Milei-WEF-2024

Leugnet Gräueltaten der Militärdiktatur: Argentiniens Präsident Javier Milei am letztjährigen WEF in Davos. © cc-by-nc-sa World Economic Forum

Ein Schweizer Freiheitspreis im Namen eines Rassisten

Pascal Sigg /  Ein Think-Tank will Argentiniens Präsidenten in Kloten feiern. Obschon er Staatsterror verharmlost und die Menschenrechte schwächt.

«Es gibt weltweit zurzeit wohl keinen anderen Politiker, der liberale Reformen derart konsequent und beherzt vorantreibt. Javier Milei verfügt dabei über ein tiefes Verständnis liberaler Grundsätze». Dies schreibt das Liberale Institut auf seiner Website.

Deshalb will die Stiftung mit Sitz in Zürich Javier Milei an einer «Freiheitsfeier» einen «Preis für Zivilgesellschaft» verleihen. Die Feier findet Ende Januar in Kloten statt. Die Tickets kosteten zwischen 99 und 249 Franken und sind allesamt ausverkauft.

«Es ist beeindruckend, mit welchem Tempo er Argentinien wieder in ein freiheitlicheres Land zurückverwandelt und welche grossen Erfolge er nach nur einem Jahr im Amt vorweisen kann», schwärmte Olivier Kessler, Direktor des Instituts, kürzlich in einem Artikel im Tages-Anzeiger.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sieht das auf Infosperber-Anfrage jedoch anders. Sie beobachtet eine «eklatante Verschlechterung» der Menschenrechtslage in Argentinien im letzten Jahr.

Milei schränkt Meinungsäusserungsfreiheit ein…

Mileis Vorgehen steht gar im Widerspruch zu den deklarierten Zielen des Schweizer Think Tanks. Das Liberale Institut schreibt auf seiner Website nämlich: «Freiheitsrechte, als Grundlage einer liberalen Ordnung, können nicht relativiert werden, ohne die Menschenwürde zu gefährden. Ihnen gebührt daher unsere besondere Rücksicht — und unser Engagement.»

Zu diesen Freiheitsrechten zählt insbesondere die Meinungsäusserungsfreiheit und damit auch das Recht auf Informationsfreiheit oder die Pressefreiheit.

Gemäss Amnesty International Schweiz haben die Feindseligkeit gegenüber Medienschaffenden, aggressive Rhetorik und Desinformation ein Klima der Einschüchterung und Zensur geschaffen, das die demokratische Debatte ernsthaft beeinträchtigt. 

«Das Recht auf friedlichen Protest ist durch Massnahmen wie das Protokoll zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und durch das Vorgehen der Sicherheitskräfte gefährdet, die unter anderem unverhältnismässig oft Gummigeschosse und Tränengas einsetzten und schwere Verletzungen verursachten. Es gibt auch Berichte über willkürliche Verhaftungen, die Kriminalisierung von Demonstrierenden und Angriffe auf Medienschaffende».

… und verharmlost schwerste Menschenrechtsverstösse

Schwer wiegt auch, dass Milei und seine Regierung die Zeit der Militärdiktatur – und damit heftigste Übergriffe des argentinischen Staats gegen seine Bürgerinnen und Bürger – bis heute verharmlost und deren Aufklärung beeinträchtigt.

So schwächte er behördliche Arbeitsgruppen, welche Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 untersuchten. NGOs kritisierten, dass dies Prozesse der Gerechtigkeitsherstellung und Wahrheitsfindung behindere.

Systematische Unterdrückung und Ausrottung

Als das Militär 1976 mit einem Putsch die Macht in Argentinien übernahm, herrschten chaotische Zustände, in denen linke und rechte antikommunistische Milizen zahlreiche Anschläge und Gewalttaten verübten. Allein 1974 brachten eng mit dem staatlichen Gewaltapparat verbundene rechte Todesschwadronen etwa 300 Oppositionelle um, darunter vorwiegend Studenten, Journalisten und Anwälte. Linke Widerstandsgruppen begaben sich in diesem Jahr in den Untergrund und verübten Anschläge aufs Militär, die Polizei, entführten Unternehmer und erpressten Lösegeld.

Gemäss dem deutschen Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck, der ein Buch über den Strafprozess gegen Argentiniens Militärs schrieb, ging das Militär noch vor dem Putsch mit aller Gewalt gegen die verhältnismässig schwachen Guerillas vor und besiegte diese Gruppierungen.

Nach der Machtergreifung begann die Junta, auch mit Unterstützung der USA, trotzdem eine blutige Unterdrückungsherrschaft einzurichten. Dabei machte das Regime systematisch Jagd auf Andersdenkende wie Studierende, Professoren, Journalistinnen oder Künstler und deren Familien. Der Junta-Chef Jorge Videla sagte: «Ein Terrorist ist nicht nur jemand mit einem Gewehr oder einer Bombe, sondern ebenso einer, der Gedanken verbreitet, die im Gegensatz zur westlichen und christlichen Zivilisation stehen.»

Milei beriet einen Schlächter

Alle, die als «subversiv» galten, konnten entführt werden. Das Regime unterhielt hunderte Geheimgefängnisse, wo Gefangene gefoltert und ermordet wurden. Zudem nahm es hunderte in Gefängnissen geborene Kinder ihren Müttern weg und platzierte sie in regimetreuen Familien.

Bis letztes Jahr wurden in total 316 Urteilen an Gerichten im ganzen Land 1173 Täterinnen und Täter für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Dabei gaben ehemalige Offiziere zum Beispiel an, dass tausende Gefangene systematisch betäubt und nackt ins Meer geworfen wurden. Amnesty International hat zahlreiche Geständnisse dokumentiert.

Unter den Verurteilten ist auch Antonio Domingo Bussi, ein ehemaliger General und Lokalpolitiker, der für die Ermordung von über tausend Argentinierinnen und Argentinier verantwortlich war. Bussi ordnete Hinrichtungen an, mordete mit eigenen Händen und versteckte Geld, von dem er einen Teil von den USA erhalten hatte, auf einem Schweizer Konto. Lange nach der Militärdiktatur begann Javier Milei seine politische Karriere als Bussis Berater.

«Zwei Dämonen» und eine bezweifelte Zahl

Er lehne eine einseitige Sicht auf die Geschichte strikt ab, sagte Milei in einer TV-Debatte während des Wahlkampfs und setzte die Gewalt linksextremer Widerstandsgruppen mit dem systematischen Staatsterror der Militärs gleich.

Diese Darstellung ist nicht neu. Gemäss Alexander Hasgall, der an der Uni Zürich die argentinische Erinnerungspolitik erforschte, handelt es sich die dabei um die «Theorie der zwei Dämonen». Diese besage, dass die Zivilbevölkerung während der Militärdiktatur Opfer zweier gegensätzlicher «Dämonen», nämlich des Links- und des Rechtsextremismus, geworden sei.

Auch die Opferzahl der Junta redet Milei klein. Denn wie viele Menschen wirklich getötet wurden oder «verschwanden», ist nicht klar. Die nationale Untersuchungskommission (CONADEP) dokumentierte in ihrem Bericht 8’961 «Verschwundene». Sie wies aber darauf hin, dass die wirkliche Zahl um einiges höher sein dürfte. 2006 zeigten US-Dokumente, dass die Militärs selber die Zahl der eigenen Opfer auf 22’000 schätzten.

Menschrechtsorganisationen sprechen von 30’000 Opfern. Gemäss Hasgall dient die Zahl «seit bald vierzig Jahren dazu, die erzwungene Unsichtbarkeit der Verschwundenen auf symbolischer Ebene zu überwinden.» Die Bewertung des verbrecherischen Charakters des Militärregimes, so Hasgall weiter, hänge zwar nicht davon ab, ob 8’000 oder 30’000 Menschen entführt, heimlich gefangen gehalten, schwer gefoltert und schliesslich ermordet wurden.

Doch die Diskrepanz zwischen den erwiesenen Opfern und den 30’000 spiele jenen in die Hände, welche die Organisationen diskreditieren wollen. Immer wieder äussern hochrangige argentinische Politiker die Behauptung, die Organisationen würden die Opferzahlen übertreiben, um höhere Unterstützungsgelder zu erhalten. So auch Mileis Ministerin für Innere Sicherheit. «Die Menschenrechtsorganisationen sind durch und durch korrupt», behauptet sie in einer vor Monatsfrist erschienenen Arte-Doku (unten).

Argentinien: Im Namen der Wahrheit (Pierre Chabert, 2024)

«Künstliche Erhöhung der Opferzahlen durch linke Lobbygruppen»

Olivier Kessler, Direktor des Liberalen Instituts, schrieb auf Infosperber-Anfrage zuerst, diese Kritik sei ihm nicht bekannt. Aber er wolle sie seriös abklären und sich einlesen.

«Sollte hier Milei tatsächlich ausnahmsweise gegen seine liberalen Prinzipien gehandelt haben, würde ich mich selbstverständlich auf die Seite der liberalen Prinzipien stellen und nicht auf die Seite von Milei.»

Einen Tag später hatte sich Kessler informiert. Er schrieb Infosperber, Milei habe Behörden geschlossen, um Geld einzusparen. «Das ist liberal – auch wenn es sich dabei um linksradikale Behörden gehandelt hat, die dazu dienten, Posten für Politiker zu schaffen.»

Milei sei es zudem darum gegangen, dass die Zahlen der Opfer der Militärdiktatur realistisch benannt werden sollten. «Die künstliche Erhöhung der Opferzahlen durch linke Lobbygruppen darf angesprochen werden. Daran ist nichts illiberal.»

Kessler fand auch: «Es ist genauso wichtig, den linksradikalen Terror nicht zu vertuschen und der Opfer des linken Terrorismus zu gedenken.»

Milei verdiene den Preis, so Kessler, weil er immer wieder insbesondere Ludwig von Mises und Murray Rothbard als seine «Hauptinspirationsquellen» nenne. Mises und Rothbard seien beide Advokaten von geschützten Abwehrrechten des Individuums gegen Kriminelle und den invasiven Staat.

Statt sich mit diesen Denkern auseinanderzusetzen, würde Infosperber «auf Dingen rumreiten, die wenig mit liberalen Freiheitsrechten zu tun haben».

Markt soll vor Demokratie geschützt werden

Der kanadische Historiker Quinn Slobodian ist einer der schärfsten Analytiker der genannten Denker. Für ihn ist Javier Milei kein origineller Politiker mit besonderen Ideen, sondern ein «untoter Zombie des Neoliberalismus der 1990er.»

In seinem Buch «Globalisten: Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus» (ausführliche Vorstellung in Englisch unten) zeigt Slobodian, dass die Vordenker des Neoliberalismus nach dem Zweiten Weltkrieg ein besonderes Projekt verfolgten. Sie wollten Staat, Recht und Institutionen weltweit umgestalten, um den Markt vor demokratischen Volksentscheiden zu schützen. Slobodian bezeichnet den Ideenkomplex als «wehrhaften Globalismus» mit durchaus autoritären Zügen.

Buchpräsentation von Quinn Slobodian in Berlin (29.11.2019)

Rassismus und «radikal-militante Intoleranz»

Bei Röpke und Rothbard kommt noch Rassismus hinzu. Murray Rothbard gilt heute als Vordenker der marktautoritären Rechten. Er befürwortete die Rassentrennung und stand gemäss Slobodian für eine «radikal-militante Intoleranz». Rothbard war der Ansicht, Individuen und Gruppen unterschieden sich in ihrer Begabung und entsprechende Hierarchien seien biologisch festgelegt. «Er hielt eine Gegenbewegung für nötig – eine Revolte gegen die Gleichheit der Menschen», so Slobodian.

Röpke war ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler, der sich gegen das Nazi-Regime stellte. Doch Röpke war auch offen rassistisch. 1964 verteidigte er das Apartheid-Regime Südafrikas. In einer Streitschrift erklärte er «dass die Neger Südafrikas nicht nur Menschen von einer geradezu extrem anderen Rasse sind, sondern zugleich einer völlig anderen Art und Stufe der Zivilisation angehören».

Röpke präsentierte seinen Artikel im Rahmen einer Vortragsreihe in Zürich. Dabei verwehrte ihm die NZZ die gewohnte Unterstützung. Nachdem die Zeitung eine Protesterklärung ausländischer Studenten veröffentlichte, schrieb Röpke dem Schweizer Geschäftsmann Albert Hunold, der die Vortragsreihe organisiert hatte: «Zufrieden werden diese NZZ-Intellektuellen erst sein, wenn Sie einen echten Kannibalen sprechen lassen.»

«Röpke glaubte, aufgrund der ethnischen Unterschiede sowie wirtschaftlicher und realpolitischer Erfordernisse müsse die weisse Vormachtstellung in Südafrika aufrechterhalten werden», schreibt Slobodian.

Demokratisches Kleid frei von demokratischem Inhalt

In einer Analyse von Röpkes gesellschaftlicher Theorien kritisieren verschiedene Forschende dessen elitäre Haltung, die grosse Teile der Bevölkerung und die Demokratie an sich marginalisiere. Röpke habe ein «demokratisches Kleid» frei von wirklich demokratischem Inhalt entworfen.

Mit Milei wird das Liberale Institut auf der Bühne der Stadt Kloten nicht nur derartige Ansichten feiern. Sondern auch deren Auswirkungen.

Gemäss Amnesty International haben sich die wirtschaftlichen Deregulierungen und Reformen negativ auf das Leben von Millionen Menschen, insbesondere auf die Schwächsten, ausgewirkt, Ungleichheiten verschärft und Grundfreiheiten beschnitten. Die Armutsrate ist von 41,7 % auf 52,9 % gestiegen. Mehr als 15 Millionen Menschen lebten unterhalb der Armutsgrenze und mehr als eine Million Kinder habe keinen Zugang zu einer täglichen Mahlzeit.

Die Mindestrenten reichten nicht aus, um den Bedarf an Grundnahrungsmitteln zu decken. Dies bringe Millionen älterer Erwachsener in eine äusserst prekäre Lage. Das Veto des Präsidenten gegen ein Gesetz zur Rentenanpassung habe die Armutskrise weiter verschärft.

«Es steht dem Institut frei, an wen es seinen ‹Freiheitspreis› verleihen will», schreibt Amnesty International Schweiz. Die Organisation fordert die Regierung Milei aber auf, «ihre internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten und den Menschen und ihrer Würde Vorrang vor fiskalischen oder wirtschaftlichen Zielen zu geben».


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Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

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