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Der Prozess vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona dauerte nur zweieinhalb Tage © fg

Bundesanwalt fordert Freispruch für Drogenfahnder

Frank Garbely /  Im Prozess gegen den Tessiner Drogenfahnder «Tato» prangerte der Bundesanwalt die groben Fehlleistungen der Bundesanwaltschaft an.

Ende September standen zwei hochrangige Polizisten vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona: Der ehemalige Leiter der Tessiner Drogenfahndung Fausto Cattaneo, berühmt geworden als V-Mann und Autor des Bestsellers «Deckname Tato», und neben ihm Hauptkommissar Christian Hochstaettler, zurzeit einer der Chefs der Waadtländer Sicherheitspolizei (siehe Infosperber: Drogenfahnder beschuldigen einander der Korruption). Der dritte Angeklagte, der südamerikanische Polizei-Informant Carlos, fehlte. Er wird per Haftbefehl gesucht.

Den Angeklagten wird vorgeworfen, den Ex-Bundespolizisten Sergio Azzoni zu Unrecht der Geldwäscherei und des Drogenhandels beschuldigt zu haben. Und: Sie hätten die Ermittlungsbehörden mit Falschinformationen irregeführt und so angestiftet, einen Unschuldigen zu verhaften, den damaligen Bundespolizisten Azzoni, der auch für den Prozess vorgeladen war und der als Zeuge Rede und Antwort stehen sollte. Doch er ist nicht erschienen. In letzter Minute musste er seine Teilnahme absagen. Er ist erkrankt.

Die Ermittlungen zogen sich über 13 Jahre hin, aber der Prozess* dauerte nur zweieinhalb Tage. Der folgende Bericht über den Prozess beschreibt detailliert die groben Fehlleistungen der Bundesanwaltschaft.

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* Nachtrag vom 21. Oktober 2015: Das Bundesstrafgericht hat heute beide Angeklagten vollumfänglich freigesprochen.

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«Alles falsch», erklärt zur allgemeinen Überraschung Bundesanwalt Jürg Blaser in seinem Plädoyer vor dem Bundestrafgericht. Als Vertreter der Anklage fordert er nicht etwa eine Verurteilung der Angeklagten, im Gegenteil, er beantragt Freispruch in allen Punkten. Um sich besser verständlich zu machen, steckt er noch einmal den Rahmen der Prozess-Geschichte ab – und die ist brisant:


Bundesanwalt Jürg Blaser: Brisanter Rückblick

Aus Sicht von Bundesanwalt Jürg Blaser hatte alles in den Jahren 1991 – 1992 angefangen, als französische, brasilianische und ein paar Tessiner Polizisten auf Fausto Cattaneo losgingen und ihm Korruption vorwarfen. Cattaneo wurde in der Folge als Chef der Drogenfahndung des Kantons Tessin abgesetzt und vom Dienst suspendiert. Der abgehalfterte Cattaneo antwortete mit dem internen Bericht «Mato Grosso» (Name eines Bundesstaats im Südwesten von Brasilien; Anm. d. A.), in dem er behauptete, er sei Opfer einer Intrige, weil er Ermittlungsmethoden französischer und brasilianischer Drogenfahnder als illegal bezeichnet und öffentlich kritisiert habe.

Im Bericht «Mato Grosso» und vor allem später in seinem Buch «Deckname Tato» schilderte er mehrere illegale Polizeioperationen in Frankreich, wo Polizisten als Drogenverkäufer auftraten; die verkauften Drogen, jeweils 50 bis 70 Kilo Kokain, stammten aus einem brasilianischen Polizeidepot. Laut Cattaneo waren bei solchen illegalen Einsätzen in Frankreich auch Tessiner Polizisten beteiligt gewesen, unter anderem der damalige Bundespolizist Sergio Azzoni. Cattaneo forderte ein Ende dieser illegalen Polizeieinsätze und vor allem auch eine Strafuntersuchung gegen Azzoni, der seinerseits Cattaneo wegen Verleumdung verklagte.

Bundesanwalt Reinmann drehte den Spiess um

Ende 2002 meldete sich bei Cattaneo überraschend ein Zeuge, der bei den illegalen Polizeioperationen in Frankreich als V-Mann eine wichtige Rolle gespielt hatte: der Brasilianer Guillermo Villacorta Bravo, genannt Carlos. Er war sogar bereit, als Zeuge auszusagen. Darauf liess Cattaneo ihn in die Schweiz kommen. Der Waadtländer Hauptkommissar Christian Hochstaettler, ein Freund Cattaneos, schaltete Bundesanwalt Edmond Ottinger vor, der sich sofort für den Zeugen Carlos interessierte. Und der südamerikanische Polizeispitzel sang wie ein Vogel. Er bestätigte nicht nur Cattaneos Ausführungen über die illegalen Polizeioperationen in Frankreich, sondern er ging sogar entschieden weiter. Er berichtete zusätzlich von einem Dutzend illegaler Einsätze in Italien. Und vor allem: Er belastete Sergio Azzoni schwer.

Zwölf Jahre lang hat sich die Bundesanwaltschaft mit den von Cattaneo und Carlos denunzierten illegalen Polizeioperationen herumgeschlagen. Zuerst Bundesanwalt Ottinger. Er liess den Bundespolizisten Azzoni verhaften, beschuldigte ihn zuerst des Drogenhandels und der Geldwäsche, stellte aber das Verfahren schliesslich ein. Nach Ottinger kam Bundesanwalt Félix Reinmann und drehte den Spiess um: Er knüpfte sich jene Herrschaften vor, die den Bundespolizisten Azzoni denunziert hatten. Er liess Cattaneo verhaften und erhob Anklage gegen den Waadtländer Hauptkommissar Hochstaettler sowie den südamerikanischen Zeugen Carlos wegen Falschaussagen und Irreführung der Justiz.

Eine Ansammlung von Pleiten, Pech und Pannen

Als Prozess-Beobachter gewinnt man den Eindruck, dass die Bundesanwaltschaft den alten Fall so schnell wie möglich loswerden möchte. Der Meinungswandel der Bundesanwaltschaft zeichnete sich bereits im Frühsommer ab. Zuerst war der Prozess auf Mitte Juni angesetzt und sollte ganze vier Wochen dauern. Und es war vorgesehen, dass Bundesanwalt Félix Reinmann die Anklage vertrat. Logisch, denn er war es, der zuletzt ermittelt und der auch die Anklageschrift verfasst hatte.

In letzter Minute musste der Gerichtstermin auf Ende September verschoben werden. Grund: Bundesanwalt Michael Lauber hatte Reinmann als Bundesanwalt abgesetzt – wegen ungenügenden Leistungen, wie es hiess. Und Bundesanwalt Lauber ernannte Jürg Blaser zu Reinmanns Nachfolger im Prozess gegen Cattaneo und Hochstaettler. Nach Blasers Ernennung zum Ankläger wurden für die Prozessdauer statt vier Wochen auf einmal nur noch vier Tage anberaumt. Schliesslich dauerten die Verhandlungen gerade mal zweieinhalb Tage.
Als Jürg Blaser seinen Antrag «Freispruch in allen Punkten» begründet, wird schnell klar, warum er den Fall am liebsten vergessen machen möchte: Die Ermittlungen der Bundesanwälte Ottinger und Reinmann entpuppen sich als eine Ansammlung von Pleiten, Pech und Pannen.

Bundesanwalt Blaser attackiert seine Vorgänger

Eine Stunde lang nimmt Bundesanwalt Blaser die Anklageschrift auseinander, Punkt für Punkt – und findet keinen guten Faden. Blasers Ausführungen geraten zu einer vernichtenden Kritik an der eigenen Behörde. Die Verteidiger der Beschuldigten hätten die Anklageschrift nicht schonungsloser verreissen können. Blaser weist seinen Vorgängern, den beiden Bundesanwälten Ottinger und Reinmann, zum Teil ziemlich happige Fehler nach: Unkorrekte Auslegung des Gesetzes, falsche Beurteilung der Sachverhalte und besonders gravierend: einseitige Ermittlung.

«Eigentlich hätten die Ermittlungen längst eingestellt werden müssen», ist Bundesanwalt Blaser überzeugt. Das geschah nur deshalb nicht, so Blaser weiter, weil die Ermittler sich getäuscht hätten: «Bundesanwalt Ottinger ging von ungenauen und zum Teil sogar falschen Informationen aus. Sein Nachfolger Reinmann stützte sich auf diese falsche Analyse.»

Verteidigung wies auf haarsträubende Mängel hin

Vor Bundesanwalt Blaser wiesen bereits die Verteidiger auf haarsträubende Mängel der Ermittlungen hin. «Das Recht der Verteidigung wurde mit Füssen getreten», klagt Niccolò Salvioni, Cattaneos Anwalt. Bei Einvernahmen seines Klienten durfte er nicht dabei sein, und es hätte keine Gegenüberstellungen gegeben. Salvioni behauptet, die Ermittler hätten mit Zeugen gesprochen, aber häufig keine Protokolle erstellt. Es wäre auch vorgekommen, dass Protokolle erst mehrere Monate später, frei aus dem Gedächtnis, geschrieben wurden. Cattaneos Verteidiger tut ganz verzweifelt, wird sogar laut, wenn er auf die Selbstherrlichkeit der Bundesanwälte zu sprechen kommt: «Wir hatten die längste Zeit keinen Zugang zu den Akten. Bis heute dürfen wir zahlreiche Ermittlungsunterlagen nicht einsehen, bei vielen Dokumenten wurden ganze Passagen abgedeckt oder eingeschwärzt».


Fausto Cattaneo und sein Anwalt Niccolò Salvioni: Ganz verzweifelt

Als Salvioni endlich Einsicht in die Akten erhielt, traute er seinen Augen nicht. Zahlreiche Beweismittel seines Klienten fehlten. Dokumente, die Cattaneos Aussagen bestätigten, hatte Bundesanwalt Ottinger als unwichtig eingestuft und verworfen. Es handelte sich meist um Unterlagen in italienischer Sprache, zum Beispiel amtliche Dokumente aus dem Tessin. Aber Bundesanwalt Ottinger versteht kein Italienisch, «nicht mehr als Guten Tag und Auf Wiedersehen», wie er selber zugibt.

Laut Salvioni war Ottinger als Bundesanwalt schlicht überfordert. Es war sein erster Fall als Bundesanwalt. Zuvor war er zwar lange Jahre Untersuchungsrichter in der Waadt gewesen. Ein guter sogar. Doch mit der neuen Prozessordnung bei der Bundesanwaltschaft kam er nur schlecht zurecht. Vielleicht lag das auch daran, dass er nie Jus studiert hatte. Er ist gelernter Kriminologe. Während seiner Ausbildung an der Universität Lausanne besuchte er lediglich ein paar Vorlesungen über Strafrecht.

Ex-Bundesanwalt Ottinger ruiniert die Anklage endgültig

Am zweiten Tag erscheint im Zeugenstand ein kleiner rundlicher Herr mit kahlrasiertem Schädel: Der frühere Bundesanwalt Ottinger. Inzwischen pensioniert. Er nennt sich «juristischer Berater», aber eigentlich interessiert er sich nur noch für seine Brassband, die er dirigiert und für die er Arrangements schreibt.

Wer glaubt, dass mit Ottinger endlich jemand ein paar Argumente für die Anklage liefert, sieht sich gleich getäuscht. Es ist ausgerechnet dieser ehemalige Ermittler, der die Anklage endgültig ruiniert. Verteidiger Stefan Disch, Anwalt des Waadtländer Polizeikaders Christian Hochstaettler, hilft ihm dabei.


Ex-Bundesanwalr Edmond Ottinger: Ein leises Raunen

Die Anklageschrift wirft dem Waadtländer Polizisten vor, er hätte die Ermittler manipuliert, indem er über Azzoni und die illegalen Drogenermittlungen mehrere Rapporte schrieb. Ex-Bundesanwalt Ottinger bestätigt: «Stimmt, Hochstaettler lieferte mehrere Berichte. In meinem Auftrag. Ich hatte ihm das Mandat erteilt, alle irgendwie greifbaren Informationen über Azzoni und die umstrittenen Polizeimethoden zu sammeln. Er arbeitete für mich».

Ein leises Raunen und Murren geht durch die Reihen. In dieser Ermittlung wusste offensichtlich der eine Bundesanwalt nicht, was der andere tat. Wie konnte Ottingers Nachfolger Reinmann übersehen, dass Polizist Hochstaettler im Auftrag der Bundesanwaltschaft gehandelt hatte!

Vorwurf der Freiheitsberaubung ist unhaltbar

Noch krasser wird es beim Vorwurf der Freiheitsberaubung. Die Anklageschrift, verfasst von Bundesanwalt Reinmann, wirft den Angeklagten vor, sie seien schuld, dass der damalige Bundespolizist Azzoni zu Unrecht verhaftet wurde. Zeuge Ottinger widerspricht entschieden: «Ich liess den Bundespolizisten Sergio Azzoni verhaften. Hochstaettler und Cattaneo hatten mit diesem Entscheid nicht das Geringste zu tun, im Gegenteil, es war Azzoni selber, der mich dazu zwang.» Die Untersuchung gegen Azzoni wäre ausserordentlich heikel gewesen, erklärt Ottinger. Die Bundesanwaltschaft ermittelte gegen einen eigenen Mitarbeiter und erst noch wegen des Verdachts auf Drogenhandel und Geldwäsche.

Unter keinen Umständen durfte etwas in die Öffentlichkeit durchsickern. Ottinger und sein Chef befürchteten ein Aufsehen, hausintern vielleicht sogar einem Aufstand. Alles war topgeheim. Selbst bei der Bundesanwaltschaft wussten nur drei oder vier Leute Bescheid. Ottingers Ermittler wurden speziell abgeschottete Büros zugewiesen; Mitarbeiter bekamen Alias-Namen oder Codeziffern; Zeugen, die nicht erkannt werden sollten, hiessen Phantom, fortlaufend nummeriert. Und die ganze Operation lief unter dem Tarnnamen «Bidon», was auf Deutsch so viel heisst wie Witz, Unsinn oder Schwindel.

«Ermittlung Unsinn» mutiert zur «Operation Spinnennetz»

Aber eines Tages erhielt Bundespolizist Azzoni trotz aller Geheimhaltung Wind von der «Ermittlung Unsinn» («Enquête Bidon»). Und veranstaltete einen Riesenwirbel: er rannte zu seinen Vorgesetzten bis hinauf zum Bundesanwalt, verlangte Auskunft, drohte sogar. Dazu Zeuge Ottinger: «Er wütete wie ein wildgewordener Stier. Ich hatte keine Wahl, ich musste ihn für ein paar Tage aus dem Verkehr ziehen, denn er gefährdete die Ermittlung.»


Ex-Bundespolizisten Sergio Azzoni: Riesenwirbel

Die beiden Verteidiger nicken sich zufrieden zu. Für sie scheint klar: Mit dieser Aussage Ottingers ist die Anklage wegen Freiheitsberaubung wohl endgültig vom Tisch. Wieder wurde Bundesanwalt Reinmann der Einseitigkeit überführt. In seiner Anklageschrift unterschlug er Ottingers Darstellung und hörte nur auf Azzonis, der allein die Angeklagten für seine Verhaftung verantwortlich machte.

Diese Einseitigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch Reinmanns Ermittlungen. Anfang September 2004 stellte Bundesanwalt Ottinger das Verfahren gegen Azzoni ein. Ziemlich genau ein Jahre später griff Reinmann den Fall neu auf. Aus der «Ermittlung Unsinn» («Enquête Bidon») wurde die «Operation Spinnennetz» («Enquête Ragnatela»). Reinmann knüpfte sich all jene vor, die den Bundespolizisten Azzoni angeschwärzt hatten.

Schon seine erste Amtshandlung in der «Ermittlung Spinnennetz» verriet, dass Bundesanwalt Reinmann nur in eine Richtung ermitteln wollte. «Im Hinblick auf die Eröffnung eines gerichtspolizeilichen Verfahrens», gab er seinen Mitarbeitern den Auftrag, «in einem detaillierten Bericht alle Elemente aufzulisten, welche die Akteure der ‚Ermittlung Unsinn‘ belasten».

Dabei musste Bundesanwalt Reinmann wissen, dass er verpflichtet war, nicht nur belastendes, sondern auch entlastendes Material in seiner Ermittlung einzubeziehen. Bundesanwalt Jürg Blaser ist sichtlich genervt über die «unzulässige Arbeitsweise» seines Vorgängers Reinmann. Kein Zweifel, dieses einseitige Ermitteln ist einer der Hauptgründe, warum er einen Freispruch beantragt.

Der verschwundene Carlos sorgt für heisse Köpfe

Noch mehr als Reinmanns Einseitigkeit sorgt sein Umgang mit Carlos für heisse Köpfe. Der chilenisch-brasilianische V-Mann und Polizeispitzel Guillermo Segundo Villacorta Bravo, genannt Carlos, ist eine Schlüsselfigur dieses Prozesses. Alles dreht sich um ihn. Doch er ist der grosse Abwesende in Bellinzona. Das Gericht konnte ihn nicht vorladen. Niemand weiss, wo er abgeblieben ist.

Die Verteidiger sind wütend: Mit Carlos verlieren sie ihre schärfste Waffe. Der Angeklagte Fausto Cattaneo vermutet sogar einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Carlos und Reinmanns Vorgehen: «Was Reinmann machte, war unverantwortlich und für Carlos lebensgefährlich.»

In der Tat, die Berichte über Reinmanns Ermittlungen tönen ziemlich abenteuerlich. Zur Erinnerung. Carlos hatte mehrmals als Zeuge ausgesagt. Er bestätigte die Angaben von Cattaeno und Hochstaettler über illegale Polizeieinsätze in Frankreich, berichtete ebenfalls von illegalen Einsätzen in Italien und belastete den Bundespolizisten Azzoni.

Doch plötzlich nahm Carlos alles wieder zurück. Carlos hatte sich «spontan» bei Philippe Dayer, dem Schweizer Polizeiattaché in Brasilien gemeldet. Ein paar Tage später trafen sie sich in São Paulo zu einem Gespräch unter vier Augen. Laut Gesprächsnotizen von Dayer teilte Carlos ihm mit, er möchte seine Aussagen widerrufen, die er gegenüber Cattaneo und Bundesanwalt Ottinger gemacht hatte. Er, Carlos, sei missverstanden worden: «Noch nie habe ich in meiner langen Karriere als Polizeiinformant einen Polizisten denunziert.»

Zwei Zeugen auf offener Strasse niedergemäht

Verteidiger Stefan Disch will wissen: «Carlos meldete sich keineswegs spontan beim Polizeiattaché. Zuvor hatte er einen Anruf eines Bundespolizisten aus der Schweiz erhalten. Dieser Polizist hatte ihm anschliessend auch Geld überwiesen.»

Aufgrund des Gesprächsprotokolls von Polizeiattaché Dayer eröffnete Reinmann nun auch ein Verfahren gegen Carlos, wie schon gegen Cattaneo und Hochstaettler. Attaché Dayer informierte die brasilianische Polizei. Überhaupt spielte der Polizeiattaché eine zunehmend aktivere Rolle. Ungewöhnlich, denn Dayer war ein ziemlich guter Freund von Azzoni und eigentlich befangen.

Dann kam es knüppeldick für V-Mann Carlos: Reinmann erliess einen Haftbefehl und stellte ein Rechtshilfegesuch, um Carlos einzuvernehmen. Umgehend meldete Dayer: «Die brasilianische Polizei ist bereit, Carlos zu lokalisieren.» Was nach harmloser Ermittler-Routine tönt, kommt schon fast einem Todesurteil gleich. In der Tat, mit der Vorladung durch die brasilianische Polizei, erklärten sie Carlos praktisch für vogelfrei.

Zu diesem Schluss muss kommen, wer Bundesanwalt Ottinger zuhört. Auch Bundesanwalt Ottinger hatte Carlos einvernommen, zwei Mal in Brasilien: «Bei meinen Verhören in Brasilien war alles höchst vertraulich. Zwei Zeugen, die ich einvernehmen sollte, wurden kurz vor meiner Ankunft ermordet, auf offener Strasse mit einer Maschinengewehrsalve niedergemäht.» Es waren Leute, die in Verbindung standen mit jenen korrupten brasilianischen Polizisten, von denen Carlos gesprochen hatte. «Darum verlegten wir die Zeugeneinvernahmen ins schweizerische Generalkonsulat in São Paulo», sagt Bundesanwalt Ottinger: «Alles war sehr vertraulich. Es gab nicht einmal schriftliche Unterlagen. Nichts.»

Carlos macht einen spektakulären Rückzieher

Auch die brasilianische Rechtshilfe-Behörde wusste, dass Carlos gefährdet war. Dazu Ottinger: «Die für Rechtshilfe zuständige Beamtin hat mir gesagt, wenn sie mich erreichen wollen, benutzen sie bitte die E-Mail meines Partners, aber niemals meine offizielle E-Mail-Adresse.» Die Formalitäten des Rechtshilfegesuches wurden erst im Nachhinein erledigt.

Reinmann kannte die sehr speziellen Umstände, unter denen sein Vorgänger Ottinger in Brasilien gearbeitet hatte. Auf jeden Fall wussten es seine Mitarbeiter, sie gehörten bereits zum Team von Bundesanwalt Ottinger. Trotzdem traf Bundesanwalt Reinmann keine Sicherheitsmassnahmen. Carlos wurde von der brasilianischen Polizei geholt und zusammen mit jenen hohen Polizeibeamten befragt, die er zuvor wegen Korruption und illegalen Polizeimethoden denunziert hatte.

Nein, versicherte Zeuge Carlos, er könne sich nicht erinnern, dass bei der brasilianischen Bundespolizei, mit der er doch zusammenarbeite, je etwas krumm gelaufen wäre. Da wäre immer alles gemäss Gesetz und Vorschriften abgewickelt worden, das könne er bezeugen. Das Wort «Korruption», nein, das hätte er nie in den Mund genommen. Der Schweizer Ex-Polizist Cattaneo hätte alles missverstanden und verdreht.

Er, Carlos, hätte auch nie gesagt, dass Azzoni Geld gewechselt hätte, überhaupt wäre er nie Zeuge einer unkorrekten Handlung von Azzoni gewesen, im Gegenteil, er hätte Azzoni nur als äusserst korrekten und fähigen Polizisten in Erinnerung. Carlos‘ Loblied auf die brasilianische Bundespolizei und den Schweizer Drogenfahnder Azzoni zieht sich über vier, fünf, sechs Seiten des Verhörprotokolls hin.

Reinmann nahm Carlos‘ Widerruf für bare Münze

Bei der Einvernahme anwesend: Bundesanwalt Reinmann, auch Azzoni-Freund Dayer. Keiner fragte Carlos, warum er auf einmal seine Meinung geändert hat. Auch Reinmann stellte keine Fragen. Er nahm Carlos‘ Widerruf für bare Münze. Damit galt für ihn als bewiesen, dass Cattaneo, Hochstaettler und auch Carlos die Schweizer Ermittlungsbehörden mit falschen Informationen irregeleitet hatten. Bewiesen auch, dass sie Azzoni zu Unrecht wegen Drogenhandels und Geldwäsche denunziert hatten.


Polizeispitzel Carlos: Abgetaucht oder umgebracht?

Zwei Mal wurde Carlos in Brasilien einvernommen. Dann verschwand er, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Abgetaucht oder umgebracht? Die Meinungen gehen auseinander. Der Haftbefehl der schweizerischen Bundesanwaltschaft gegen Carlos indes gilt noch immer. Man ahnte es schon. Dieser Widerruf ist nicht das Papier wert, auf dem er protokolliert wurde – trotz Unterschriften brasilianischer und schweizerischer Magistraten.

In seiner ersten Aussage hatte Carlos viele Namen genannt, Zeitangaben gemacht, auch präzise Tatortbeschreibungen geliefert. Er hatte nicht nur mit Cattaneo gesprochen, sondern war auch mindestens drei Mal von Bundesanwalt Ottinger verhört worden. Und schliesslich hatte er bei der Bundesanwaltschaft eine 14-seitige Zusammenfassung seiner Aussage hinterlegt. Wie kann Cattaneo das alle gefälscht haben?

Die Prozessakten sind der reinste Irrgarten

Bundesanwalt Ottinger hatte Carlos nicht nur einvernommen. Mehr noch: Er und seine Polizisten hatten die Aussagen von Carlos während Monaten überprüft. Ottinger reiste nach Frankreich, beschaffte sich Unterlagen über die berühmten Polizeioperationen Nizza I und Nizza II, wo Polizisten mit Hilfe von Polizeispitzeln selber als Drogenverkäufer aufgetreten waren. Und: Zusammen mit seinen Mitarbeiten fuhr er wenigstens ein Dutzend Mal nach Italien. Was haben sie herausgefunden? Hatte Carlos bei seinen ersten Aussagen tatsächlich alles frei erfunden oder doch die Wahrheit gesagt?

Wenn man Bundesanwalt Ottinger antworten hört, traut man seinen Ohren nicht: «Alles, was Carlos über die illegalen Polizeieinsätze erzählte, stimmte, ausgenommen einzelne Angaben über Sergio Azzoni», erklärt Ottinger als Zeuge in Bellinzona. Bei Ottingers Nachfolger Reinmann liest es sich ganz anders. Man gewinnt den Eindruck: Bei den Ermittlern der Bundesanwaltschaft weiss die linke Hand nicht, was die rechte tut. Die Prozessakten sind der reinste Irrgarten und voller Überraschungen.

Ja, erklärt Zeuge Ottinger, bei den Operationen Nizza I & II verkauften Polizeispitzel im Auftrag der Polizei Drogen. Ja, die Drogen stammten aus einem brasilianischen Polizeidepot. Und Ja: Tessiner Polizisten, unter anderem Azzoni, waren in Nizza anwesend. Genau wie Carlos dies in seinen ersten Aussagen beschrieben hatte. «Diese Polizeioperationen in Nizza waren aus unserer Sicht illegal», sagt heute Zeuge Ottinger. Und er verblüfft mit erstaunlichen Einzelheiten aus seiner Ermittlung in Nizza. «Vor einer Übergabe bewahrte Azzoni die Drogen – ich glaube, es waren 60 oder 70 Kilo Kokain – eine Nacht lang in seinem Hotelzimmer auf. Das war zumindest sehr unvorsichtig», sagt Ottinger.

«Die offiziellen Polizeiprotokolle waren gefälscht»

Nachdem Catteno in seinem Bericht «Mato Grosso» Nizza I & II publik gemacht hatte, stellten Frankreich und Brasilien diese Operationen ein. Carlos behauptete in seinen ersten Aussagen, er und die anderen Polizeispitzel machten danach in Italien weiter. Und er wollte wissen: «Es war Sergio Azzoni, der die Kontakte zur italienischen Polizei knüpfte.» Ottinger bezeugt in Bellinzona: «Die Aussagen von Carlos trafen auch was Italien betrifft zu. Sie waren so präzise, dass die italienische Polizei sofort die entsprechenden Ermittlungsprotokolle fand. So erfuhren wir von mindestens zehn illegalen Polizeioperationen in Italien.»

«Aber es gab ein Problem», erzählt Zeuge Ottinger weiter: «Die offiziellen Polizeiprotokolle waren gefälscht.» Wie bei Nizza I & II hiess es in den Protokollen: Die Drogen wurden beschlagnahmt, aber die Drogenverkäufer konnten mit dem Erlös aus dem Drogenverkauf entkommen. Das entsprach nicht der Wahrheit. Die Drogenverkäufer waren Polizeispitzel, einer von ihnen Carlos, die im Auftrag der Polizei handelten. Das Geld aus dem Drogenverkauf übergaben die Polizeispitzel der Polizei. Genauso wie Carlos dies geschildert hatte. Sogar die Behauptung von Carlos traf zu, dass Azzoni für die italienische Polizei Geld gewaschen hatte. Laut Ermittlungsunterlagen hatte Azzoni tatsächlich mehrmals für die italienische Polizei in Lugano Geld gewechselt und gewaschen.

Azzoni setzte sogar seine Frau als Geldkurierin ein

Wieso brauchte eine italienische Polizeibehörde die Hilfe eines Schweizer Polizisten, um Lire gegen Dollar zu tauschen? Ganz einfach, erklärt Ex-Bundesanwalt Ottinger: «Es durfte keine Spuren dieses Geldes geben, denn in den Polizeiprotokollen stand: Die Drogenhändler entkamen mit dem Gewinn aus dem Drogenverkauf.»

Mit den von Azzoni eingetauschten Dollar wurden die Polizeispitzel und Drogenlieferanten bezahlt. In einem Fall setzte Azzoni sogar seine Frau als Geldkurier ein. Sie flog nach Brasilien, im Gepäck 10‘000 Dollar für einen Drogenhändler, der gelegentlich als Polizei-Informant arbeitete.

Laut Bundesanwalt Ottinger konnte Azzoni für seine Eskapaden in Frankreich und Italien nicht belangt werden, weil er jeweils auf Anweisung seiner Vorgesetzten gehandelt hatte. Wer die Vorgesetzten waren, wollten weder Bundesanwalt Ottinger noch sein Nachfolger Reinmann wissen. Es wurde auch nicht untersucht, welche Schweizer Behörde Azzoni erlaubte hatte, für die italienische Polizei Drogengelder zu waschen. In einem Polizeibericht der «Ermittlung Unsinn» heisst es schlicht: «Es ging um Prämien in der Höhe von 15 bis 30 Millionen Lire, die für Polizei-Informanten bestimmt waren. In Absprache mit dem Bundesanwalt haben wir dieses Dossier nicht näher untersucht.»

Streit zwischen Carla Del Ponte und Dick Marty flackert auf

Und immer wieder flackert der Streit zwischen den beiden früheren Tessiner Staatsanwälten Carla Del Ponte und Dick Marty auf. Dann wird es schnell schmutzig. Mitarbeiter von Bundesanwalt Ottinger hatten zwei Wochen nach seiner Verhaftung Azzoni über seine Italien-Einsätze befragen wollen, darauf gab der ihnen zu verstehen, sie würden besser andernorts suchen: «Azzoni erklärte uns, was Korruption anbelangt, hätten (die Tessiner Staatsanwälte a.d.A.) Ducry und Marty sich ernsthafte Sachen vorzuwerfen: Italien, Kokain, Frauengeschichten», so ein von der Verteidigung zitiertes Dokument aus der «Ermittlung Unsinn».


Dick Marty und Carla Del Ponte: Keine Freunde

In einer frühen Phase des Streites Azzoni/Cattaneo hatte sich sogar Carla Del Ponte persönlich eingeschaltet. Kaum war sie Bundesanwältin in Bern, leitete sie gegen Cattaneo ein Verfahren wegen wirtschaftlicher und politischer Spionage ein. Als Anlass für die Verfahrenseröffnung diente: Die italienische Presseagentur Ansa hatte gemeldet, dass Cattaneo in Mailand mit einem führenden Politiker der Lega Nord über Berlusconi gesprochen hatte. Die Ermittlungen wurden später sang- und klanglos eingestellt. Allerdings: Zuvor hatte Del Ponte über ein halbes Jahr lang Cattaneos Telefon abgehört, auch das Handy seiner Frau sowie die Büronummer eines mit Cattaneo befreundeten Bundespolizisten.


Verfügung von Carla Del Ponte gegen Fausto Cattaneo (vergrössern)

Während den Prozessverhandlungen in Bellinzona kommen ein, höchstens zwei Dutzend Dokumente zur Sprache. Doch die Prozessakte mit den beiden Ermittlungen «Unsinn» und «Spinnennetz» umfassen mehrere 10‘000 Seiten. Man kann es Bundesanwalt Michael Lauber nachfühlen, warum er den Fall Azzoni/Cattaneo möglichst schnell vom Tisch haben will.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Frank Garbely war Redaktor beim Schweizer Fernsehen (1988 – 1997) und Mitarbeiter des Politmagazins «Mise au point» der Télévision Suisse Romande. Seit 1998 ist er freier Fernsehjournalist und Filmemacher. Er hat immer über das Wirken der Geheimdienste berichtet. 1997 drehte er für das Schweizer Fernsehen den Dokumentarfilm «V-Mann Tato – Der gejagte Jäger».

Zum Infosperber-Dossier:

Polizei1

Justiz, Polizei, Rechtsstaat

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