Kommentar
Gerichtshof in Strassburg schafft keine neuen Menschenrechte
Red. Ludwig A. Minelli ist Rechtsanwalt und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO). Dieser Kommentar zum kürzlichen Urteil zugunsten der Schweizer Klima-Seniorinnen erschien in ihrer Online-Zeitschrift «Mensch und Recht».
Politiker und Journalisten, die nicht besser Bescheid wissen, warfen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg vor, er erfinde laufend «neue Menschenrechte». Nicht einmal die «Neue Zürcher Zeitung», die vielen als «Qualitätszeitung» gilt, verfügt über Mitarbeitende, welche sich in dieser Materie ausreichend auskennen. Sie verstieg sich sogar dazu, dem Gerichtshof «Grössenwahn» vorzuwerfen, als ob sie ein Organ der SVP wäre.
Wer sich im EMRK-System – welches seit 1950 besteht – und in seinen Urteilen auskennt, weiss, dass insbesondere Artikel 8 EMRK – der «Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs» – als sogenannter «Auffangartikel» Bedeutung hat: Was sich auf diese Schutzbereiche und somit auf die Lebensqualität nachteilig auswirkt, kann Gegenstand einer Menschenrechtsbeschwerde und damit auch eines Urteils werden.
Das Privatleben kann durch Handlungen oder Unterlassungen des Staates beeinträchtigt werden. So gab es schon 1994 ein Urteil gegen Spanien wegen Immissionen einer Anlage zur Beseitigung von Gerbereiabfällen. Die Staaten haben aus der EMRK die Verpflichtung, für ausreichenden Umweltschutz zu sorgen. Tun sie es nicht oder zu langsam, kann eine Verurteilung folgen.
Somit ist es nicht der Gerichtshof, der neue Menschenrechte «erfindet», sondern es ist die Offenheit der Formulierung von Artikel 8 EMRK, welche dafür verantwortlich ist, dass vieles, an das früher nicht gedacht wurde, das Privatleben verletzender Gegenstand werden kann.
Der leider viel zu früh verstorbene ehemalige Schweizer EGMR-Richter für Liechtenstein, Mark E. Villiger, sagt es in seinem «Handbuch der EMRK» so:
«Gerade der Begriff des Privatlebens ist unbestimmt genug, um verschiedenste Sachverhalte zu umfassen und gelegentlich auch als Auffangrecht missverstanden zu werden […] Ist Art. 8 anwendbar, bedarf es zur Bejahung seiner Verletzung allerdings eines Eingriffs in eines dieser Rechte, der eine gewisse Schwere aufweist.»
Dass ältere Personen wegen der Klimaerwärmung ein eklatant höheres Sterberisiko tragen als die Durchschnittsbevölkerung, ist mittlerweile Gegenstand allgemeinen Wissens – und ausreichend bedeutend, um darüber den EGMR urteilen zu lassen.
Kein Eingriff in die direkte Demokratie
Schlecht informierte Kritiker des Urteils beklagten einen Eingriff des EGMR in die direkte Schweizer Demokratie. Diese Behauptung geht fehl. Menschenrechte unterliegen ihrer Natur nach nie Mehrheitsentscheidungen, sondern beziehen sich auf Rechte und Ansprüche des Individuums im staatsfreien Raum – für welchen den Staat im Bereich Umweltschutz erhebliche positive Pflichten treffen. Sie zeigen dem in der Demokratie zu Recht entscheidenden Mehrheitsprinzip Grenzen auf – aufgrund der jedem Menschen innewohnenden Würde.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
«Dass ältere Personen wegen der Klimaerwärmung ein eklatant höheres Sterberisiko tragen» – wage ich zu bezweifeln; das ist ein Allgemeinplatz. Hitze und Anstrengung haben bei gewissen Erkrankungen nie gut getan, das gilt schon seit den alten Römern; da war es auch ordentlich heiß. Die oberste Aufgabe eines Gerichtes ist die Wahrheitsfindung: daher müsste genau und überprüfbar quantifiziert werden, wie hoch der menschliche Einfluss auf die Erwärmung und wieviele der Kläger nun davon mit einem erhöhten Sterberisiko betroffen sind und was genau die kleine Schweiz daran ändern kann; Klima ist nun aber nicht Wetter – ein sehr heißer oder sehr kalter Winter muss nichts mit dem Klima zu tun haben, obwohl hier sowohl viele an Hitze und noch viel mehr an Kälte sterben. Wo sollte da eine Rechtsprechung ansetzen? Das ist schlichtweg nicht möglich.
Gut, dass sich kompetente Leser wie Herr Minelli wehren.
– Ich teile seine Sicht.
– Wir sollten das Strassburger Urteil ernst nehmen, statt es in der Luft zu zerreissen, weil es uns nicht passt.
Danke.
Minellis kurzes Statement ist derart knapp, dass es die langen Artikel der NZZ gar nicht brauchte, wenn deren Verfasser etwas mehr «Qualität» aufwiesen. Aber eben: eine «Qualitätszeitung» muss auf dem ausgetrockneten Markt der Qualitätsjournalisten eben nehmen, was übrig bleibt…
Generell-abstrakte Verfassungs- & Grundrechte werden zeitgeistlich ausgelegt. Schutz des Privatlebens, das Rechts auf Familie, auf körperliche Unversehrtheit – alles uferlos dehnbare Begriffe. Lärmschutz, Schutz vor verstörenden Wahrnehmungen, Recht auf krankenkassenfinanzierte Wunderheilbehandlungen, etc. Dennoch werden Soldaten in den Krieg geschickt und Zivilisten Kriegsopfer. Recht & Gerechtigkeit sind höchst subjektiv und kulturell geprägt; es gibt keine allgemeingültige Definition. Eine Ehefrau, vom alkohlkranken Mann regelmässig geschlagen, könnte aus Art. 8 EMRK auf ein Alkohlverbot klagen. Ein von Fluglärm geplagter Anwohner, auf Schliessung des Flughafens. Manche Menschen macht ihre Arbeit krank – die könnten auf Sozialhilfe klagen, und zwar in Höhe des bisherigen Lohnes, um ihre Gesundheit zu schützen. Art. 8 EMRK deckt – wie Minelli sagt – alles ab, woran früher niemand zu denken wagte, er wird zum Einfallstor abstrusester Begehrlichkeiten & Ideologien instrumentalisiert.
Was sind denn Ihrer Meinung nach «abstruseste Begehrlichkeiten & Ideologien»? Sie fügen ja selber an: «Ein von Fluglärm geplagter Anwohner» und «Manche Menschen macht ihre Arbeit krank» sowie «Eine Ehefrau, vom alkoholkranken Mann regelmässig geschlagen». Für Sie, und wohl für die Mehrheit, ist dies derart normal, dass man sich nicht darüber aufhalten darf? Zum Beispiel Fluglärm: das wird als Menschenrecht verstanden von den Fluggesellschaften auch so beworben. Vor 50 Jahren war das Fliegen extrem teuer. Unsere Gesellschaft hat in Sachen Lebensqualität den Boden verloren!
Natürlich darf man sich über all diese Beeinträchtigungen der Lebensqualität aufhalten. Fraglich ist nur, wo die Grenze zwischen Justiz und Politik gezogen werden soll und ob Art. 8 EMRK hier wirklich das richtige Instrument ist. Zeugt es nicht von einer gewissen Anspruchshaltung, wenn erwartet wird, dass politisch zu erkämpfende Entscheidungen uns diskussionslos von der Justiz ’serviert› werden sollten? Das könnte sich durchaus auch rächen, denn eine sich verselbständigende Justiz kann uns dann auch mal ganz andere Entscheidungen abnehmen.
Übrigens wurde von einem unverdächtigen und keineswegs SVP-nahen Bundesrichter schon vor Jahren auf eine Tendenz des EGMR zu schleichender Kompetenzausweitung hingewiesen. (Suche z.B. «schubarth kompetenzen emrk» oder «die wurzel des übels liegt in strassburg».)
Behauptung:
Dass ältere Personen wegen der Klimaerwärmung ein eklatant höheres Sterberisiko tragen als die Durchschnittsbevölkerung, ist mittlerweile Gegenstand allgemeinen Wissens
konträre Meinung am 3.5.2024 veröffentlicht im «Nebelspalter», Titel «An wärmeren Orten müssten ältere Frauen sterben wie die Fliegen».
Frage: Wo finde ich einen Beleg für die Behauptung, gerne auch einen Fachartikel mit zitierfähigen Quellen, bitte keine „anekdotischen Statistiken“.
Ludwig A. Minelli antwortet mit Verweis auf das Strassburger Urteil:
Wissenschaftliche Berichte dürften allemal besser fundiert sein als ein Artikel im Nebelspalter.
In der englischen Fassung werden auf den Seiten 25 und 26 des Strassburger Urteils zuerst «Allgemeine Bemerkungen zur Veränderung des Klimas» (Ziff. 64-68) gemacht. Das Gericht stellt dabei ab auf Untersuchungen und Berichte des «Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), also den sogenannten «Weltklimarat». Der Sitz des IPCC-Sekretariats befindet sich in Genf, 195 Regierungen sind Mitglieder des IPCC, darüber hinaus sind mehr als 190 Organisationen als Beobachter des IPCC registriert.
Der Gerichtshof stellt in Ziff. 65 des Urteils dazu fest, steigende Temperaturen und Hitzewellen hätten die Sterblichkeit erhöht, was auf die menschengemachte Veränderung des Klimas zurückzuführen sei. Er verweist dabei auf den IPCC-Bericht «Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability», ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe II Contribution to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (“AR6 WGII”) and study Vicedo-Cabrera/Scovronick/Sera et al., «The burden of heat-related mortality attributable to recent human-induced climate change”, veröffentlicht in Nature Climate Change 11, 492-500, aus dem Jahre 2021.
Der Gerichtshof führt dann aus: “Weltweit hat hitzebedingte Sterblichkeit bei Personen über 65 Jahren um etwa 68 % zwischen 2000-04 und 2017-21 zugenommen; er beruft sich dabei auf «The 2022 report of the Lancet Countdown on health and climate change: health at the mercy of fossil fuels».
In Ziffer 66 führt der Gerichtshof sodann aus: «Steigende Temperaturen und Hitzewellen bringen nicht nur erhöhte Sterblichkeit mit sich, sondern stellen auch ernsthafte Gesundheitsrisiken dar.» Auch dafür führt er eine entsprehende wissenschaftliche Quelle an.
In Ziffer 67 sagt er: «Ältere Erwachsene, Frauen und Personen mit chronischen Krankheiten wiesen die höchsten Risiken temperaturabhängiger Morbidität und Mortalität auf.» Dazu berief sich das Gericht auf den Bericht «Gesundheitliche Auswirkungen von Hitze in der Schweiz und die Bedeutung von Präventionsmassnahmen. Hitzebedingte Todesfälle im Hitzesommer 2019 – und ein Vergleich mit den Hitzesommer 2003, 2015 und 2018» (Ragettli & Röösli 2020) (PDF, 2 MB, 20.04.2021).
Stichwort IPCC: bemerkenswert dabei ist, daß der momentane Direktor des IPCC, Jim Skea, der auch Gründungsmitgied des IPCC ist, etwa zur Zeit der Gründung des IPCC auch Direktor bei Blackrock wurde. Von Blackrock ist bekannt dass vor allem finanzielle Interessen verfolgt werden. Internationale Organisationen (wie z.B. auch die WHO) sind bekannt dafür dass sie wohl eher die Interessen der hinter ihnen stehenden Finanziers und Industrien verfolgen, als die Interessen der einfachen Leute.
Sehr geehrter Herr Minelli, sehr geehrter Herr Gasche,
recht herzlichen Dank für Ihre Information bezüglich der Auswirkungen von hohen Temperaturen auf die Übersterblichkeit. Schade, dass bei der schweizer Arbeit nicht noch die Hitzewellen vor 2003 berücksichtigt wurden (Klima: 30 Jahre Mittel des Wetters), aber man kann nicht alles haben.
mit freundlichen Grüßen
Dr. Dudel
EGMR. Immissionen treffen Vulnerable (z.B. Klima Seniorinnen) mehr, Schutz sei ihr Recht.
Analogon: Ich fordere Schutz für Schwerkranke (Dauerkopfschmerzen, Herz/Kreislauf, ZNS/Stressfolgeerkrankungen, ME/CFS etc.) in Wohnblöcken vor der «Barriere» Lärm 24/7 und Luftverschmutzung (wie Tabakrauch, Chemikalien). In Medien sehe ich Behinderung leider einzig mit Rollstuhl gleichgesetzt, das exkludiert (diskriminiert) Vulnerable. SP/Mieterverband Initiativen für «Bezahlbaren Wohnraum», nützt mir null ohne «Gesunden Wohnraum». Ich sah Menschen zugrundegehen – auch das eindringliche Arztattest konnte mietrechtlich leider nichts ausrichten. Ich fordere Schutz, «Nationalpark», zumindest für die Vulnerabelsten, zu deutsch: Verletzlichsten (Empfindlichsten) im medizinischen Sinne. Zitat Beobachter 13/2022 (Wohnenimmissionen): «Besonders empfindliche Menschen werden vom Gesetz nicht geschützt.»
wohnen.webnode.page (ehrenamtlich) dokumentiert Problem und Lösung, benötigt Investor bzw. Staat.
Minelli beruft sich auf den Begriff ‹Auffangartikel› und stützt sich dabei auf M.E. Villiger, den er wie folgt zitiert: «Gerade der Begriff des Privatlebens ist unbestimmt genug, um verschiedenste Sachverhalte zu umfassen und gelegentlich auch als Auffangrecht missverstanden zu werden (…).»
Minelli schafft es mit leichter Hand, das hier beklagte Missverständnis zur Normalität umzudeuten: «Wer sich im EMRK-System (…) auskennt, weiss, dass insbesondere Artikel 8 EMRK (…) als sogenannter «Auffangartikel» Bedeutung hat.»
„Nicht einmal die «Neue Zürcher Zeitung», die vielen als «Qualitätszeitung» gilt, verfügt über Mitarbeitende, welche sich in dieser Materie ausreichend auskennen. Sie verstieg sich sogar dazu, dem Gerichtshof «Grössenwahn» vorzuwerfen, als ob sie ein Organ der SVP wäre.“
Naja, die NZZ ist auch die Zeitung, in welcher AfD-Exponenten unwidersprochen den Diskurs nach rechts verschieben können, die jeden neuen Furz aus dieser Ecke als erstes Medium relativiert und Blocher allen ernstes behaupten kann, die Junge Tat nicht zu kennen. AfD-Parteizeitung seit 2021.