«Ich will die Realität erzählen»
Die Schweizer Regisseurin Esen Isik erzählt in ihrem eindrücklichen Film «Al-Shafaq – Wenn der Himmel sich spaltet» die Geschichte von Burak, der als 16-Jähriger von Zürich aus in den Jihad zieht, von seinem Vater Abdullah, der sich die Schuldfrage stellt, und vom syrischen Flüchtlingsjungen Malik, der sich fragt, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. Mit der Erzählung der drei Schicksale wirft die Regisseurin Esen Isik viele Fragen auf, doch sie hat bewusst auf eine «Anleitung» mit Happy End verzichtet, wie sie im Gespräch erklärt.
Siro Torresan: Was waren Ihre Beweggründe, einen Film zu drehen über einen Teenager aus Zürich, der nach Syrien in den «heiligen Krieg» zieht?
Esen Isik: Es gibt einen konkreten Auslöser: 2014 informierte mich eine Freundin aus Deutschland, ihr Neffe sei in den Jihad gezogen. Er war bereits in der Türkei. Ein 16-jähriger Junge aus Deutschland, dort geboren, dort aufgewachsen, alevitischer Herkunft. Hinzu kommt, dass die Familie aus Dersim stammt, einer linken Hochburg in der Türkei. Ich war daher sehr erstaunt und gleichzeitig war es ein Schlag für mich. Ich fragte mich: Warum will ein alevitischer Jugendlicher aus Dersim nach Syrien, um mit dem IS zu kämpfen? Wie ist das möglich? Ich konnte es wirklich nicht verstehen.
Der Vater und der Onkel reagierten sehr schnell. Sie fuhren an die türkisch-syrische Grenze und suchten den Jungen drei Wochen lang in jeder Grenzstadt. Schliesslich fanden sie ihn und brachten ihn zurück nach Deutschland. Dort besuchte ich ihn zwei Mal. Diese Begegnungen waren sehr speziell: Er war ein ganz normaler junger Mann, ein Teenager, nicht dumm, nicht naiv, aber sehr überzeugt von seiner Sache. Ich stellte mir die Frage: Haben wir versagt? Und ich begann, mich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen. Dabei wurde mir rasch klar: Es gibt kein typisches, klassisches Profilbild des Jugendlichen, der in den Jihad zieht.
Hat Ihnen dieser deutsche Junge irgendwelche Beweggründe genannt?
Ein fixer Punkt bei ihm war: Wir kommen in die Hölle, wenn wir nicht für den Islam kämpfen. Dieser Zettel im Film mit den Namen jener Menschen, die ins Paradies kommen werden, stammt tatsächlich von ihm. Er war überzeugt, dass er durch seine Tat auch seine Familie von der Hölle retten würde. Er war aber auch sehr am ganzen politischen Teil interessiert. Der Satz aus dem Film: «Die Muslime werden vernichtet, wir müssen uns wehren», ist ebenfalls von ihm. Burak, der Junge im Film, sagt einen weiteren Satz, der von diesem Jugendlichen aus Deutschland stammt: «Es kann ja nicht sein, dass so viele Menschen falsch liegen.» Damit meinte er alle IS-KämpferInnen. Es könne also nicht sein, dass alle jene, die für den Islam in den Krieg ziehen, falsch liegen.
Ist Burak im Film dieser Jugendliche aus Deutschland?
Dieser Junge aus Deutschland könnte Burak sein, auch wenn die Familienverhältnisse völlig andere sind. Der Junge aus Deutschland ist in einem sehr liberalen Familienumfeld aufgewachsen.
Im Film hingegen ist Buraks Familie streng religiös.
Nein, nicht die gesamte Familie, nur der Vater. Die Mutter trägt zwar ein Kopftuch und geht in die Moschee, aber das heisst noch lange nicht, dass sie streng gläubig ist. Der Vater symbolisiert den patriarchalisch geprägten Teil des Islams. Denn das ist eine Realität, der Islam ist durch das Patriarchat geprägt. Die Mutter verkörpert die Frauen, die in diesem patriarchalen System versuchen, zurechtzukommen. Der Vater hätte aber auch ein liberaler Muslim sein können. Doch mich hat auch folgender Aspekt interessiert: Wer erzählt die Religion wie weiter? Religion ist auch Kultur; wie wird diese an die folgende Generation weitergegeben?
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Trailer zu «Al-Shafaq – Wenn der Himmel sich spaltet»
Der Film «Al-Shafaq» läuft derzeit in Schweizer Kinos.
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Was ist die Botschaft Ihres Films?
Puh… es ist ganz schwierig, diese Frage zu beantworten. Ich war und bin von meiner Haltung her als Mensch und als Filmemacherin sehr weit weg vom ganzen Jihad und dessen Organisationen. Durch meine Recherchen, durch die Gespräche mit betroffenen Menschen habe ich gemerkt, dass es mehrere Opfer gibt. Auch der Jihad-Reisende Burak ist ein Opfer. Und ich habe begriffen, dass man sich mit den Strukturen und Organisationsformen dieser radikalen Szenen befassen muss: Wie sind sie organisiert? Wie funktionieren sie? Wie und vom wem werden sie finanziert? Was sind ihre Ziele? Wie arbeiten sie, wie wollen sie sich verbreiten? Dieser Prozess war für mich ein wichtiger Auslöser, den Film zu machen. Ich gebe keine Anleitung im Film. Die ZuschauerInnen sollen aktiv sein, sie sollen mitdenken und nachdenken. Das ist die Botschaft in meinem Film. Man kann eine Geschichte erzählen und sagen: Da sind all die verschiedenen Puzzleteile, ihr könnt euch mal hinsetzen und das Bild vervollständigen.
Sie stellen in Ihrem Film viele Fragen. Haben Sie nach Antworten gesucht, aber dabei nur Fragen gefunden?
Ich versuche auch Antworten zu geben. Zum Beispiel mit der Figur des Leichenwagenfahrers, der erzählt, dass auch aus seinem Dorf drei Jugendliche in den Jihad gezogen sind. Er fragt sich, was sie da verloren haben. Er beklagt sich darüber, dass der Krieg von «fremden Kräften» geführt wird. Er stellt dem Vater vom Burak viele Fragen: «Warum hast du nicht besser auf deinen Sohn aufgepasst?», «Warum hast du es nicht verhindert?», «Wie konntest du es nicht sehen?»…
… Aber das sind auch wieder Fragen und keine Antworten.
Ja, aber man kann durch die Fragen, durch die Fragestellung, auch Antworten geben. Es gibt mehrere Ebenen im Film, bei denen ich versucht habe, meine Haltung zu verknüpfen. Die Szene mit dem Leichenwagen und den zwei Särgen hinten drauf ist so eine.
Warum Burak sich derart radikalisiert, bleibt unklar. Im Film gibt es dazu keine Schlüsselszene.
Ja richtig. Das wäre eine Art Stempel gewesen, den ich Burak – aber auch dem Film – aufgedrückt hätte. Dies wäre zu vereinfacht dargestellt, denn die Gründe der Radikalisierung sind sehr individuell, sehr unterschiedlich. Ich hätte den ZuschauerInnen eine Anleitung geliefert, ihnen den Grund der Radikalisierung genannt, und so müssten sie sich keine grossen Gedanken mehr dazu machen. Ich habe deshalb sehr bewusst auf eine Schlüsselszene verzichtet.
Burak informiert seine Eltern, dass er in den Jihad zieht, mit einer Sprachnachricht per Handy. Dabei spricht er Schweizerdeutsch. Das ist wohl kein Zufall. Ist es eine Schlüsselszene im Film?
Ja, das ist es, ganz klar. Auch hier ist ein globaler Blick nötig. Jugendliche aus Syrien, Irak, Iran oder Afghanistan sind wegen der Kriege in ihren Ländern mit Gewalt aufgewachsen. Aber bei Jugendlichen aus Westeuropa ist dies anders. Sie sind zum Teil bereits die dritte Generation, die hier lebt. Sie sprechen die Landessprache, machen eine Lehre oder haben einen Job. Die Integration in diesem Sinne ist kein Thema mehr. Sie sind ein Teil unserer Gesellschaft, oder besser gesagt: Sie sind unsere Gesellschaft. Die Sprache beschreibt auch die Identität, es ist die Sprache ihrer Gefühle. Daher war für mich klar und wichtig, dass Burak diese Botschaft auf Schweizerdeutsch sagt.
Sie geben Buraks Vater Abdullah eine zweite Chance durch die Begegnung mit dem syrischen Flüchtlingsjungen Malik. Warum?
Damit er sich mit dem Schuldgefühl auseinandersetzt.
Und wie macht er das?
Abdullah ist ein Mann, der sehr religiös und sehr verbunden ist mit seiner Religion. Muslime glauben, dass alles von Allah kommt, also alles gottgewollt ist, dass er alles entscheidet. Und bereits in einer der ersten Szenen im Film, am Sterbebett seines Sohnes, fragt Abdullah seinen Gott: «Was habe ich dir angetan? Ist das deine Gerechtigkeit?» Im Islam ist das eine grosse Sünde, denn man darf die Entscheidungen Allahs nicht infrage stellen. Abdullah beginnt sich somit die Frage zu stellen: Wer ist schuld? Er sucht bei sich selbst aber auch darüber hinaus, er versucht, das Ganze anzuschauen. Für mich war es wichtig, die Frage zu thematisieren: Kann sich ein Mensch ändern und sich mit sich selbst und mit Gott, also seiner Religion, auseinandersetzen?
Der Film lässt das Ende der Geschichte offen: Man erfährt nicht, was mit Abdullah und Malik geschieht. Warum nicht?
Im Drehbuch hatte ich kein offenes Ende. Vorgesehen war, dass Abdullah mit Malik in die Schweiz kommt, und zwar mit einem Auto, das Abdullah in der Türkei gekauft hat. Doch zwei Wochen vor den Filmaufnahmen hatten wir keine Drehbewilligung von der Türkei erhalten. Das war sehr schwierig, ich musste einige Szenen rausnehmen, andere umschreiben. Auch gab es Probleme mit der Reisebewilligung für den Darsteller von Malik. Er war in Istanbul angemeldet und bekam keine Erlaubnis, die Stadt zu verlassen – das heisst, es war alles sehr kompliziert.
Filmtechnisch wäre es natürlich trotzdem möglich gewesen, eine Szene zu drehen in der Malik in der Schweiz ist, er eine Zukunft hat und so weiter. Das wollen viele sehen. Aber ich sagte mir dann: Nein, die Grenzen sind zu, das ist die Realität. Der Darsteller des Flüchtlingsjungen Malik konnte die Stadt nicht verlassen, und auch sonst ist es eine Realität, dass für viele Menschen auf der Flucht die Grenzen geschlossen sind. Ich will deshalb nicht etwas anderes erzählen. Ich will die Realität erzählen. Darum habe ich während der Dreharbeiten den Schluss des Films umgeschrieben.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.