SantAnnaLugano

In diesem Spital hat ein Chirurg eine falsch operierte Frau angelogen © cc

Proteste: Spitalskandal wird zum Medienprozess

Beat Allenbach /  Ein Chirurg entfernte einer Frau irrtümlich beide Brüste. Doch er log die Frau an und stritt den Fehler lange ab.

Fehler, auch gravierende, können passieren. Aber wenn der behandelnde Chirurg, sein Team und das Spital nicht zum Fehler stehen, der betroffenen Frau nicht die Wahrheit sagen und Fragen von Zeitungen nicht beantworten, dann muss von einem Skandal gesprochen werden.
Betroffen war am 8. Juli 2014 eine 67-jährige Patientin in der Tessiner Privatklinik Sant’Anna bei Lugano. Der Chirurg Piercarlo Rey entfernte ihr fälschlicherweise beide Brüste, weil er sie mit einer andern Patientin verwechselte.
Die Wochenzeitung «Il caffè» berichtete ausführlich. Jetzt wird es wegen übler Nachrede und wegen unlauterem Wettbewerb zum Prozess gegen die Zeitung und Redaktoren kommen.

Nach der Operation erklärte der Chirurg der Patientin, die für einen kleinen Eingriff an der Brustwarze im Operationssaal lag, die Situation sei schlimmer gewesen als angenommen, weshalb sich die Brustentfernung aufgedrängt habe.
In der Klinik, die zur Genolier-Gruppe gehört, war die Identifikation der Patienten und die Kontrolle der vorgesehenen Eingriffe nicht klar geregelt; erst nach dem katastrophalen Fehler liess die Direktion vor allen Operationssälen ein A4-Blatt mit klaren Anweisungen anheften. Über den verheerenden falschen Eingriff bewahrte auch die Privatklinik Stillschweigen.

Erst viel später sagte der Chirurg die Wahrheit

Der Chirurg sah die 67-jährige Frau nach drei Wochen nochmals, ohne ihr die Wahrheit zu sagen. Nachdem die Patientin Verdacht geschöpft hatte, wandte sie sich drei Monate nach dem Fehleingriff an die sanitarische Aufsichtskommission. Etwas später bestellte der Chirurg die Frau in die Klinik. Im Beisein des Verwaltungsratspräsidenten der Privatklinik, alt Nationalrat Fulvio Pelli, gestand der Chirurg den schwerwiegenden Fehler ein.
Nach dem fatalen 8. Juli operierte der Chirurg ungestört weiter. Erst fünfzehn Monate nach dem falschen Eingriff verfügte das Tessiner Gesundheitsdepartement, der Arzt dürfe während zweier Jahre seinen Beruf nicht mehr ausüben. Der Chirurg erhob Einsprache bis vor Bundesgericht; dieses entschied, der Chirurg dürfe bis zum Abschluss de Strafverfahrens gegen ihn nicht mehr operieren, aber sonst als Arzt tätig sein.

Patientin billigte einen Vergleich und zog ihre Klagen zurück

Im Frühling 2015 reichte die Patientin bei der Staatsanwaltschaft Klage gegen den Arzt ein, ein paar Monate später liess sie ihre Klage auf weiteres Personal im Operationssaal ausweiten. Anfang 2016 einigten sich die Patientin und der Chirurg auf eine Entschädigung von 280’000 Franken; an diesen Kosten beteiligten sich die Versicherungen des Chirurgen und der Klinik Sant’Anna; die Privatklinik schloss jedoch stets jede Verantwortung für den fatalen Fehler im Operationssaal aus. Im Rahmen des Vergleichs zog die Patientin ihre Klage gegen den Chirurgen zurück und verzichtete auf jede weitere Forderung.

«La Regione» brachte den fatalen Fehler an die Öffentlichkeit

Erst zehn Monate nach dem folgenschweren Fehler in der Privatklinik enthüllte die Tageszeitung «La Regione» den skandalösen Vorfall. Das Aufsehen in den Tessiner Medien war gross, und es stellten sich viele Fragen, z.B. zur Organisation und Patientenkontrolle im Operationssaal, zu den Ergebnissen der Inspektion, die der Kantonsarzt etwa vier Monate vor der schwerwiegenden Verwechslung durchgeführt hatte, zum Ausmass der Mitverantwortung der Klinik.

Klinik gab keine Auskunft, die Fragen seien tendenziös

Die Direktion der Klinik weigerte sich auch, Fragen von «il Caffè» zu beantworten, denn diese waren nach Aussage der Klinik «tendenziös». Sie lauteten, etwas verkürzt:

  1. Weshalb hat die Klinik den schweren Fehler nicht der sanitarischen Aufsichtskommission und der Staatsanwaltschaft gemeldet?
  2. Weshalb hat die Klinik es nicht für nötig befunden, den Arzt anzuhalten, auf Operationen nach dem schweren Fehler zu verzichten?

Die Gratis-Sonntagszeitung «il caffè», die den Verlagen Ringier und Rezzonico gehört, versuchte mit aufwendigen Recherchen Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Sie stützte sich auf Aussagen der Patientin, den Bericht der sanitarischen Aufsichtskommission des Kantons, auf öffentliche Dokumente und Verhörprotokolle. Zwischen dem Mai 2016 und dem 24. Juli 2016 berichtete «il caffè» sechsmal in grösserem Umfang über die Affäre, stets mit neuen Informationen und Aspekten, wie die Zeitung betont. Aufgrund dieser Berichte klagte die Klinik wegen wiederholter übler Nachrede und unlauterem Wettbewerb gegen vier Journalisten der Zeitung.

Strafmandate gegen Chefredaktor wegen übler Nachrede und unlauterem Wettbewerb

Die Klage der Privatklinik wurde sehr rasch von der Tessiner Staatsanwaltschaft an die Hand genommen. Der Wochenzeitung wurden zwar keine Falschinformationen vorgeworfen, aber das hartnäckige Suchen nach immer mehr Details und das Publizieren immer weiterer Artikel rechtfertigt nach Meinung des zuständigen Staatsanwalts eine Klage. Die Befragung der Journalisten erfolgte im Spätherbst, und kurz vor Jahresende war die Untersuchung abgeschlossen. Wie am Sonntag bekannt wurde, hat der Staatsanwalt vier Strafmandate erlassen. Die vier Journalisten wurden alle der wiederholten üblen Nachrede für schuldig befunden, und es werden bedingt erlassene Geldstrafen vorgeschlagen sowie Bussen und Justizgebühren.
Der Chefredaktor wurde zudem für schuldig befunden, das Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb verletzt zu haben. Bereits haben die vier Journalisten Einsprache gegen das Strafmandat erhoben. Es wird deshalb zum Prozess kommen, der auf grosses Interesse stossen wird.
Das rasche Vorgehen gegen die Medienleute unterscheidet sich stark vom Vorgehen gegen den Arzt, denn nach annähernd zwei Jahren ist dessen Strafverfahren noch nicht abgeschlossen. Nach Angaben von «il Caffè» leistete die Staatsanwaltschaft dem Begehren des Arztes, auch die Mitverantwortung anderer Personen und der Klinik abzuklären, keine Folge, obschon der Chirurg beteuerte, er sei doch nicht allein verantwortlich für den Fehler.

Appell zugunsten der Pressefreiheit

Gegen die im Dezember angekündigte Anklage, protestiert «il Caffè» mit einer Unterschriftensammlung in Form eines Appells zugunsten der Pressefreiheit. Ein Strafverfahren gegen den Chefredaktor, seinen Vize und zwei Journalisten wegen übler Nachrede und unlauterem Wettbewerb, obschon ihnen keine Falschinformationen vorgeworfen würden, sei einmalig, heisst es im Appell. Das stelle eine schwere Gefahr für die Pressefreiheit im Tessin dar. Zu den über 2650 Unterzeichnern des Appells gehören u.a. Politiker, Unternehmer und Journalisten. Der ehemalige Präsident des Stiftungsrats des Schweizer Presserats, Enrico Morresi, zeigt wenig Verständnis für eine Anklage wegen unlauterem Wettbewerb.
———————

  • In den nächsten Tagen berichtet Infosperber, dass die Schweiz das einzige demokratische Land ist, in dem Medien und Journalisten wegen unlauteren Wettbewerbs angeklagt und verurteilt werden können. Der aufsehenerregendste Präzedenzfall war die Verurteilung des Kassensturzes (SRG) zum Zahlen einer Schadenersatzforderung von 480’000 Franken.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Wehret den Anfängen, denn funktionierende Rechtssysteme geraten immer wieder in Gefahr.

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2 Meinungen

  • am 8.03.2017 um 12:07 Uhr
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    Das ist wirklich ein dicker Hund. Da ist eine Privatklinik so schlecht organisiert, dass einer Patientin körperlich gravierendes Leid zugefügt wird und dann werden nicht in allererster Linie die Klinikleitung und der Operateur von der Justiz verfolgt sondern die Medien, die zum Glück darüber berichten. Ist das Tessin eigentlich eine Bananenrepublik?

  • am 8.03.2017 um 17:52 Uhr
    Permalink

    Es ist traurig zu lesen, dass ein Arzt einen unglaublichen Kunstfehler vorerst abstreitet, kurzum lügt, und weiterhin praktizieren darf. Wie hat das Bundesgericht das Medizinalberufegesetz interpretiert? Die Tessiner Ärztegesellschaft sollte diesen Arzt vor die Standeskommission bringen und ihn als Mitglied ausschliessen. Solange er Mitglied ist, ist die Tessiner Ärztegesellschaft so schwarz wie dieser Arzt (frei nach Tucholsky).
    Es stinkt nach Filz, wenn man nun das harsche Vorgehen gegen die Zeitung «il Caffè» betrachtet.

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