten gegen das Elend ankämpfen

Vor drei Jahren hat Ricci das Programm «Spartakus» begonnen. Es funktioniert wie der Verein NO CAP (siehe Infosperber vom 22.4.2024), mit dem er eng zusammenarbeitet. Er holt Feldarbeiter aus den Ghettos und verschafft ihnen gerechtere Arbeitsbedingungen und eine menschenwürdigere Unterkunft. Er baut ein Netzwerk von ethisch orientieren Unternehmen auf, die diese Menschen beschäftigen. Zugleich muss er den Unternehmen ermöglichen, ihre Produkte zu einem fairen und nachhaltigen Preis zu verkaufen. Vereine wie SOS Rosarno und Mani e Terra helfen mit, eine Direktvermarktung der Produkte aufzubauen, auch in der Schweiz. «Dies ist kein einfaches Unterfangen. Aber es lohnt sich, darauf zu setzen, weil es eine klare und konkrete Antwort auf die Politik der Verfolgung von Migranten, der Ausgrenzung und Kriminalisierung ist», sagt Ricci. Eine breite Dächlikappe verdeckt ein wenig sein Gesicht, das ernst, aber nicht mutlos wirkt. Die Unterdrückung wird nicht aufhören. Aber wir haben keine andere Wahl, als in kleinen Schritten dagegen anzukämpfen, scheint es auszudrücken.

Casa della dignita
Casa della dignità: Das «Haus der Würde» bietet migrantischen Flüchtlingen eine Unterkunft – ausserhalb des Zelt-Ghettos von San Ferdinando

In das NGO-Netzwerk ist auch das «casa della dignità», das Haus der Würde, integriert. Wir treffen Francesco Piobbichi, den Betreiber des Hauses. Es ist ein Projekt von Mediterranean Hope (MH), dies wiederum ein Programm für Geflüchtete und Migranten vom Bund Evangelischer Kirchen in Italien (FCEI). Das Wohnhaus befindet sich in San Ferdinando, 50 Meter vom öffentlichen Strand entfernt. Es beherbergt bei unserem Besuch rund 35 Menschen, es könnten 90 sein, die Saison ist vorbei. Die Migranten zahlen für ein Zimmer eine geringe Miete und erhalten eine Meldeadresse, mit der sie sich um eine Aufenthaltserlaubnis bemühen können. «Sie sind auch Teil einer Gemeinschaft und dem brutalen Regime in den Slums entzogen», sagt Piobbichi, der einen vollweissen Bart sowie einen schweren Kapuzenpulli trägt und sich als «Sozial-Aktivist» bezeichnet.

Francesco Piobbichi Foto Walter Aeschimann
«Sozial-Aktivist» Francesco Piobbichi: «Nirgends in Italien ist die Gewalt so gross, wie hier»

Das «brutale Regime» sind nicht nur die Caporalis, die migrantische Erntearbeiter rekrutieren und an die Landwirtschaftsbetriebe vermitteln. Das Elend sei der «schleichende Prozess der Entmenschlichung», verursacht durch die Ignoranz die Regierung, die Macht der Konzerne, unser Konsumverhalten, den Rassismus, die Mafia. Gegen diese grossen Themen kämpft er seit Jahren an. Er hat die ersten Streiks in Apulien organisiert und begriffen, «wie rassistisch die Polizei hier ist». Er war fünf Jahre in Lampedusa und hat dort auch migrantische Flüchtlinge aus dem Meer gerettet. Er erzählt davon emotional und doch abgeklärt, wie jemand, der schon einiges Leid gesehen hat: «Wir waren auf dem Schlauchboot. Ein Helfer hat den halb toten Menschen aus dem Meer geholt und ihn mir gereicht. Ich habe ihn auf dem Boot so hingesetzt, dass möglichst viele Platz darin haben». Um seine Erlebnisse zu verarbeiten und als «kommunikatives Element» zeichnet er eindrückliche Bilder über das Schicksal von Migranten, damit ihre Geschichten nicht verloren gehen.

Die Liste der Verstorbenen und Ermordeten ist drei Seiten lang

Piobbichi überlegt sich manchmal schon, ob die Arbeit hier gefährlich sei: «Die Mafia kümmert es, oder es kümmert sie nicht. Wenn es die Mafia kümmert, hast du ein Problem.» Die Ebene am Golf von Gioia sei ein relativ kleines Areal. Aber nirgends in Italien sei die Gewalt so gross wie hier. Beim Abschied drückt uns Piobbichi drei A4-Seiten in die Hand, auf denen ermordete oder verstorbene Menschen der vergangenen 30 Jahren aufgelistet sind. Der zweitletzte Eintrag ist Edith, 31, aus Nigeria. Sie lebte mit ihrem Mann in Rosarno und starb am 28. Juli 2023 mit dem ungeborenen Kind, weil sie mit ihrer Krankheit «unsichtbar» gewesen war. Im letzten Eintrag erzählt Issa, 38, aus Gambia, dass es in Rosarno immer häufiger zu Übergriffen auf migrantische Arbeiter kommt. «Es passiert am Abend auf den Strassen, die zur Zeltstadt führen. Die Täter kommen auf Motorrädern. Einer sitzt vorne, der andere hinten. Sie stossen dich vom Fahrrad und fangen an, dich mit allem zu schlagen, was sie finden». Allein im Februar 2024 seien drei Fälle gemeldet worden, allerdings nur über Whatsapp-Nachrichten. Die Angst vor Vergeltung sei zu gross, um Anzeige zu erstatten.

Um an einige Verstorbene zu erinnern, hat Mediterranean Hope am Strand von San Ferdinando einen Garten des Gedenkens angelegt. Ein «Grab» ist auch jenen gewidmet, die in der Nacht auf den 26. Februar 2023 am Strand vor Cutro gekentert sind und starben, weil die italienischen Behörden weggeschaut haben.

Cutro
Am 26. Februar 2023 kenterte ein Flüchtlingsboot vor dem Ort Cutro an der kalabrischen Küste. Mindestens 94 Menschen ertranken, darunter 35 Kinder und Jugendliche. Ein Grabmal am Strand von San Ferdinando erinnert an das Unglück.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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5 Meinungen

  • am 21.05.2024 um 11:31 Uhr
    Permalink

    Vielleicht muss man hier wiederholen, dass Italien zur wunderbaren EU gehört und unser Nachbarland ist.

  • am 21.05.2024 um 11:52 Uhr
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    Eine riesige Herausforderung für Europa, die Migration. Wie bringen wir dieses Geschehen mit Menschenwürde, mit dem Grundsatz, «Alle Menschen sind gleich» in Zusammenhang? Eine sehr informative aktuelle Doku dazu im ZDF mit dem Titel «Sehnsucht Europa» – Migration in Europa.

  • am 21.05.2024 um 15:40 Uhr
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    so viel ich weiss ist Rassismus in der Schweiz verboten. Konsequenterweise würde sich doch jeder Händler strafbar machen, der Obst und Gemüse, oder auch andere Güter wie z.B. Bodenschätze, aus Sklavenhaltung importiert. Er fördert und unterstützt damit Rassismus, und schlägt daraus Profit. Aber wichtig ist, man sagt Afrikaner und benutzt nicht das N.. Wort, das ist wirklich strafbar. Ähnlich wie beim Klimaschutz wird auch in der Rassismusfrage viel Green- oder treffender Whitewashing betrieben.

  • am 22.05.2024 um 01:08 Uhr
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    Gegen die Mafiosi gibt es leider keine Lösung. Warum wird dieses Problem nicht in der EU angegangen? Zumindest sollte man versuchen, diese Leute daran zu hindern, nach Kalabrien zu gelangen. Aber wer ist zuständig? Frontex scheint ja auch nicht viel menschlicher zu sein!

  • am 22.05.2024 um 09:52 Uhr
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    Warum nimmt man nicht die riesigen Gewinne, welche die Super-Reichen durch Corona gemacht haben (sie Martina Frei im Infosperber vom 21.5.2024), und verwendet das Geld in Afrika für die Einheimischen, damit sie sich nicht den Gefahren einer Flucht aussetzen müssen?

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