flucht bergkarabach

Bergkarabach-Armenier suchen Schutz bei russischen Friedenstruppen, die seit 2020 in der Region stationiert sind. © Russisches Verteidigungsministerium/SRF Tagesschau

Bergkarabach: Kapitulation vor dem Recht des Stärkeren

Amalia van Gent /  Steht dem besiegten, armenisch besiedelten Bergkarabach nun die ethnische Säuberung bevor?

Die Bilder, die aus dem besiegten, armenisch besiedelten Bergkarabach an die Weltöffentlichkeit gelangen, sind beschämend: Tausende von Menschen, die aus umliegenden Dörfern in langen Flüchtlingstrecks zum Hauptort des Gebiets Stepanakert ziehen und in dieser von Artilleriebeschuss und dem massiven Einsatz von Drohnen getroffenen Stadt in den Strassen hausen. Tausende andere wiederum, die im Umfeld des Flughafens stationierte russische Friedenstruppen verzweifelt um Schutz anflehen. Gebrechliche und alte Menschen, die in Trauer in ihren Bunkern ausharren. Und nicht zuletzt Kinder, bis auf die Knochen abgemagert, die verletzt im Spital liegen.

«Leben im Paradies»

Seit Mittwoch ist Bergkarabach nun ganz unter der Kontrolle Aserbaidschans. Die armenischen Verteidiger wurden innerhalb von 24 Stunden zur Kapitulation gezwungen. Innerhalb dieser Zeit sollen gemäss letzten Angaben der Ombudsstelle für Menschenrechte in Bergkarabach 200 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt worden sein. Am Mittwochabend verkündete Aserbaidschans Herrscher Ilham Alijew in einer Ansprache an die Nation seinen Triumph: «Nach der Kapitulation der verbrecherischen Junta ist diese Quelle der Spannung, diese Giftküche, bereits Geschichte.» Und er versprach den 120‘000 Karabach-Armeniern unter seiner Herrschaft fortan «ein Leben im Paradies, in dem ihre religiösen und kulturellen Rechte respektiert würden».

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind drei Kriege um die Frage ausgebrochen, ob die armenische Bevölkerung Bergkarabachs Recht auf Selbstverwaltung habe: Der erste Krieg 1991-1994 endete mit einem Sieg der Armenier. Noch waren beide Nachbarländer von Moskau gleich schlecht ausgerüstet, es gab ein militärisches Gleichgewicht. Die Karabach-Armenier bauten in dieser Region ihren «Staat» auf, der zwar von niemandem anerkannt wurde, der aber den 120‘000 Einwohnern Schutz garantierte.

Beim zweiten Krieg 2020 hatten die Armenier keine Chance auf einen Sieg: Militärisch hatte sich das Gleichgewicht mittlerweile zugunsten Aserbaidschans enorm verändert. Dank seinen Petrodollars hatte Aserbaidschan eine modern ausgerüstete Armee auf die Beine gestellt. Zudem beteiligte sich 2020 auch die Türkei an diesem Krieg, wobei sie Aserbaidschan militärisch und diplomatisch uneingeschränkt unterstützte. Beide Länder sprechen eine türkische Sprache, und feiern ihre Allianz als eine von «zwei Staaten und einer Nation».

Trügerische Allianzen

Spätestens beim zweiten Krieg um Bergkarabach hatte auch Moskau die Seiten gewechselt. Russland galt jahrzehntelang als Schutzmacht der Armenier. Aus einer Ur-Angst der Armenier, die Aserbaidschaner oder die Türken könnten erneut einen Vernichtungsfeldzug gegen sie starten, schloss Armenien ab 1991 mit Moskau Verträge über eine strategische Allianz und räumte den Russen als einziger Republik des Südkaukasus das Recht ein, auf armenischem Territorium Militärbasen zu halten.

Im Jahr 2018 spülte eine sogenannte «samtene Revolution» Nikol Paschinjan an die Macht. Obwohl die samtene Revolution in Armenien im Gegensatz zu manchen anderen Farbrevolutionen im Ex-Sowjetraum friedlich abgelaufen war und die neue Regierung immer wieder ihre Treue zu Moskau beteuerte, herrschte seither tiefes Misstrauen zwischen den «strategischen Partnern».

Vom russischen Präsidenten Wladimir Putin weiss man, dass er auf alles allergisch reagiert, was nach einer «Farbrevolution» aussieht. Hatte Moskau schon 2018 die Seiten gewechselt? Jedenfalls verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Russland und Armenien nach dem zweiten Krieg um Bergkarabach. Und es erreichte ein neues Tief, nachdem die aserbaidschanische Armee wiederholt ins Territorium Armeniens eindrang und Russland entgegen seinen Verpflichtungen als strategischer Partner Armeniens untätig zuschaute.

Ein Trauerspiel für die Weltgemeinschaft

Die Kapitulation Bergkarabachs ist das Ende eines Trauerspiels, das sich in dieser geographisch isolierten Region seit neun Monaten abspielt, ohne die Institutionen der Weltgemeinschaft moralisch aufzurütteln. Im Dezember 2022 liess der aserbaidschanische Autokrat Ilham Alijew die Route über den Latschin-Korridor, die das Mutterland Armenien mit der armenischen Exklave verbindet, blockieren. Ganze neun Monate lang blieben 120‘000 Bewohner ohne Nahrungsmittel, ohne Medikamente, ohne Treibstoff.

Bergkarabach
Der Latschin-Korridor verbindet Armenien mit dem nach dem armenisch-aserbaidschanischen Krieg 2020 noch als Rumpfstaat übrig gebliebenen, von Armeniern besiedelten Gebiet Bergkarabach (braun).

Diese Politik der Belagerung hatte zum Ziel, die Armenier Bergkarabachs dazu zu zwingen, eine Existenz als Minderheit ohne Autonomie und ohne kulturelle Rechte in Aserbaidschan zu akzeptieren. «Sie haben die Wahl», wiederholte bei jeder Gelegenheit der Autokrat Ilham Alijew. Sie können sich integrieren oder fliehen.

Die Politik des Aushungerns hatte den Willen der Karabach-Armenier auf Selbstverwaltung offensichtlich nicht brechen können. Gemäss einer letzten Umfrage, die Mitte August von der gemeinnützigen Organisation Hub Artsakh vor Ort durchgeführt wurde, lehnen 98,8 Prozent der Bevölkerung in Bergkarabach eine «Integration», wie sie dem Autokraten Ilham Alijew vorschwebt, konsequent ab. Letzten Dienstag hat Aserbeidschans Armee Bergkarabach erneut angegriffen.

Gegenseitige Schuldzuweisungen

In Bergkarabach spiegelt sich faktisch die Kapitulation der Weltgemeinschaft vor dem Recht des Stärkeren wider – genau das also, was der Westen in der Ukraine unbedingt hat verhindern wollen. Nun schieben sich Russland und der Westen gegenseitig die Schuld zu für diese unsägliche Tragödie: «Was kann ich denn tun?», fragte Wladimir Putin rhetorisch auf einer Plenarsitzung des Östlichen Wirtschaftsforums (EEF) in Wladiwostok am 12. September. Die armenische Führung habe in Prag die Souveränität Aserbaidschans über Karabach im Wesentlichen anerkannt und damit den Status über Karabach als gelöst erklärt, führte er aus.

Wladimir Putin und seine Presseorgane bezichtigen seither den armenischen Premierminister Nikol Paschinjan in der Karabach-Frage des Verrates. Diese Schlammkampagne kann dabei kaum darüber hinwegtäuschen, dass sich Ilham Alijew und sein Alliierter in Ankara nichts vorschreiben lassen. Neun Monate lang war Moskau nicht fähig, die Bedingungen des Waffenstillstands von 2020 umzusetzen. Dieser von Putin persönlich initiierte Vertrag hatte einen ungehinderten Verkehr von Menschen und Waren durch den Latschin-Korridor vorgesehen.

Auf die Ereignisse in Bergkarabach reagiert auch der Westen machtlos und verlegen. Die USA und die EU, die in den letzten Jahren im Südkaukasus, diesem ehemaligen Hinterhof der Sowjetunion zunehmend als geostrategische Akteure auftreten, hatten ihre eigene Version für einen Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan und Bergkarabach präsentiert. Unter der Vermittlung der EU unterzeichneten Aserbaidschans Ilham Alijew und Armeniens Nikol Paschinjan am 6. Oktober 2022 eine Erklärung, in der sie gegenseitig die territoriale Integrität anerkennen. Zum ersten Mal nach 1991 musste ein armenischer Ministerpräsident damit öffentlich zugestehen, dass Bergkarabach seinen Anspruch auf Selbstbestimmung aufzugeben habe und dass die armenische Nation endgültig einen Strich ziehen müsse unter alles, wofür sie in den letzten 30 Jahren teils mit grossen Opfern gekämpft hatte. Im Gegenzug sollte ein internationaler Mechanismus garantieren, dass die 120‘000 Armenier Bergkarabachs in ihrer Heimat in Würde und Sicherheit leben können.

Das blieb ein Versprechen auf Papier, da die USA und die EU den Beteuerungen Ilham Alijews bis zuletzt Glauben schenkten und Sanktionen gegen ein immer aggressiveres Aserbaidschan scheuten.

Ob und wie viele Armenier nach diesem Krieg in Bergkarabach nach den Bedingungen Ilham Alijews leben und überleben werden, bleibt offen. Glaubt man armenischen Medien, dann ist der Wunsch nach einem Korridor, der eine sichere Flucht der Bevölkerung nach Armenien ermöglichen würde, gross. Damit wäre die ethnische Säuberung Bergkarabachs vollendet.


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3 Meinungen

  • am 22.09.2023 um 13:43 Uhr
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    Nach den ganzen Grausamkeiten gegen die Armenier in Bergkarabach ist ein Verbleiben dieser in Aserbaidschan wohl pure Selbstgefährdung; Minderheitenrechte wird es nicht geben. Realistisch ist momentan leider nur die vollständige Flucht dieser 120.000 Menschen. Aserbaidschan wird aber auch dann keine Ruhe geben, sondern einen Korridor nach Nachitschewan verlangen, was zu weiteren Kriegshandlungen führen wird. Da Putin ein bißchen auf Erdogan angewiesen ist, wird er er wohl stillhalten. Aserbaidschan benutzte übrigens israelische Drohnen um Bergkarabach anzugreifen. Über eine Achse Türkei-Israel wird ja auch wieder spekuliert. Fakt ist, dass die Armenier zwar eine Riesendiaspora, aber keine potenten Fürsprecher haben. Es gibt weder Waffen noch Geld, sondern nur eine wahrhaft schlechte strategische Lage.

  • am 22.09.2023 um 14:59 Uhr
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    Qui bono? Es ist immer wieder interessant zu beobachten, wie einseitig über das Selbstbestimmungsrecht der Völker berichtet wird. Je nach politischer Interessenlage der USA mal so, mal das reine Gegenteil.

  • am 25.09.2023 um 09:58 Uhr
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    Nikol Paschinjan und seine Partei haben keinen Zweifel daran gelassen, dass er Armenien weg von Russland und hin zu EU und NATO führen will. Er hat auch keinen Zweifel daran gelassen, dass er und Armenien die ‹territoriale Integrität Aserbaidschans› anerkennen und somit Nagorno-Karabach preisgegeben wird – notabene, Armenien hat in 30 Jahren nie die Unabhängigkeit von Nagorno-Karabach anerkannt. Paschinjan wurde 2018 und 2021 mit überwältigender Mehrheit von den Armeniern gewählt, kann sich also auf ein Mandat berufen. Man braucht hier gar nicht weiterzusuchen, der ‹Schuldige› ist offensichtlich: Nagorno-Karabach ist der Eintrittspreis für Armenien in die EU und NATO.

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