Sperberauge

Blocher gegen Verfassungsgericht

Urs P. Gasche © Peter Mosimann

upg /  Die Bundesverfassung soll «oberste Rechtsquelle» sein – nur nicht für das Parlament. Das ist unglaubwürdig.

SVP-Vizepräsident Christoph Blocher jammerte am Mittwoch in Bern, diverse Volksinitiativen, die gegen den Widerstand von Parlament angenommen wurden, würden nicht oder nur mit Verzögerung umgesetzt. Mit andern Worten: Das Parlament foutiere sich um Vorgaben der Bundesverfassung.
Diese «oberste Rechtsquelle» will die SVP lediglich dem «nicht zwingenden Völkerrecht» voranstellen. Die Eidgenössischen Räte jedoch sollen sich auch in Zukunft nicht an unsere Bundesverfassung als oberste Rechtsquelle halten müssen. Erlassene Gesetze dürfen der Bundesverfassung weiterhin widersprechen, diese verletzen, ohne dass irgendeine Instanz, geschweige denn eine Bürgerin oder ein Bürger sich dagegen wehren kann.
Denn anders als in fast allen demokratischen Ländern gibt es in der Schweiz kein Verfassungsgericht, das Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen kann. Wenn es der SVP mit der Bundesverfassung als «oberster Rechtsquelle» ernst wäre, müsste sie in erster Linie ein Verfassungsgericht fordern.
Als Vorwand, ein solches Verfassungsgericht abzulehnen, dient den Parlamentariern die angebliche Unvereinbarkeit mit der direkten Demokratie. Beispiele von US-Bundesstaaten wie Kalifornien, wo die direkte Demokratie ähnlich ausgestaltet ist wie in der Schweiz, beweisen jedoch, dass ein Verfassungsgericht seine Funktionen bestens erfüllen kann.
Beispiele von halbtoten Verfassungsartikeln
Ein kürzlich hier gezeigtes Beispiel ist der Verfassungsartikel zum Konsumentenschutz («Schneider-Ammans Regelungswut gegen Sara Stalder»): Den von den Konsumentinnen und Konsumenten erkämpften Verfassungsauftrag haben Parlament und Bundesrat für ein Gnadenbrot und eine Bevormundung der eh schon schwachen Konsumenten-Lobby missbraucht.
«Schutz vor lästigen Einwirkungen»
Ein weiteres Beispiel ist Art. 74 der Bundesverfassung: «Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen». Der Bundesrat hat diesen Artikel in einer Verordnung so umgesetzt, dass der Lärm von Jumbo-Jets täglich um 06.00 Uhr in einer Höhe von 300 Metern über den Schlafzimmern kein «lästiger» Lärm ist. Das hat zur Folge, dass die betroffenen Anwohner ihre Schallschutzfenster und -massnahmen selber zahlen müssen (siehe «Flughafen Zürich lässt Lärmopfer selber zahlen» vom 21.8.2013).
«Geordnete Besiedlung»
Weiteres Beispiel: Artikel 75 der Bundesverfassung schreibt vor, dass der Bund zur «zweckmässigen und haushälterischen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedlung des Landes» «Grundsätze der Raumplanung festlegen» muss. Auch hier ist die Verfassung weitgehend Makulatur geblieben, wie ein Augenschein in fast allen Gebieten der Schweiz beweist.
Die vom Volk angenommene Alpenschutz-Initiative haben wir noch gar nicht erwähnt.

Siehe


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Keine

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Polizei1

Justiz, Polizei, Rechtsstaat

Wehret den Anfängen, denn funktionierende Rechtssysteme geraten immer wieder in Gefahr.

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14 Meinungen

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 13.08.2014 um 20:34 Uhr
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    @Bregy.
    Christoph Blocher, die SVP und andere Parteien haben ein Verfassungsgericht stets abgelehnt. Also waren sie dafür und sind es immer noch, dass sich die Räte nicht an die Verfassung als «oberste Rechtsquelle» halten müssen. Es waren übrigens die SVP-Parlamentarier, die mit dafür sorgten, dass die Verfassung in den von mir angeführten Beispielen mit Füssen getreten wurde und wird.

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 13.08.2014 um 21:20 Uhr
    Permalink

    @Bregy. Alle Staaten, welche die Demokratie hoch halten, haben ein Verfassungsgericht. In den USA haben sogar alle US-Bundesstaaten ein Verfassungsgericht. In der Schweiz haben die Kantone auch Kantonsverfassungen, aber keine Verfassungsgerichte. Kalifornien beweist, dass direkte Demokratie mit einem Verfassungsgericht durchaus kompatibel ist. Verfassungen verkommen sonst wie in der Schweiz zu einem Fetzen Papier, auf das man sich am 1. August stolz zeigt. Christoph Blocher kann man zugute halten, dass er den Stellenwert der Bundesverfassung zur öffentlichen Diskussion macht. Auch das Verhältnis zum Völkerrecht muss klarer geregelt werden. Es ist stossend, wenn Volksabstimmungen zugelassen werden, wenn deren Resultate nachher als völkerrechtswidrig in Frage gestellt zu werden.

  • am 14.08.2014 um 01:15 Uhr
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    Heute ist das Bundesgericht das Verfassungsgericht für die Kantone. Als Verfassungsgericht fur die Bundesebene fungiert faktisch dann Strassburg. Solange es eine Partei wie die SVP gibt tun wir gut daran, darauf nicht zu verzichten. Unser Lukaschenko-Doppelgänger will uns offensichtlich zu einem zweiten Weissrussland machen. Wenn es ihm um weniger fremde Richter ginge wäre ein eigenes Verfassungsgericht der logische Schluss.

    Werner T. Meyer

  • am 14.08.2014 um 05:41 Uhr
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    Wenn in einigen Fällen die Bundesverfassung nicht umgesetzt worden ist, ist das noch lange kein Grund, dies auch weiterhin so zu praktizieren.

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 14.08.2014 um 08:41 Uhr
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    @Werner T. Meyer.
    Das Bundesgericht prüft nur, ob ein kantonales Gesetz nicht gegen die Bundesverfassung verstösst. Aber es prüft nicht, ob es gegen die kantonale Verfassung verstösst. Oder liege ich da falsch?

  • am 14.08.2014 um 13:01 Uhr
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    @Urs P. Gasche, am 14. August 2014 um 08:41 Uhr. Das meinte ich so. Damit schirmt das Bundesgericht kantonale Fehler gegen Strassburg ab. Analog würde ein CH-Verfassungsgericht schweizerische Fehler erstinstanzlich abfangen abfangen. Richtig?

    Werner T. Meyer

  • am 14.08.2014 um 13:05 Uhr
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    Ein spannender Fussball-Match, oder ist es eher ein Boxkampf! Wieder einmal schade für Infosperber, nach vielen ausgezeichneten Beiträgen zu anderen Themen!

    @Gasche: Vielleicht sollten Sie die Headline anpassen…

    "FDP, Blocher und Bregy gegen Verfassungsgericht"

    http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Stiefkind-Verfassungsgericht/story/11073919
    Olivier Bregy, am 14. August 2014 um 11:16 Uhr

    Dem ist nicht viel beizufügen, warum hat es Infosperber nötig, noch immer Blocher-Bashing zu betreiben? Dies sagt ein langjähriges FDP-Mitglied, das auch FDP-Mitglied bleiben wird!

    Wenn wir einst in der NATO und der EU sind (wir sind schon sehr nahe dran), können wir die Verfassungsgerichtsbarkeit ruhig einführen. Das sind offenbar die Ziele von Urs Gasche, also bitte reden Sie doch Klartext. Danke, Herr Gasche!

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 14.08.2014 um 16:38 Uhr
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    @Bregy. Sorry, wenn ich das sagen muss: Sie haben von den drei Gewalten wenig kapiert – einer der grössten Errungenschaften von Demokratien – sofern die Gerichte unabhängig sind von Exekutive und Legislative. Es entsteht der Eindruck, dass Sie einfach SVP-Argumente abschreiben. Die «Volkssouveränität» steht angeblich über allen andern Gewalten. Sobald das Volk aber einen der SVP unliebsamen Verfassungsartikel annimmt, soll kein Verfassungsgericht dafür sorgen müssen, dass das Parlament diesen Volkswillen respektieren muss (siehe Beispiele in meinem obigen Artikel). Da stimmt doch etwas nicht in der Argumentation.
    Den Titel lasse ich stehen, weil Christoph Blocher das Bundesgericht nur als «oberste Rechtsquelle» anerkennt, wenn es um die Abgrenzung zum Internationalen Recht geht. Wenn es dagegen um die Abgrenzung zum Parlament geht, will er nichts mehr davon wissen. Das ist der Inhalt meines Artikels.
    Die Haltung der andern Parteien hat in diesem Beitrag wenig zu suchen.

  • am 14.08.2014 um 18:23 Uhr
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    Urs Gasche sieht die Judikative als oberste Gewalt «eine der grössten Errungenschaften von Demokratien – sofern die Gerichte unabhängig sind von Exekutive und Legislative."

    Wie kann man davon ausgehen, dass die Gerichte unabhängig sind? Niemand ist unabhängig, selbst wenn er keiner Partei angehört. Die Journalisten sind nicht unabhängig, selbst wenn sie für eine unabhängige oder gar sich liberal nennende Tageszeitung arbeiten! Auch unsere Grossbanken und ihre Chefs sind nicht unabhängig. Und auch Richter werden von Lobbyisten bearbeitet.
    Demokratie ist die Herrschaft des Volkes und nicht die Herrschaft der Gerichte!

  • am 14.08.2014 um 20:43 Uhr
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    @ Bregy: Wir wollen ja Urs Gasche nicht noch mehr Kummer bereiten, aber mit der SVP zusammen wäre zumindest eine Mitte-Rechts-Regierung sichergestellt…..

  • am 14.08.2014 um 22:29 Uhr
    Permalink

    @ Bregy – schrieb: «Ich muss das Alles noch überlegen, Herr Gasche. «
    – wie kannst Du nachdenken und gleichzeitig sooooviel scheiben?
    Gewiss gibt es in der Juricativen Probleme, in der Legislativen auch, insbesondere sehr viel Abhängigkeit = Lobbyismus. Wahrscheinlich nirgends mehr als in den Parlamenten. Die Medien, «die 4. Macht» sind im Besitz von exremen Interessenvertretern, sie konditionieren des «souveräne» Volk…. wenn die 4. Macht intakt wäre, dann wäre ganz sicher jede Antiatominitiative von Volk und Ständen angenommen worden! – das weiss doch insbesondere der Bregy 😉
    Ich plädiere für «Plan B"

  • Portrait.Urs.P.Gasche.2
    am 15.08.2014 um 12:03 Uhr
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    @Bregy. Nicht das Parlament schafft Verfassungsartikel, sondern das Volk, manchmal gegen den Willen des Parlaments. Dann sollen die Lobbyisten im Parlament Volkeswille willkürlich interpretieren dürfen? Das soll lieber ein Verfassungsgericht tun, deren Mitglieder wenigstens keine direkten Lobbyisten sind und möglichst bis zur Pensionierung gewählt würden.

  • am 15.08.2014 um 12:06 Uhr
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    @ Bregy
    "@Lachenmeier; Wenn beim Gesetzgebungsprozess die Judikative das letzte Wort hat, soltte man besser von einer Juristokratie anstatt von einer Demokratie sprechen."
    Bitte nochmals nachdenken:
    Die Jurikative hat beim Gesetzgebungsprozess NICHTS zu sagen, schon gar nicht das letzte Wort. Die Jurikative kommt hingegen bei der Beurteilung des Handelns auf Gesetzeskonformität zum Zuge.
    Ich wünschte mir ein Verfassungsgericht, selbst wenn die Richter auch nicht fehlerfrei urteilen können. Parlament und Souverän habe immerhin die Möglichkeit neu und vor allem präziser zu legiferieren – wenns geht sogar widerspruchsfrei(?).
    Viele Probleme stammen von unpräzisen Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungstexten. Manchmal denke ich, es sei einfach Schlamperei, und manchmal denke ich, es sei Absicht, denn Unklarheiten geben Futter für Juristen und Anwälte…

  • am 5.04.2016 um 17:56 Uhr
    Permalink

    INFOSPERBER HAT ETWA EIN DUTZEND MEINUNGS-EINTRÄGE VON OLIVIER BREGY AUF SEINEN WUNSCH HIN GELÖSCHT.

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