Gezipark

Wo alles anfing: Jugendliche protestieren 2013 im Gezi-Park gegen eine geplante Überbauung © VikiPicture/Wikimedia Commons/CC BY-SA 3.0

Erdogan rechnet mit der Gezi-Bewegung ab

Amalia van Gent /  Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft für 16 Intellektuelle, die sich an den Gezi-Protesten beteiligt haben sollen.

«Der blanke Wahnsinn». Kati Piri, die meist zurückhaltende Türkei-Berichterstatterin des Europäischen Parlaments (EP), ist fassungslos über die Anklage gegen 16 türkische Intellektuelle, die die Staatsanwaltschaft am Mittwochabend erhoben hat. Die türkische Justiz sei zu einem Witz verkommen, twitterte sie entrüstet. Bürger wie Osman Kavala ohne Anklage für Monate in U-Haft zu stecken, um sie dann post-facto «des gewaltsamen Umsturzversuchs» anzuklagen, sei purer Wahnsinn. Kati Piri plädierte im EP für eine Suspendierung der Beitrittsverhandlungen zwischen der Türkei und der EU.
Gemäss einer nun vorliegenden 657-Seite langen Anklageschrift sollen die 16 Angeklagten in ihren Organisationen bereits im Jahr 2011 insgeheim die Gezi-Proteste in Istanbul und den Sturz der verfassungsmässigen Ordnung der Republik geplant haben. Die Staatsanwaltschaft fordert deshalb eine lebenslange Haft für alle Angeklagten.
Die ersten Park-Besetzer waren Umweltschützer
Tatsächlich richteten sich die Gezi-Proteste ursprünglich nur gegen die Zerstörung des kleinen Gezi-Parks im Zentrum von Istanbul. Die Regierung plante auf dem Parkgelände den Bau eines riesigen Einkaufszentrums in der Form einer osmanischen Kaserne. Im Mai und Juni 2013 versammelten sich Tausende Jugendliche im Gezi-Park und verschafften ihrem Protest auf dem zentralen, angrenzenden Taksim-Platz mit humorvollen Aktionen Gehör. Ihnen ging es zunächst lediglich um den Schutz der Umwelt. Und zwar nicht nur um die Rettung des Gezi-Parks.
Seit dem Wahlsieg seiner Regierungspartei (AKP) im Jahr 2002 stützte sich Recep Tayyip Erdogan vor allem auf den Bausektor. Dieser sollte seinem Land enorme Wachstumsraten bescheren. Mit gigantischen Bauprojekten wollte Erdogan zudem die entferntesten Ecken der Türkei «modernisieren». Für die Bauunternehmen erwiesen sich die staatlichen Aufträge besonders lukrativ: Seit 2002 bauten sie quer durch das Land Autobahnen und gigantische Staudämme – auch in Naturschutzgebieten. Sie bauten einen Tunnel unter dem Bosporus, die «grössten» Moscheen und den grössten Flughafen der Welt, und sie zerstörten ohne Skrupel Wälder und historische Teile Istanbuls. Die Jugendlichen, die sich 2013 tagelang unter den Bäumen im Gezi-Park trafen, wollten in erster Linie diesen Projekten, die selbst Erdogan als «verrückt» bezeichnete, Einhalt gebieten.
Rache an der Gezi-Bewegung
Erst das brutale Eingreifen der Polizei liess die Proteste eskalieren. Die anfänglich friedliche Umweltbewegung artete aus zu einer Protestbewegung gegen Erdogan. Liberale Türkinnen und Türken lehnten sich anhaltend auf gegen den Anspruch der islamisch-konservativen Partei AKP, das Leben der Bürger vollumfänglich kontrollieren zu wollen. Die Protestbewegung griff rasch von Istanbul auf die meisten urbanen Zentren der Türkei über. Auf Plätzen debattierten die Bürger erstmals in aller Öffentlichkeit, wie etwa religiöse Moslems und Säkularisten, Kurden und Türken in der Türkei friedlich miteinander leben könnten.
Regierungschef Erdogan sah seine Macht ernsthaft in Gefahr. Noch vor seinem ersten Wahlsieg im Jahr 2002 befürchtete Erdogan, er könnte wie zuvor der osmanische Sultan Abdulhamid II, oder später Regierungschef Adnan Menderes und zuletzt der Präsident Turgut Özal gewaltsam gestürzt oder ermordet werden. Neben seinen offiziellen Anzügen bewahre er auch einen Anzug für seine Exekution auf, sagte er immer wieder. Die Angst vor einem Sturz habe bei Erdogan «paranoide Qualität», urteilt der Türkei-Spezialist Howard Eissenstat.
Auf die Gezi-Proteste reagierte der damalige Regierungschef jedenfalls harsch. Er liess zunächst mit Polizeigewalt die Protestbewegung blutig niederschlagen. Es gab mindestens acht Tote und Dutzende Verletzte. Damals soll er auch den Entschluss gefasst haben, nach 200 Jahren eine neue geistige Orientierung für sein Land einzuschlagen, nämlich weg von der westlichen Welt in Richtung Naher Osten. Und schliesslich soll er damals auch beschlossen haben, mit der liberalen Türkei abschliessend abzurechnen.

Der Putschversuch von 2016 gab ihm den lange erwarteten Anlass dazu. Seit dem Juli 2016 wandern nicht nur Putschisten hinter Gitter, sondern zu Tausenden auch all jene, die die Macht des türkischen Alleinherrschers zu hinterfragen wagen. Die Zahlen sind erschütternd: Über 120’000 Menschen wurden vom Dienst suspendiert und vegetieren dahin ohne Aussicht auf Arbeit. Die zentral verordneten Denunzierungen, die zahllosen Enteignungen und die willkürlichen Verhaftungen haben inzwischen ein Klima der Angst geschaffen, das die Türkei in diesem Ausmass nie zuvor gekannt hatte. Bis Ende letzten Jahres befanden sich in der Türkei laut Amnesty International 56’000 Menschen in U-Haft. Darunter auch zahllose linke und linksliberale Politiker und Intellektuelle, Schauspieler, Staatsangestellte sowie Geschäftsleute – und auch Medienleute. In der «neuen» Türkei Erdogans sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in China.

Ein Exempel statuieren
Ins Visier der nun vorgelegten Anklage steht die intellektuelle Prominenz: Der links-liberale türkische Geschäftsmann Osman Kavala, Sprössling einer alten, aristokratischen Familie, hatte sich nach der Jahrtausendwende einen Namen gemacht, weil er sich für ein friedliches Zusammenleben der Türken und Kurden sowie für eine gemeinsame Aufarbeitung der dunklen Geschichte der Türken und Armenier eingesetzt hatte. Seine Organisation Anadolu Kültür unterstützte Dutzende Projekte im kurdischen Südosten der Türkei.
Osman Kavala, als integre Persönlichkeit auch im Ausland respektiert, sass mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft. Gemäss der Anklage soll er bei den Umsturzplänen führend gewesen sein.
Gemeinsam mit Kavala klagt der Staat 15 weitere Personen an, darunter das Ehepaar Alabora, beide bekannte Schauspieler sowie den ehemaligen Chefredaktor der regierungskritischen Zeitung «Cumhuriyet», Can Dündar. Die Alabora’s und Can Dündar leben heute im Exil im Ausland und können von Erdogans Justiz nicht belangt werden. Zu den Angeklagten gehören ferner der Architekt Mücella Yapici, der Stadtplaner Tayfun Kahraman, der Anwalt Can Atalyay sowie die Journalistin Cigdem Mater Utku.
Ein Gericht soll nun innerhalb der nächsten 15 Tage entscheiden, ob die Anklage angenommen und ein Prozess eröffnet wird. Dass Präsident Recep Tayyip Erdogan als Kläger auftritt, ist indes ein deutliches Signal dafür, dass er keinerlei Kritik an seiner Alleinherrschaft zu dulden bereit ist. Die Anklage gegen die respektierten Intellektuellen seines Landes, gegen diesen besten Teil der türkischen Gesellschaft, soll allen Kritikern eine Warnung sein.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

TrkeiFlagge

Türkei: Innen- und Aussenpolitik

Recep Tayyip Erdoğan brachte nicht nur Städten, auch ländlichen Gebieten Wohlstand. Zu welchem Preis?

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.