Die Grenzen der USA verschieben sich nach Süden
Zehntausende fliehen seit Jahren aus Mittelamerika und versuchen die USA zu erreichen – trotz der unter der Trump-Regierung mehr als restriktiven Migrationspolitik. Alle paar Monate finden sie sich zu grossen Flüchtlingstrecks zusammen, die mediale Beachtung erfahren. Meist zu Fuss wandern sie durch Mexiko in Richtung der USA.
Der Migrant «Vinicio» und seine Familie, von denen der «Intercept» berichtet, kamen nicht einmal so weit. Kurz vor der mexikanischen Grenze in Guatemala setzten guatemaltekische Soldaten sie in einen Bus zurück an die Grenze von Honduras. «Wir werden uns verstecken, bis wir wieder losgehen können», sagt er. Nach Hause zurückzukehren sei keine Option. So wie ihm geht es Tausenden.
Die US-Grenze zu erreichen, wird immer schwerer
Wie die meisten Migranten flüchtet Vinicio vor der schlechten Wirtschaftslage, vor Korruption und Bandengewalt. Guatemala, El Salvador und Honduras, aus denen die meisten Migranten stammen, gehören zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Wer in den Fokus der Gangs geraten ist, hat kaum eine Möglichkeit, ihnen zu entkommen. Die Maras kontrollieren ganze Stadtviertel, erpressen Schutzgeld und zwangsrekrutieren bereits Kinder.
In den USA Hecken zu schneiden, Böden zu wischen und auf Baustellen zu schuften scheint dagegen vergleichsweise paradiesisch. Dorthin zu kommen, um eventuell einen positiven Asylbescheid oder nach vielen Jahren in der Illegalität eine Duldung zu erreichen, wird jedoch immer schwerer.
Die Grenzen der Vereinigten Staaten verlaufen inzwischen praktisch in den Nachbarländern. Polizei und Militär werden speziell dazu eingesetzt, Migranten schon auf der Durchreise abzufangen. Ein Szenario, das einem in Europas vage bekannt vorkommt.
Ein Jahrzehnt Arbeit an der Verschiebung der Grenzen
Aus Sicht vor allem Mexikos ist das teilweise verständlich. Kein Staat möchte Flüchtlingslager an seinen Grenzen, wie sie in Mexiko durch Trumps Einwanderungspolitik gewachsen sind. Zehntausende warten seit Monaten auf der mexikanischen Seite der Grenze auf den Bescheid der US-Behörden. Eine Politik, die sich demnächst ändern soll.
Auch diejenigen, die mit bescheidenen Mitteln ankamen, sind inzwischen mittellos. Die Folge ist unter anderem eine trotz grosser Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung steigende Kriminalität.
Gefangen in der «vertikalen Grenze»
Ein guter Teil der Entwicklung ist auf die USA zurückzuführen, die die mittelamerikanischen Länder seit vielen Jahren unter Druck setzen, Migranten und potenzielle Asylsuchende möglichst weit vor der amerikanischen Grenze zu stoppen. Das Konzept der «vertikalen Grenze», ursprünglich nur für Mexiko gedacht, hat sich inzwischen auf ganz Mittelamerika ausgedehnt.
«Die guatemaltekische Grenze zu Chiapas (in Mexiko) ist jetzt unsere Südgrenze», sagte Alan Bersin vom US-Heimatschutz schon 2012. «Die Politik reagiert auf die Anti-Einwanderungspolitik, die aus dem Norden kommt», bestätigt auch Julia González, Direktorin des Nationalen Runden Tisches für Migration in Guatemala, einer Nichtregierungsinitiative, gegenüber dem «Intercept».
Mexiko und Guatemala als vorgelagerter Grenzposten
Immer wieder schliessen sich Flüchtende zu grossen Flüchtlingstrecks zusammen. Vor allem deshalb, weil es sicherer ist. Zehntausende Migranten verschwinden jedes Jahr allein in Mexiko. Reisen sie allein, sind sie leichte Beute für Diebe, Schlepper, Drogendealer und Zuhälter. In der Gruppe erhoffen sie sich auch Schutz vor korrupten Polizisten.
Covid-19 hat die Lage nicht verbessert. Es fliehen vermehrt Menschen, die sich vor der Pandemie noch mit Gelegenheitsjobs durchschlagen konnten. Staatsangehörige aus Honduras, El Savador und Nicaragua dürfen rein rechtlich ohne Pass die guatemaltekische Grenze passieren.
Seit der Pandemie verlangt das Land bei der Einreise jedoch einen Corona-Test, mit dem Argument, dass sich gerade in Flüchtlingskarawanen das Virus schnell verbreite. Die Situation verschlimmert sich. Im Januar wurden in Guatemala Tausende vom Militär gestoppt – teilweise mit Gewalt.
Die Grenze ist inzwischen überall
Weil sich die Grenzlinie für Fliehende nach Süden verlagert hat, füllt sie den Raum zwischen den tatsächlichen US-Grenzen und der Barriere weiter südlich. Grosse Teile der mittelamerikanischen Staaten werden dadurch faktisch zum Grenzgebiet.
«Das Problem ist weniger, dass die Grenzlinie der USA nach Süden verschoben wurde, sondern, dass die Grenze sich so ausgedehnt hat, dass sie jeden Zwischenraum ausfüllt», sagt González. Es geschieht das, was überall auf der Welt geschieht, wenn etablierte Fluchtrouten unbegehbar werden: Migranten weichen auf abgelegenere, riskantere Pfade aus. «Wir befürchten, dass sich die Zahl der Menschen, die auf der Reise verschwinden, erhöhen wird».
Die Situation destabilisiert auch die Transitländer
Die Push-Backs widersprechen nicht nur den Menschrechten, sie destabilisieren auch die Lage in den betroffenen Ländern. Das guatemaltekische Militär operiere weit ausserhalb seines Mandats, sagt Iduvina Hernández, Leiterin einer guatemaltekischen NGO, die sich mit der Sicherheit in der Demokratie beschäftigt. Hernández sieht die Aufweichung der Grenzen als «komplette Verletzung der Gesetze des Landes, der Verfassung und des internationalen Rechts».
Dass sich die Verhältnisse bald wesentlich ändern werden, ist unwahrscheinlich. Die USA werden ihren Kurs gegen «Kriminalität, Drogenhandel und Korruption» in den mittelamerikanischen Ländern sehr wahrscheinlich fortsetzen – Zustände, an deren Entstehung die Vereinigten Staaten teilweise kräftig mitgewirkt haben. Allenfalls die Entwicklungshilfe könnte ausgebaut werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.