Kommentar
Ende der Straflosigkeit in Israel und Palästina?
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag ist mit seiner am letzten Freitagabend veröffentlichten Entscheidung, Verfahren zu mutmasslichen Verbrechen in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten zu eröffnen, auf sehr widersprüchliche Reaktionen gestossen. «Diese Entscheidung öffnet einen seit langem erwarteten Weg zur Gerechtigkeit für israelische und palästinensische Opfer schwerer Verbrechen», begrüsste die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) den IStGH-Beschluss. Die Palästinensische Autonomiebehörde erklärte, die Entscheidung öffne «eine Tür für die strafrechtliche Verfolgung schwerer Verbrechen, die seit langem gegen das palästinensische Volk begangen werden». Hingegen erklärte der israelische Aussenminister Gabi Ashkenazi , die Entscheidung verdrehe das Völkerrecht und mache «den Strafgerichtshof zum Handwerkszeug von israelfeindlicher Propaganda».
Anders als es diese beiden Reaktionen der Konfliktparteien nahelegen, geht es bei den von der IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda seit 2015 angestrebten Verfahren um «mutmassliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit durch israelische Sicherheitsbehörden und Streitkräfte, durch die Hamas, die PA und durch bewaffnete palästinensische Gruppen in den besetzten Gebieten Westbank, Gazastreifen und Ostjerusalem».
Im Januar 2015 war Palästina, das seit 2012 bei der UNO den Status eines «Nichtmitglied-Beobachterstaates» hat, dem IStGH beigetreten und hatte eine Voruntersuchung zu mutmasslichen Verbrechen in den besetzten Gebieten beantragt. Im Ergebnis dieser Voruntersuchung stellte die Chefanklägerin im Dezember 2019 fest, dass «alle im Statut des IStGH-Statuts verlangten Voraussetzungen zur Eröffnung von Verfahren erfüllt sind». Die Eröffnung von IStGH-Verfahren sei «zulässig», da die lokalen oder staatlichen Gerichte vor Ort «unwillig oder nicht in der Lage» seien, Verfahren durchzuführen. Allerdings übergab die Chefanklägerin die «hoch umstrittene Frage», ob die drei besetzten Gebiete auch unter die territoriale Zuständigkeit des IStGH fallen, an eine dreiköpfige Vorprüfkammer des Gerichtshofes mit der Aufforderung zu einer «schnellen Untersuchung und Entscheidung».
Die Vorprüfkammer entschied letzte Woche, dass die territoriale Zuständigkeit des Gerichts gegeben ist. Das bestreitet neben der israelischen Regierung weiterhin auch die Biden-Administration in Washington. Die Zuständigkeit des IStGH solle «auf Länder beschränkt bleiben, die sich ihm angeschlossen haben oder vom UN-Sicherheitsrat für Ermittlungen nach Den Haag überwiesen wurden», erklärte ein Sprecher des US-Aussenministeriums. Die USA sind dem IStGH ebenso wie Israel bis heute nicht beigetreten. Eine Überweisung durch den Sicherheitsrat an den IStGH mit Blick auf die besetzten palästinensischen Gebiete würde am Veto der USA scheitern.
Human Rights Watch erwartet, dass der IStGH nun sehr bald Ermittlungen aufnimmt wegen zahlreicher Verbrechen, die bislang von HRW selber, Amnesty international sowie von der Goldstone-Kommission und anderen Untersuchungsgremien der UNO dokumentiert wurden. Konkret nennt HRW mutmassliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit beider Seiten in den Gaza-Kriegen der Jahre 2009 und 2014, den Raketenbeschuss des israelischen Staatsgebietes durch die Hamas sowie Folterverbrechen der Hamas, und Massnahmen der israelischen Regierung zur Ausweitung illegaler Siedlungen.
Zum obenstehenden Bericht der persönliche Kommentar von Andreas Zumach
Der Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) hat nach über sechsjährigen Beratungen endlich entschieden, Verfahren wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit in den seit 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten zu eröffnen. Das ist ein grosser Fortschritt. Denn die Menschenrechtsnormen, die nach 1945 vor dem Erfahrungshintergrund von Shoa, Faschismus und Zweitem Weltkrieg vereinbart wurden, gelten universell und ausnahmslos für alle BewohnerInnen dieser Erde. Dasselbe sollte auch für die Strafbarkeit besonders gravierender Verstösse gegen diese Normen gelten. Die von Deutschland und anderen westlichen Staaten vorgetragenen Einwände gegen eine territoriale Zuständigkeit des IStGH für die besetzten Gebiete liefen auf eine fortgesetzte Straflosigkeit für weitere Jahr(zehnt)e hinaus bis zu einer eventuellen politischen Lösung des Konflikts Israel-Palästina. Diese Einwände hat der IStGH mit überzeugenden Argumenten zurückgewiesen.
Wer die Entscheidung des IStGH als einseitig gegen Israel kritisiert, hat sie entweder nicht gelesen oder verbreitet bewusst die Unwahrheit. Es geht bei den jetzt ermöglichten Ermittlungen des Gerichts ausdrücklich um vergangene, derzeitige und künftige mutmassliche Verbrechen ausnahmslos sämtlicher an dem Konflikt beteiligter Akteure. Das gilt völlig unbeschadet der Tatsache, dass die bislang erfolgten Untersuchungen der UNO zu den Gaza-Kriegen der Jahre 2009 und 2014 wie zu den Gaza-Protesten von 2018 eine zum Teil deutlich höhere Zahl mutmasslicher Verbrechen durch israelische Behörden und Streitkräfte dokumentiert haben, als durch die Hamas, die Autonomiebehörde (PA) oder bewaffnete palästinensische Gruppen. Dass mutmassliche Verbrechen palästinensischer Akteure in diesen drei Untersuchungsberichten möglicherweise nicht vollständig oder nicht mit den für ein Strafverfahren wünschenswerten Details und Belegen aufgeführt sind, liegt allerdings auch daran, dass die israelische Regierung im Unterschied zur PA und auch zur Hamas bis heute jegliche Kooperation mit dem IStGH und den Aufklärungsbemühungen der UNO verweigert.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Vielen Dank für den Beitrag! Ab und zu gibt es Erfreuliches zu lesen. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Gerechtigkeit durchsetzt.
Andreas Zumach hat die Integrität und den Mut, das heikle Thema Israel-Palästina sachlich und möglichst objektiv zu verfolgen. Ein Musterbeispiel von gutem Journalismus, der leider immer seltener wird.
Zumachs Standpunkt läuft darauf hinaus, dass wir eine internationale Strafrechtsdiktatur brauchen, weil Menschenrechte nicht verhandelbar sind und daher nicht auf Völkerrechtsabkommen beruhen bzw. in ihrer Geltung auf die Teilnehmer solcher Abkommen beschränkt sein können.
Es haben schon viele Intellektuelle auf eine «gute Diktatur» gehofft- leider erwiesen sich die bisherigen Diktaturen als nicht ganz so gut. Aber die Hoffnung stirbt ja zuletzt (zumindest bei den Dummen).