Wir werden überwacht – und fühlen uns wohl dabei
Wer schon einmal die Aufgabe hatte, in Hab und Gut eines Verstorbenen Ordnung bringen, hat es erlebt: Irgendwo, vielleicht unter dem Deckel der Hausbibel, liegen auch ein paar ganz alte Zeitungsausschnitte. Und ein zweiter Blick darauf hat gezeigt: es waren Zeitungsausschnitte, in denen der Verstorbene namentlich erwähnt worden ist: die Zivilstandsnachrichten mit der amtlichen Meldung, dass sie – nennen wir sie Trudi Meier – am X. X. 19XX geboren worden ist, die amtliche Meldung, dass Trudi Meier sich am X.X.19XX mit Hans Müller verheiratet hat, und vielleicht ein Zeitungsbild mit einer Gruppenaufnahme vom lokalen Gesangsverein, mit «vorne links, Trudi Meier, Vize-Präsidentin».
Trudi Meier wurde in der Zeitung namentlich genannt. Damit wurde sie öffentlich wahrgenommen. Und dieses «Ereignis» war erinnerungswert, wert also, aus der Zeitung ausgeschnitten und aufbewahrt zu werden.
Der Mensch, nicht nur der mediengeile Politiker, nicht nur die exhibitionistische Show-Business-Lady, nicht nur der um Publikum ringende Künstler, nein, jeder ganz normale Alltags-Mensch möchte als Individuum wahrgenommen werden. Er ist, in der Masse von sieben Milliarden anderer Menschen, zwar wie ein Sandkorn in der Wüste. Aber gerade deshalb möchte er von Zeit zu Zeit die Bestätigung erhalten, dass er da ist, dass es ihn gibt.
Die cleveren Marketingleute haben das natürlich längst entdeckt und machen businessmässig Gebrauch davon. Ein adressiertes Mailing, auch wenn es in Millionenauflage verschickt wird, hat deutlich höhere Erfolgs-Chancen als eine anonym in den Briefkasten geworfene Werbebroschüre. Dass das mit «persönlich» nichts zu tun hat, weiss man allerdings spätestens seit ein paar Wochen, als bekannt wurde, dass «Die Post» persönlich adressierte Kundenbriefe verschickte, aufgrund veralteter Adresslisten aber auch an etliche zwischenzeitlich Verstorbene…
«Ich werde wahrgenommen»
Der in wenigen Tagen 88jährig werdende polnisch-britische Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman, ein immer wieder lesenswerter Zeitzeuge, kennt dieses Phänomen aus langjähriger Beobachtung. Und er hat eine bemerkenswerte Überlegung dazu gemacht. Anlässlich seines Nachdenkens über das in den letzten Monaten und Wochen vieldiskutierte Thema der weltweiten Überwachung hat nämlich auch er sich gefragt: Warum bleibt die grosse Empörung aus? Warum gehen in Anbetracht der totalen Überwachung die Menschen nicht auf die Strasse oder, wie es eigentlich zu erwarten wäre, gar auf die Barrikaden?
Zygmunt Bauman ging ein Licht auf: «Da aber der Alptraum des Panoptikums – du bist nie allein – heute als hoffnungsvolle Botschaft wiederkehrt – «Du musst nie wieder allein (verlassen, übersehen, vernachlässigt, überstimmt und ausgeschlossen) sein» –, wird andererseits die alte Angst vor Entdeckung von der Freude darüber abgelöst, dass immer jemand da ist, der einen wahrnimmt.» (Auszeichnung cm)
Oder vereinfacht gesagt: Ich werde überwacht. Das ist doch eigentlich wunderbar: Es interessiert sich einer für mich. Ich werde – als Individuum – wahrgenommen!
«Ich werde überwacht, also wahrgenommen. Und so bin ich nie allein.»
Noch einmal Zygmunt Bauman, etwas ausführlicher: «Dass diese Entwicklungen, und vor allem ihr harmonisches Zusammenwirken zur Beförderung desselben Zwecks, möglich wurden, liegt offensichtlich daran, dass heute nicht mehr Inhaftierung und Arrest, sondern Ausgrenzung als schlimmste Bedrohung der existentiellen Sicherheit gilt und als Hauptquelle von Ängsten fungiert. Das Beobachtet- und Gesehenwerden hat sich dadurch aus einer Bedrohung in eine Verheißung verwandelt. Das Versprechen erhöhter Sichtbarkeit, die Aussicht, «ins Freie zu gelangen», wo einen jeder sehen und bemerken kann, kommt dem ersehnten Beweis gesellschaftlicher Anerkennung nahe, also einer wertvollen – «sinnvollen» – Existenz. Sein ganzes Leben samt allen Fehlern und Missgriffen in öffentlich zugänglichen Verzeichnissen verschlagwortet zu haben, erscheint als das bestmögliche prophylaktische Antidot gegen das Gift des Ausgeschlossenwerdens– und zugleich als potenter Weg, die Gefahr einer Zwangsausweisung abzuwehren; tatsächlich ist es eine Versuchung, der zu widerstehen sich wohl nur wenige Praktiker von zugegebenermaßen prekärer sozialer Existenz starkgenug fühlen werden. Mir scheint, dass der phänomenale Erfolg der ’sozialen Netzwerke› in jüngster Zeit ein gutes Beispiel für diesen Trend ist.»
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Die Zitate stammen aus einem Artikel von Zygmunt Bauman in «Blätter für deutsche und internationale Politik», 2013/10: «Das Ende der Anonymität». Der ganze Artikel, in dem auch das Phänomen der immer kleiner werdenden Überwachungs-Drohnen thematisiert wird, kann hier gelesen werden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
"Ich werde überwacht, also bin ich» ! :>)
Zygmunt Baumann war eimal ein ausserordentlich orgineller Soziologe. Hier wird er aber langsam zum Orginal. Dafür ist der Gedanke kein Orginal. «Die STASI ist mein Eckermann» hat schon Wolf Biermann herausgefunden.
Wir wissen EBEN NICHT, ob und mit welchen (FALSCHEN?) Daten wir in den USA erfasst sind. Das in einem Staat, wo eine Zahlung an ein Hilfswerk der HAMAS oder etwa ein wissenschaftlicher Artikel für die Regierung in GAZA zu jahrzehntelangen Gefängnisstrafen führen kann.
Gruss
Werner T Meyer