BundesarchivBern

Das Bundesarchiv in Bern: Hier lagern die Urteile der Militärjustiz © sandstein/wikipedia

30 Jahre Sperrfrist für Urteile der Militärjustiz

Kurt Marti /  Die Urteile der Militärjustiz bleiben 30 Jahre unter Verschluss. Das widerspricht der Bundesverfassung und dem Bundesgericht.

Neulich nahm ich den Ordner mit der Aufschrift «Militär-Prozess» aus meinem Regal und musste feststellen, dass das Urteil, mit dem mich das Divisionsgericht 9A am 21. Mai 1986 zu sechs Monaten Gefängnis unbedingt verurteilt hatte, nicht mehr auffindbar war, weil ich es wahrscheinlich verlegt habe. Weil mich interessierte, wie die Militärrichter damals das vergleichsweise harte Urteil (nach Absolvierung der RS und zwei WK) begründeten und ich mich gar nicht mehr an den Inhalt erinnern konnte, fuhr ich am 24. Oktober 2017 nach Bern ins Bundesarchiv, wo die militärgerichtlichen Urteile archiviert werden. Dort erlebte ich zwei Überraschungen.

Erste Überraschung: Die Urteilsbegründung fehlt

Im Bundesarchiv händigte man mir eine Aktenmappe aus, in der sämtliche Urteile des Divisionsgerichts 9A vom 1. November 1985 bis 31. Oktober 1986 enthalten waren. Dabei musste ich – und auch das Personal des Bundesarchivs – erstaunt feststellen, dass mein Urteil beziehungsweise die Urteilsbegründung samt Strafmass in der Mappe nicht auffindbar war. Stattdessen fand ich nur zwei Seiten, nämlich die Deckblattseite mit den allgemeinen Angaben und Seite 14 mit dem «Rechtskraftvermerk und Vollziehungsbefehl», datiert auf den 22. Dezember 1986, erklärbar durch meinen Rekurs, den das Militärkassationsgericht erst ein halbes Jahr nach dem Urteil abgelehnt hatte.

Zweite Überraschung: Das Urteil ist noch unter Verschluss

Aus dem Datum 22. Dezember 1986 schloss ich, dass sich das vollständige Urteil möglicherweise in der Aktenmappe des folgenden Jahres mit den Urteilen vom 1. November 1986 bis 31. Oktober 1987 befinden könnte. Also gab ich die entsprechende Bestellung beim Bundesarchiv ein und erlebte die zweite Überraschung: Das Personal des Bundesarchiv erklärte mir am 24. Oktober 2017, dass diese Urteile laut dem Archivierungsgesetz noch unter der Sperrfrist von 30 Jahren stünden.

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Erklärung: Die Sperrfrist 31. Oktober gilt jeweils für sämtliche Urteile der Aktenmappe rückwirkend bis zum 1. November des Vorjahres. Für das erwähnte Datum meines Urteils vom 21. Mai 1986 lief die Sperrfrist also nicht am 21. Mai 2016 ab, sondern erst am 31. Oktober 1986 beziehungsweise für das oben erwähnte Datum vom 22. Dezember 1986 (Rekursentscheid) nicht am 22. Dezember 2016, sondern erst am 31. Oktober 2017.

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Am Tag meines Besuchs im Bundesarchiv (24. Oktober 2017) dauerte also die Sperrfrist inbezug auf das Datum des Rekursentscheids vom 22. Dezember 1986 noch bis am 31. Oktober 2017, das heisst noch eine Woche. Deshalb wollte ich Anfang November wieder kommen. Das gehe nicht, antwortete man mir, weil die Sperrfrist sicherheitshalber immer bis Ende Jahr verlängert werde. Aber wenn ich Einsicht in mein persönliches Urteil wolle, könne ich gemäss Archivierungsgesetz ein Spezialgesuch stellen, das an die Militärjustiz weitergeleitet werde. Das dauere in der Regel vier Wochen. Also gab ich dieses Gesuch ein und verlangte zusätzlich Einsicht in meine Prozessakten.

Unglaublich, aber wahr: Seit über zwei Wochen brütet nun die Militärjustiz darüber, ob ich mein eigenes Urteil nach 31,5 Jahren (!) überhaupt einsehen darf.

Bundesgericht fordert Transparenz

Eine solche Praxis widerspricht nicht nur der Bundesverfassung, sondern auch der Rechtsprechung des Bundesgerichts. Laut Artikel 30 Absatz 3 der Bundesverfassung sind Urteile öffentlich und das Bundesgericht hat das in den letzten Jahren immer wieder bekräftigt, und zwar generell für Drittpersonen, geschweige denn für persönlich Betroffene. Beispielsweise verlangte das Bundesgericht vom Bündner Kantonsgericht, dass es nicht nur rechtskräftige, sondern auch noch nicht rechtskräftige Urteile herausgeben musste.

Und in einem Urteil vom 26. März 2013 hielt das Bundesgericht fest, dass für Urteile der Justiz nicht das Archivierungsgesetz gilt, sondern das Öffentlichkeitsprinzip der Bundesverfassung. Damit zwang das Bundesgericht das Bundesverfassungsgericht ein Urteil im Original herauszugeben.

In seiner Begründung hält das Bundesgericht fest, das Prinzip der Justizöffentlichkeit erlaube «den Einblick in die Rechtspflege und sorgt für Transparenz gerichtlicher Verfahren. Damit dient sie einerseits dem Schutze der direkt an gerichtlichen Verfahren beteiligten Parteien im Hinblick auf deren korrekte Behandlung und gesetzmässige Beurteilung. Andererseits ermöglicht die Justizöffentlichkeit auch nicht verfahrensbeteiligten Dritten nachzuvollziehen, wie gerichtliche Verfahren geführt werden, das Recht verwaltet und die Rechtspflege ausgeübt wird. Die Justizöffentlichkeit bedeutet eine Absage an jegliche Form der Kabinettsjustiz, will für Transparenz der Rechtsprechung sorgen und die Grundlage für das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit schaffen. Der Grundsatz ist von zentraler rechtsstaatlicher und demokratischer Bedeutung. Die demokratische Kontrolle durch die Rechtsgemeinschaft soll Spekulationen begegnen, die Justiz benachteilige oder privilegiere einzelne Prozessparteien ungebührlich oder Ermittlungen würden einseitig und rechtsstaatlich fragwürdig geführt

Der Fall ist also klar. Laut Bundesgericht darf es keine Sperrfrist für Urteile geben.

Affaire à suivre.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Kurt Marti wurde 1986 wegen Militärdienstverweigerung zu einem halben Jahr Gefängnis unbedingt verurteilt. Im ersten Kapitel «Erinnerungen an die Strafkolonie» seines Buches «Tal des Schweigens: Walliser Geschichten über Parteifilz, Kirche, Medien und Justiz» berichtet er von den Erfahrungen, die er im Walliser Strafvollzug gemacht hat.

Zum Infosperber-Dossier:

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Wehret den Anfängen, denn funktionierende Rechtssysteme geraten immer wieder in Gefahr.

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