Hilfssheriff für die einen, Ritter der Strasse für die anderen
18. Mai 2018, 7:55 Uhr. Was an diesem Morgen geschah, war keine Amokfahrt, sondern ein alltägliches Ereignis auf Schweizer Strassen. Ein Autofahrer bedrängte und gefährdete in Lausanne einen Mofafahrer. Er hupte missbräuchlich, überholte den Mofafahrer innerorts mit übersetzter Geschwindigkeit, lenkte seinen Wagen zurück auf die Spur und trat, als sich sein Auto unmittelbar vor dem Mofafahrer befand, abrupt auf die Bremse. Hätte der Mofafahrer nicht rechtzeitig bremsen können, wäre eine Kollision unvermeidlich gewesen.
«Rechtswidrig erlangter Beweis»
So etwas geschieht jeden Tag. Ein Mann, der die Beherrschung verliert und mit seinem Auto eine andere Person schikaniert, bedroht oder gefährdet. Nicht alltäglich hingegen ist, dass die Delikte des Autofahrers durch eine Video-Aufnahme zweifelsfrei belegt werden können. Der betroffene Mofafahrer filmte das Manöver mit einer kleinen Kamera, die am Lenker befestigt war. Der Autofahrer war vom Amtsgericht Lausanne wegen teils einfacher, teils grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 300 Franken und einer Busse von 3000 Franken verurteilt worden.
Der Autofahrer zog das Urteil weiter bis vor Bundesgericht – und erhielt nun recht. Die Richter prüften lediglich, ob die Videoaufnahme als Beweismittel gegen den Autofahrer verwertet werden durfte. Sie durfte nicht. Der Mofafahrer hat die Persönlichkeitsrechte des Autofahrers verletzt, indem er ihn ohne Einwilligung gefilmt hat. Die Aufnahme gilt damit als «rechtswidrig erbrachter Beweis», der laut schweizerischem Recht höchstens bei schweren Straftaten in Betracht gezogen werden darf.
Was das Urteil bedeutet
Das Bundesgericht beurteilte bisher nur Fälle, bei denen die Aufnahmen aus einem Auto gemacht wurden. Zum ersten Mal ging es nun um das Video einer sogenannten Actioncam, die insbesondere bei Motorrad-, Fahrradfahrern und Freizeitsportlern immer stärker verbreitet sind. David Raedler ist Anwalt, Experte für das Datenschutzgesetz (DSG) und Verfasser eines gewichtigen Essays zur Verwertbarkeit von Dashcam-Aufnahmen. Das Urteil folgt laut Raedler im Wesentlichen einem Grundsatzentscheid des Bundesgerichts vom letzten Jahr, allerdings mit einer wichtigen Korrektur. Im Gegensatz zum Grundsatzentscheid prüfte das aktuelle Urteil in einem ersten Schritt, ob die Aufzeichnung tatsächlich die Persönlichkeitsrechte anderer verletzt und ob es dafür allenfalls einen rechtfertigenden Grund gab. Wäre das der Fall, wäre die Aufnahme als rechtmässig zu qualifizieren (Art. 12. und 13. DSG). Das konkrete Video des Mofafahrers beurteilte das Gericht als unrechtmässig und prüfte deshalb in einem zweiten Schritt, ob die Aufnahme trotzdem als Beweis verwendet werden darf. Die Strafprozessordnung erlaubt das aber nur, wenn es um eine schwere Straftat geht (Art. 141. Abs. 2. StPO).
Das letztjährige Urteil wertete Aufnahmen mit einer Dashcam grundsätzlich als Verstoss gegen das Datenschutzgesetz, eine Verwertung kam deshalb ausschliesslich bei schweren Straftaten in Frage. Damit räumte das Bundesgericht laut Raedler die Möglichkeit ein, dass Dashcam-Aufnahmen legal sein könnten – etwa dann, wenn die Kamera zwar immer filmt, die Daten aber nur speichert, wenn ein Sensor in der Kamera erkennt, dass der Fahrer verunfallt ist.
Und selbst für den Fall, dass die Persönlichkeitsrechte des Autofahrers verletzt würden, so räumt das Bundesgericht ein, dass eine Aufnahme durch überwiegendes öffentliches oder privates Interesse gerechtfertigt sein könnte – etwa dann, wenn eine Erhöhung der Verkehrssicherheit geltend gemacht werden kann. Dann wäre die Aufnahme nicht illegal und müsste als Beweis zugelassen werden. Das Bundesgericht betont zwar weiterhin, man müsse vermeiden, dass sich Verkehrsteilnehmer zu «Hilfssheriffs» aufspielten und andere systematisch überwachen. Die Möglichkeiten aber, Verkehrsrowdys zur Verantwortung zu ziehen, sind nach diesem neuen Urteil leicht gestiegen, bleiben aber trotzdem äusserst gering.
Urteil 6B_1282/2019 vom 13. November 2020
In der Schweiz ist das Filmen mit Dashcam nur über den Datenschutz geregelt, eine weitergehende gesetzliche Grundlage im Umgang damit gibt es nicht – und das dürfte wohl so bleiben. Erst im September wurde nach drei Jahren intensiver Auseinandersetzungen die Totalrevision des Datenschutzgesetzes abgeschlossen. Es deutet wenig darauf hin, dass sich das Parlament in naher Zukunft erneut damit auseinandersetzen will.
Der Autofahrer hat nicht angehalten – ohne das Video hätte er womöglich nie ermittelt werden können.
Dass ein Autofahrer nicht bestraft wird, obwohl er einen schwächeren Verkehrsteilnehmer nachweislich und mutwillig gefährdet hat, mag als stossend empfunden werden. Doch der Verwertung von Dashcam-Aufnahmen steht ein gewichtiges Interesse gegenüber: der Datenschutz. Dashcams filmen normalerweise ohne Unterbruch, und zwar wahllos auch unbescholtene Bürger, die weder davon wissen noch ihr Einverständnis gegeben haben. Niemand will, dass Private mit Kameras Jagd auf Bürger machen, die sich nicht an alle Normen halten. Dass wir uns frei im öffentlichen Raum bewegen können, ohne dabei gefilmt zu werden, ist ein hohes Rechtsgut.
Nur: An der Langstrasse in Zürich filmen auf einem Abschnitt von 800 Metern 49 private Überwachungskameras den öffentlichen Grund, wie die «Republik» berichtete. Schätzungen zufolge existieren in der Schweiz weit über eine halbe Million Kameras. Sie werden nicht kontrolliert und filmen Menschen in diversen Lebensbereichen, beim Arbeiten, in der Freizeit. Demgegenüber filmen Dashcams die Menschen fast ausschliesslich im Verkehr. Dieser Lebensbereich ist ausserordentlich stark reglementiert – zu recht, weil die Entfaltung der persönlichen Freiheit nicht auf Kosten der Sicherheit von Dritten gehen darf. Man kann sich fragen: Welche Freiheiten gewinnen wir tatsächlich durch das Verwertungsverbot von Dashcam-Aufnahmen?
«Es braucht einen gesellschaftlichen Wandel»
In vielen Ländern ist die Situation anders als in der Schweiz, in England zum Beispiel. Die Londoner Polizeibehörde Metropolitan Police ermutigt die Bevölkerung, Kameras zu verwenden und Aufzeichnungen einzureichen. Auf der Website der Behörde ist eigens für diesen Zweck ein Bereich eingerichtet, um das Einsenden von Videos zu vereinfachen. Der landesweit bekannte Radio- und TV-Moderator Jeremy Vine zum Beispiel hat meist eine Kamera dabei, wenn er mit dem Fahrrad durch London fährt. Wenn ihm ein gefährliches Manöver vor die Linse gerät, zeigt er den Film seinen 764’000 Followern auf Twitter. Täte das ein SRF-Moderator, würde er sich vermutlich eine Menge Unbill einhandeln.
Einer der wichtigsten Fürsprecher Großbritanniens für die Verwendung von Kameras im Verkehr ist Detective Chief Superintendent Andy Cox. Cox steht der Abteilung Verbrechen der Polizei Lincolnshire vor und leitet ein landesweites Programm für die Untersuchung tödlicher Verkehrsunfälle. Er fordert immer wieder öffentlich, gefährliche Autofahrer zur Rechenschaft zu ziehen. Auf Anfrage von Infosperber schreibt er per Mail: «Die Polizei kann nur einen kleinen Teil zu Sicherheit im Verkehr beitragen. Um wirklich etwas zu bewirken, braucht es einen gesellschaftlichen Wandel. Jeder hat eine Rolle zu spielen, und es ist legitim, dass wir die Öffentlichkeit an der Lösung teilhaben lassen».
Dass dabei auch unbescholtene Bürger ohne Einverständnis gefilmt werden, hält er für vertretbar: «Wir akzeptieren nur Filmmaterial, dass an einem öffentlichen Ort aufgenommen wurde. Die Situationen sind daher in jedem Fall für andere Bürger sichtbar. Bei diesem Ansatz gibt es keine menschenrechtlichen Bedenken.»
Der Fahrer, der in London um ein Haar eine Frau überfahren hätte, konnte nur dank diesem Video ermittelt werden. (Metropolitan Police)
2017 erhielt alleine die Metropolitan Police London 4’000 Videos, 2019 fast 10’000. Rund zwei Drittel davon führten auch zu einem Verfahren. Madonnas Ex-Mann und Regisseur Guy Ritchie («Lock, Stock and two Smoking Barrels») musste in diesem Sommer seinen Führerausweis abgeben, weil er im Auto ein SMS tippte und dabei von einem Radfahrer gefilmt wurde. Das zeigt: Die Toleranz gegenüber delinquierenden Autofahrern ist in England wesentlich geringer als in der Schweiz.
«Überhaupt kein öffentliches Interesse»
Für den eidgenössischen Datenschutzbeauftragten Adrian Lobsiger ist eine Verwertung von Dashcam-Aufnahmen selbst bei massiven Geschwindigkeitsexzessen nicht gerechtfertigt. Letztes Jahr zeigte ihm ein Journalist der «Rundschau» ein Manöver, das eine Dashcam aufgezeichnet hatte. Ein Autofahrer überholte einen anderen mit 175 km/h – auf einer Strasse mit Gegenverkehr. Erst wenige Meter vor dem entgegenkommenden Auto lenkte der Überholende zurück auf seine Spur. Die Chancen, eine Frontalkollision bei einer kumulierten Geschwindigkeit von zirka 250 km/h zu überleben, sind verschwindend gering.
Für Lobsiger ein alltägliches Ereignis, «statistisch überhaupt nicht selten». Er verglich das Manöver mit einem Ladendiebstahl. Für ihn ist klar: «Es gibt überhaupt kein öffentliches Interesse daran, dass sich die Bürger gegenseitig überwachen». Auf seiner Website argumentiert er, es sei «an der Polizei, für die Sicherheit im Strassenverkehr zu sorgen» und nicht an Privaten.
Das mag stimmen, doch: Ist diese Vorstellung nicht etwas naiv? Das Schweizer Strassennetz ist 83’000 Kilometer lang, darauf legen die Autofahrer pro Tag 280 Millionen Kilometer zurück. Dieses Geschehen flächendeckend zu überwachen ist schlicht unmöglich. Jeden Tag ereignen sich im Durchschnitt 50 Unfälle, bei denen Menschen verletzt werden – Dunkelziffer und Anzahl der Beinahe-Unfälle sind unbekannt. Das alles sind Ereignisse, die sich nicht ereignen dürften, wenn die Polizei die Sicherheit so gewährleisten könnte, wie es der Datenschutzbeauftragte propagiert.
Verkehrsunfälle haben Ursachen – höhere Gewalt gehört nur selten dazu. (Daten: BfU, Grafik, fxs)
Auch Lobsigers Vergleich von Autorowdys mit Ladendieben deutet auf eine Verharmlosung von Verkehrsdelikten hin. Pro Jahr gibt es rund 200 Tote und 3900 Schwerverletzte auf Schweizer Strassen. Obwohl wir dazu neigen, diese Unfälle als unvermeidliche Ereignisse anzusehen, die einer höheren Gewalt geschuldet sind: Hinter fast jedem Unfall steht die Verletzung der Verkehrsregeln durch mindestens einen Verkehrsteilnehmer. Die Hauptursachen von 85 Prozent aller schweren Unfälle sind: Zu schnelles Fahren, Ablenkung, Missachtung des Vortritts, Alkohol, Betäubungsmittel- und Medikamentenmissbrauch. Verletzt oder getötet werden dabei überproportional schwächere Verkehrsteilnehmer – Kinder, Senioren, Fussgänger, all jene, die besonders schutzbedürftig sind.
Auch im Verhältnis zu anderen strafbaren Handlungen haben Verkehrsdelikte enormes Gewicht: Laut dem früheren Zürcher Staatsanwalt Jürg Boll machen sie fast die Hälfte aller Fälle aus, die bei der Staatsanwaltschaft landen. Anhand von Videoaufzeichnungen können Gutachter etwa Geschwindigkeiten und Abstände ermitteln, Daten also, die für eine Beurteilung eines Verkehrsdelikts wichtig sind. Zudem helfen Videos, einen Unfallverursacher zu ermitteln, wenn er Fahrerflucht begangen hat. Es kann daher nicht erstaunen, dass Boll mit Nachdruck forderte, Dashcam-Aufzeichnungen als Beweismittel zuzulassen.
«Die Polizei kann nicht immer überall sein, aber die Öffentlichkeit schon», sagt der britische Unfallexperte Cox. Dass Bürger Verkehrsdelikte aufzeichnen und melden, könne Verkehrssicherheit deshalb «erheblich verbessern». Es vereinfache die Untersuchung von Delikten, die Durchsetzung der Gesetze und schliesslich stärke dieses Vorgehen auch das Vertrauen der Öffentlichkeit. Insbesondere habe die Verbreitung von Kameras eine abschreckende Wirkung: «Gefährliche Autofahrer wissen jetzt, dass die Person im Auto neben ihnen ihre Fahrweise festhalten kann. Und dass das zu einer Strafverfolgung führen kann.»
In der Schweiz wissen gefährliche Autofahrer, dass ihnen selbst ein Videobeweis praktisch nichts anhaben kann.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Die Datenschutzfrage in Ehren…tausende Handyfilmlis werden für weit Belangloseres ins Netz gestellt. Obligatorische Dascams wären in öffentlichen Verkehrsmitteln die Lösung zu einfachen und raschen Klärungen: alle Wochen passieren Stürze von Passagieren, weil vor dem Bus noch schnell einer einbiegt. Diese Kosten können mangels sicherer Beweisführung kaum überwältzt werden. Nur schon das Wissen, dass ein öffentliches Verkehrsmittel den Raum vor sich immer dokumentiert, würde umgehend zu zivilisierter Fahrweise dieser Risikofahrer führen.
Eine Steigerung dieser Wirkung könnte noch erreicht werden, wenn der Fahrer eine kleine rote Taste hätte, wo er bei erkannten Abartigkeiten des Gegenverkehrs eine Marke auf das Dokument setzen könnte. So wären bei der Auswertung dieser «objektiven» – weil auf öffentlichen Buslinien erhobenen Daten – auch klarere Aussagen über Ablenkung und Rowdytum zu gewinnen. Das hat nichts mit Überwachunsstaat zu tun, sonder ist ein Gebot der Stunde. Die Versicherer haben ja längst auch Zugriff auf die elektronischen Daten der Fahrzeuge im Unfallgeschehen – warum verzichtet unser Rechtstaat auf diese Beweismittel? Die nächste Autogeneration wird sogar das Verhalten / Befinden der Fahrer analysieren können… Die Untersuchungsbehörden sollen nicht länger im Dunkeln herumstöbern, Verfahren mangels Evidenz abschreiben müssen. Arbeit gibt jeder Unfall so oder so, die Aufklärungsquote würde hingegen mit der Zulassung von Videobeweisen drastisch verbessert.
Ich kann die Begründung des Datenschützers nicht ganz nachvollziehen. Bin ich im öffentlichen Raum unterwegs laufe ich permanent Gefahr auf irgendwelchen Handyvideos zu landen, die filmen mich ja nicht absichtlich, auf Facebook oder Instagram landen sie womöglich trotzdem. Im motorisierten Verkehr, der in den letzten 20 Jahren extrem zugenommen hat herrscht während des Berufsverkehrs in der Region Zürich täglich eine Gehässigkeit und Rücksichtslosigkeit bis zur Fahrlässigkeit, dass mir das fahren mittlerweile derart auf den Sack geht, dass ich meinen Handwerksberuf an den Nagel hänge. Ich glaube das Problem läge eher bei der Polizei. Die müsste personell stark aufrüsten. Ich allein könnte wöchentlich sicher drei Videos mit grob fahrlässigen Regelverstössen einreichen. Ich denke das londoner Konzept könnte durchaus eine disziplinierende Wirkung haben, was meiner Meinung nach dringend Not tut im Lande der ausgemachten Egomanen mit Privatschüpa.
Ich mag sie nicht, die technischen und vermehrt legalen Möglichkeiten ohne Ende Daten zu sammeln von allem was eine Existenz so mit sich bringt. Zu vieles bleibt bis heute komplett unreguliert und ist am Ende die reinste Wegelagerei weil alles mitgenommen und gespeichert wird was scheinbar ohne Eigentümer rumliegt.
Wer macht eine Initiative um das zu ändern, würde sofort unterschreiben!
Ein gut Eidgenössischer Kompromis: Dashcams auf 2Jahren begrenzt als Bewismittel im Strassenverkehr zulassen. Ich bin der Meinung, das würde schon genügen, um den sehr aggressiven Schweizer Strassenverkehr enorm und dauerhaft zu beruhigen.
Wenn sich die Agros danach trotzdem wieder durchsetzen sollten, ganze Übung einfach noch einmal…
Ich habe letztes Jahr ein bemerkenswertes Einfamilienhaus fotografiert. Plötzlich öffnete sich ein Fenster und der Bewohner rief, dass dies nicht gestattet sei. Ich schaute nach und fand heraus, dass dies vom öffentlichen Grund aus sehr wohl gestattet ist. Warum darf ich dann vom öffentlichen Grund aus kein Auto filmen?