Guantanamo Chappatte Le Temps

Partrick Chappatte zum Hungerstreik in Guantánamo im Jahr 2013 © Patrick Chappatte in «Le Temps»

«Die USA sollten endlich zum Unrecht auf Guantánamo stehen»

Red. /  Ein Verteidiger am US-Militärgericht in Guantánamo ruft auf, reinen Tisch zu machen. Die Torturen seien unmenschlich und nutzlos.

Aaron Shepard ist Rechtsanwalt, Militäroffizier und gegenwärtig als leitender Verteidiger bei der «Military Commissions Defense Organization» tätig. Diese Kommission hat in Guantánamo die Funktion eines Militärgerichts.

Gerade als Jude schätze er die hehren amerikanischen Werte: In jedem Menschen die Menschlichkeit zu erkennen und selbst unsere Feinde mit Würde und Respekt behandeln. Doch nach 9/11 hätten viele Amerikaner diese Werte fallengelassen: «Rund um den Globus verhafteten amerikanische Agenten Männer unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten und verschleppten sie in geheime Verstecke, wo sie jahrelang gefoltert wurden oder – um den rechtlich zulässigen Euphemismus zu verwenden – «verstärkten Verhörtechniken» («Enhanced interrogation techniques») unterzogen wurden. Viele der Verhafteten gelangten schliesslich in das Gefangenenlager in Guantánamo Bay, Kuba, das vor 20 Jahren eingerichtet wurde.»

Politiker in den USA hätten das moralische Fehlverhalten an diesen dunklen Orten und im Gefängnis von Guantánamo allzu oft damit entschuldigt, dass der Zweck die Mittel heilige. Doch selbst wenn man über diese von Amnesty angeprangerten Torturmethoden und das illegale Vorgehen hinwegsehen würde, bliebe die Einsicht, dass diese angewandten Methoden zum Erreichen der Ziele sowohl unwirksam als auch kontraproduktiv waren: «Sie haben das Land immer weiter auf den Weg eines ewigen Krieges mit unkalkulierbaren Verlusten getrieben.»

Seit 18 Jahren auf Guantánamo gefangen, aber noch keine Anklage

Die Brüder Abdul und Ahmad Rabbani sind bereits seit 2004 Gefangene auf dem US-Militärstützpunkt in Guantanamo – bisher ohne Anklage und ohne Militärgerichtverfahren.

Von den insgesamt 779 Gefangenen wurden im Laufe der Jahre viele nach Folterungen und Demütigungen ohne Verurteilung und ohne Entschädigung freigelassen. Gegenwärtig warten noch 39 Häftlinge auf ein Verfahren oder eine Freilassung. Vier von ihnen seien Drahtzieher des Anschlags von 9/11. 

Majid Khan.npr

Die jüngste Vernehmung eines Guantánamo-Häftlings habe die Unmoral einmal mehr gezeigt. Es handelte sich um den pakistanischen Gefangenen Majid Shoukat Khan. Er ist der einzige rechtmässige Einwohner der USA, der in Guantánamo festgehalten wird. Verteidiger Aaron Shepard berichtete am Jahreswechsel in der «New York Times», wie Khan seine Behandlung während einer Vernehmung Ende Oktober 2021 schilderte: «Brutale Schläge, erzwungene Sodomie und andere unmenschliche Behandlungen durch amerikanische Vernehmungsbeamte sowie Agenten der CIA. Auch mit scharfer Sauce überzogene Schläuche seien in seine Nasenhöhlen eingeführt und Gartenschläuche gewaltsam in sein Rektum eingeführt worden. Wiederholt sei er Opfer des simulierten Ertränkens geworden (‹waterboarding›).»

«Schlimme Foltermethoden»

Nach dieser Vernehmung von Khan verurteilte eine Jury aus acht hochrangigen Militäroffizieren das Verhalten ihrer Regierung. Die Behandlung von Gefangenen, so schrieb die Jury in einem Brief an das Gericht, sei ein «Schandfleck für die moralische Kraft Amerikas». Sie erkannten Verfehlungen von Herrn Khan an – er diente als niedriger Agent für Al-Qaida –, befanden aber, dass «seine erlittenen Behandlungen Foltermethoden nahekommen, wie sie  die schlimmsten Staaten der modernen Geschichte praktizieren» («Mr. Khan was subjected to physical and psychological abuse well beyond approved enhanced interrogation techniques, instead being closer to torture performed by the most abusive regimes in modern history.»)

Als jüdischer amerikanischer Militäranwalt sei er von den Taten den inhaftierten und von ihm verteidigten Personen besonders betroffen, weil viele der Al-Qaida angehörten, einer Organisation, die sowohl die USA als auch Juden vernichten wollen, schrieb Shepard in der «New York Times».

Doch als Anwalt und Offizier sei er verpflichtet, seine Mandanten zu verteidigen, eine Aufgabe, die sein Land und die Verfassung verlangen würden: «Als Jude wurde mir der Grundwert beigebracht, in allen Menschen Menschlichkeit zu sehen – selbst in Feinden. Und als Amerikaner wurde mir beigebracht, dass jeder Mensch bestimmte unveräusserliche Rechte hat und dass der Schutz durch faire Gerichtsverfahrenordnungsgemässe Prozessführung und das Verbot grausamer und ungewöhnlicher Bestrafung unabhängig von den mutmasslichen Straftaten gelten.»

Sein jüngster Klient Khan habe sich ihm gegenüber weder antisemitisch noch hasserfüllt geäussert. Und «meinem Hauptklienten wird nicht vorgeworfen, Amerika angegriffen zu haben – ihm wird vorgeworfen, an einem Anschlag in Indonesien beteiligt gewesen zu sein – doch er wurde brutal gefoltert und ist seit fast zwei Jahrzehnten im Gefängnis». Er und seine Kollegen würden diese Männer «nicht verteidigen, weil wir ihre Verbrechen unterstützen, die ihnen vorgeworfen werden, sondern weil wir glauben, dass unser Land sich an den höchsten Standard von grundlegendem Anstand und Menschenrechten halten sollte».

Die Amerikaner könnten amoralische und kurzsichtige Mittel wählen, um diejenigen anzugreifen, die ihnen schaden wollen. Aber die Wahl solcher Mittel habe Konsequenzen: «Sie untergraben unsere Beziehungen zum Ausland und schwächen unseren moralischen Kern im eigenen Land.»

Doch die Amerikaner könnten den vielen Abgründen der Welt auch mit der Kraft ihres Beispiels entgegentreten und die Menschlichkeit zurückzufordern: «Wenn wir uns für diesen letzteren Weg entscheiden, müssen wir unsere Fehler eingestehen und zeigen, dass wir aus ihnen lernen. Was in Guantánamo geschehen ist, ist ein solcher Fehler. Zwanzig Jahre später ist es an der Zeit, dass wir uns entscheiden, wie – oder ob – wir den Schaden beheben können.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Lt. Commander Aaron J. Shepard, Judge Advocate General’s Corps, United States Navy ist ein Militäroffizier und Rechtsanwalt. Er arbeitet derzeit als leitender Verteidiger bei der Military Commissions Defense Organization. Die geäusserten Ansichten spiegeln nicht die des Verteidigungsministeriums, der US-Regierung oder einer ihrer Behörden wider.
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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6 Meinungen

  • am 12.01.2022 um 11:54 Uhr
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    Selbst wenn die Folterungen «nützlich» wären, also Informationen einbrächten, wären sie völker- und menschenrechtswidrig. Was ist das denn bitte für eine Argumentation? Wenn eine «Nützlichkeit» aus der Sicht der Täter von Belang wäre, könnte man auch Auschwitz «rechtfertigen» – und soweit will ja wohl keiner gehen, nicht einmal ein Anwalt, der die «amerikanischen Werte» hoch hält?
    Im Übrigen könnten die Amerikaner kein Beispiel für die Welt abgeben (in welcher lebt jemand, der sowas sagt?), wenn sie ab jetzt genauso lange die Engel spielen würden, wie sie bisher die Teufel und Geißel der Menschheit waren.

  • am 12.01.2022 um 14:04 Uhr
    Permalink

    Was für weitere US-Verbrechen braucht es eigentlich noch, bis der Bundesrat endlich aus seinem Alles-Verzeihen-Tiefschlaft erwacht, und gegen diese schreinenden Menschen-rechtsverletzungen Stellung bezieht und die US-Justiz daran erinnert, dass die USA von sich grossspurig behauptet, ein Rechtsstaat zu sein.
    «Ihr Damen und Herren vom Bundesrat,
    Herr Shepard schenkte besonders für Sie reinen Wein ein:
    Wo sehen Sie Ihre Pflichten , funktionieren Ihre Gewissen?
    Das muss ich als einfacher, bewusster Schweizer wissen!
    Bestimmt also vorwiegend Washington unsere Aussenpolitik,
    lautet Ihre Botschaft:nichts-gesehen, nichts-gehört, Nick-Nick?!
    Ich bin äusserst empört, und hoffe, dass Sie das endlich stört!

  • am 12.01.2022 um 14:47 Uhr
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    Es gibt nur einen Grund, warum die «Drahtzieher» von 9/11 «nur» gefangen gehalten und gefoltert, aber nicht vor ein reguläres Gericht gestellt werden: In einem Gericht müssten glaubhafte Beweise für ihre Schuld an den «Anschlägen» vorgebracht werden – und die gibt es einfach nicht…

    • am 13.01.2022 um 05:10 Uhr
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      Vor einem ordentlichen Gericht müssten peinliche Einzelheiten zu den «Anschlägen» ans Tageslicht kommen, und das muss die Administration um jeden Preis verhindern.
      Fake News: die gibt’s nur bei den andern! «Verschwörungstheorien» – eine leider erfolgreiche Erfindung der CIA, um die eigenen Verbrechen vor der Aufdeckung zu bewahren.

    • am 13.01.2022 um 07:59 Uhr
      Permalink

      Und die Gefangenen könnten etwas erzählen, was niemand je hören soll.

    • am 13.01.2022 um 11:46 Uhr
      Permalink

      Ja, die Terroristen müssten alle freigelassen werden, wenn sie in ein westliches Land überführt werden. Die moralisch hoch überlegenen Schweizer können aber darauf hoffen, dass die nächsten Anschläge im Ausland verübt werden.

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