Netzwerk-Kabel

Das Bundesverwaltungsgericht muss prüfen, ob das «System» der Funk- und Kabelaufklärung die Grundrechte der Betroffenen verletzt © pixabay

Schweiz: Beschwerde gegen Massenüberwachung gutgeheissen

Tobias Tscherrig /  Das Bundesgericht hat eine Beschwerde des Vereins «Digitale Gesellschaft» betreffend Massenüberwachungs-Massnahmen gutgeheissen.

Der Verein «Digitale Gesellschaft» und sieben Privatpersonen – darunter auch der Rechtsanwalt von Edward Snowden und einige Journalistinnen und Journalisten – gelangten 2017 an den Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Zusammengefasst dargestellt verlangten sie die Einstellung der Funk- und Kabelaufklärung durch den NDB und durch weitere Stellen. Ausserdem verlangten sie vom NDB die Feststellung, wonach die Funk- und Kabelaufklärung die Grundrechte gemäss Bundesverfassung und Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) verletze.

Der NDB antwortete, er könne der Forderung nicht entsprechen. Also erhoben die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses kam 2019 zum Schluss, dass sie keinen Anspruch auf materielle Behandlung ihrer Gesuche hätten. Der Entscheid wurde mit Verweis auf das datenschutzrechtliche Auskunftsrecht begründet.

Dagegen erhoben die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller erneut Beschwerde – und bekamen am 1. Dezember 2020 vor Bundesgericht recht. Der Fall geht nun zurück an das Bundesverwaltungsgericht, das prüfen muss, ob die von den Gesuchstellern vermutete Bearbeitung ihrer Daten im aktuellen System der Funk- und Kabelaufklärung des NDB ihre Grundrechte gemäss Bundesverfassung (BV) und Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Zudem muss das Bundesverwaltungsgericht prüfen, welche Rechtsfolgen im Falle einer eventuellen Verletzung der Grundrechte entstehen.

Dabei sind aber nicht nur die gesetzlichen Grundlagen zu berücksichtigen, sondern auch allfällige interne Richtlinien und Weisungen, die effektive Vollzugspraxis der Behörden und die tatsächliche Kontrollpraxis der Aufsichtsbehörden.

Das Recht auf wirksame Beschwerde

Die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller haben aufgrund Artikel 13 der EMRK Anspruch auf die Prüfung ihrer Gesuche. Der Artikel behandelt das Recht auf wirksame Beschwerde: «Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben.»

Damit hat jede Person, die in vertretbarer Weise behauptet, Opfer einer Konventionsverletzung zu sein, das Recht, bei einer nationalen Instanz eine wirksame Beschwerde einzureichen.

Problem: Geheime Überwachungssysteme

Zudem betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung die zentrale Bedeutung des innerstaatlichen Rechtsschutzes bei der Überprüfung von geheimen Massenüberwachungssystemen. Das Gesamtsystem muss mindestens von einer unabhängigen Behörde geprüft werden können, bevor Betroffene mit einer individuellen Beschwerde beim EGMR vorstellig werden können.

Im vorliegenden Fall haben die Beschwerdeführenden in vertretbarer Weise eine mögliche Verletzung ihrer Grundrechte gemäss BV und EMRK geltend gemacht. Betroffen ist unter anderem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zudem besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der NDB Daten, die die Beschwerdeführenden betreffen, im Rahmen der Funk- und Kabelüberwachung bearbeitet.

Das Problem: Die Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller haben keine Möglichkeit, eine konkrete, sie betreffende Massnahme der Funk- und Kabelaufklärung anzufechten. Denn diese Massnahmen sind geheim, Betroffene erhalten auch im Nachhinein keine Informationen. Also sind die Beschwerdeführerinnen und -führer darauf angewiesen, das gesamte «System» der Funk- und Kabelaufklärung in der Schweiz überprüfen zu lassen. Ein Umstand, den das Bundesgericht in sein Urteil miteinbezog: «Unter diesen Umständen ist es den Beschwerdeführenden nicht möglich, konkrete, sie betreffende Massnahmen der Funk- und Kabelaufklärung anzufechten. Sie sind deshalb darauf angewiesen, das ‹System› der Funk- und Kabelaufklärung in der Schweiz überprüfen zu lassen»

Gegenstand der Prüfung ist aber nicht das Gesetz als solches: Das Gericht wird der Frage nachgehen, ob die vermutete Bearbeitung von Daten der Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller im aktuellen Gesamtsystem der Funk- und Kabelaufklärung ihre Grundrechte verletzt.

«Wegweisendes Urteil»

Erik Schönenberger, Geschäftsleiter der «Digitalen Gesellschaft», freut sich auf «digitale-gesellschaft.ch» über das Urteil: «Das höchste schweizerische Gericht stimmt uns in allen Punkten zu. Nun muss das Bundesverwaltungsgericht prüfen, ob die Funk- und Kabelaufklärung unsere Grundrechte verletzt. Wie das Bundesgericht einräumt, kann allenfalls das einzige Mittel, um einen wirksamen Grundrechtsschutz für die Beschwerdeführenden sicherzustellen, die Einstellung der Funk- und Kabelaufklärung sein.»

Die «Digitale Gesellschaft» bezeichnet die Kabelaufklärung, die mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz in der Schweiz legalisiert wurde, in einer Mitteilung als Teil «der anlasslosen und verdachtsunabhängigen Massenüberwachung durch den Schweizerischen Geheimdienst». «Das Bundesgericht anerkennt in seinem wegweisenden Urteil, dass die Kabelaufklärung eine Form der anlasslosen Massenüberwachung darstellt, von der jede Person potenziell betroffen ist. Es anerkennt, dass eine solche Massenüberwachung in die Grundrechte sehr vieler Personen eingreift und dass den Betroffenen ein wirksamer Rechtsschutz zur Verfügung stehen muss. Das Bundesgericht hält in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass bereits das elektronische Rastern von Daten einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, die durch die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt sind. Das Gleiche gilt für die Funkaufklärung, womit Kommunikation per Funk überwacht wird.»

Das aktuelle Verfahren ist Teil der strategischen Klagen der «Digitalen Gesellschaft». Neben diesem Verfahren ist am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits eine Beschwerde gegen die Massenüberwachung mittels Vorratsdatenspeicherung hängig.


Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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