Ukraine und Türkei – zwei Halb-Diktaturen
Seit vielen Wochen harren Bürgerinnen und Bürger der Ukraine auf dem Maidan in Kiew aus und demonstrieren gegen die Entscheidung ihres Präsidenten Wiktor Janukowitsch, das eigentlich fertig ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der Europäische Union (EU) nicht zu unterzeichnen, sondern sich lieber in die Arme Wladimir Putins zu begeben und auf diese Weise zu einer Zollunion mit Russland zu stossen. Die Protestierenden verlangen die Absetzung der Regierung, den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen.
Mitten auf dem Maidan war der deutsche Aussenminister Guido Westerwelle zu sehen, der offensichtlich einem der ukrainischen Oppositionsführer, dem Box-Weltmeister Witali Klitschko, seine Unterstützung auf dem Weg nach «Europa» angedeihen lässt. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika liess verlauten, sie prüfe Sanktionen gegen die Ukraine wegen des harten polizeilichen Vorgehens gegen die Demonstranten. Wiktor Janukowitsch scheint zu schwanken: Einmal betont er seinen Willen, sich an Russland anzulehnen, anderseits soll er erklärt haben, das Abkommen mit der EU doch noch unterzeichnen zu wollen.
Ein Trugschluss?
Fazit: Auf dem ukrainischen Schachbrett hat sich der Westen breit aufgestellt und den diktatorischen Allüren Janukowitschs Paroli geboten. Halten wir zusätzlich fest: Die Ukraine gehört zu den Staaten des Europarates, ist also zur Achtung der Menschenrechte gemäss den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verpflichtet.
Man könnte zum Schluss kommen: Endlich setzen sich Europas Politiker über die Staatsgrenzen hinaus dafür ein, dass in einem der europäischen Staaten das Menschenrecht auf freie Äusserung geachtet wird, und dies, obschon die Protestierenden Regierungsgebäude blockieren.
Zwei Massstäbe
Vor einiger Zeit gab es ganz ähnliche Zustände in der Türkei. In Istanbul erhob sich Protest gegen die geplante Abholzung eines Stadtparks, der an den TaksimPlatz anschliesst – eine der wenigen «grünen Lungen» inmitten der stets noch wachsenden 14-Millionenstadt. Der Protest weitete sich aus; er richtete sich auch gegen die prononcierte Islamisierungspolitik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Die türkische Polizei, ohnehin eine Prügelequipe ganz besonderer Qualität, schlug unbarmherzig zu. Hunderte von Demonstranten sitzen seither bereits monatelang in düsteren türkischen Verliesen, ohne dass gegen sie Anklage erhoben worden wäre.
Irgendwie vermisst man in der Türkei den Einsatz westlicher Politiker in der dortigen Öffentlichkeit im Interesse von Freiheit und Menschenrechten, und auch die Nato hat in dieser Hinsicht bislang nichts von sich hören lassen. Auch die Türkei ist Mitglied bei der EMRK; sie ist ihr sogar schon 1954 beigetreten.
Andere Interessenlage
Beide Staaten, die Ukraine und die Türkei, sind zwar verfassungsmässig als Demokratien konstituiert; in Tat und Wahrheit jedoch folgen ihre Regime der Vorstellung, wer die Mehrheit habe, könne sich alles und jedes leisten. In beiden Staaten besteht ein erheblicher Gegensatz zwischen der urbanen Bevölkerung in den grossen Städten und der weitgehend sehr einfach lebenden Bevölkerung in den ländlichen Gebieten.
Insofern stehen beide Staaten diktatorischen Herrschaftsverhältnissen wesentlich näher als dem, was man in Westeuropa unter einer Demokratie versteht. Von da her gesehen wäre der Einsatz westlicher Politiker in beiden Ländern in gleicher Weise erforderlich.
Der Unterschied zwischen der Ukraine und der Türkei besteht jedoch darin, dass die Ukraine geopolitisch für den Westen keine Bedeutung besitzt, wohingegen die Türkei als «Südostpfeiler» der in der Nato zusammengeschlossenen europäischen Staaten und der USA strategisch von erheblicher Bedeutung ist: Grenzstaat zum arabischen Nahen Osten, Grenzstaat zum Iran, und somit gewissermassen ein Vorposten des Westens.
Glaubwürdigkeit fordert Anderes
So gilt denn der Einsatz westlicher Politiker und der Nato im Falle der Ukraine nicht primär den Menschenrechten der dort protestierenden Bürgerinnen und Bürgern, sondern den konkreten eigenen ego- und wirtschaftspolitischen Interessen. So sehr die Protestbewegung in der Ukraine zu begrüssen ist – weil sie die Möglichkeit enthält, die Ukraine näher an die Vorstellung von Demokratie heranzurücken –, so bedauernswert ist es, dass die grosse Politik ihre Glaubwürdigkeit zufolge der selektiven Einflussnahme schwer beeinträchtigt. Ein wirklicher Einsatz für Menschenrechte verlangt, dass an alle Staaten dieselben Massstäbe anzulegen sind.
Warum die westlichen Staaten nicht klagen
Von der EMRK her gesehen würden sich sowohl gegen die Türkei als auch gegen die Ukraine Staatenklagen wegen systematischer Verletzung der in der EMRK gewährleisteten Menschenrechte rechtfertigen – ein Mittel, welches die EMRK ausdrücklich vorsieht. Doch auch da nehmen die EMRK-Staaten nicht nur Rücksicht auf eigene wirtschaftliche und politische Interessen; sie wissen auch, dass eben auch im Westen Mitgliedsstaaten zu finden sind, die es mit den Menschenrechten nicht allzu genau nehmen.
Sehen wir uns dazu doch die Statistik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte etwas näher an. Sie weist für die Periode von 1959 bis 2012 als sechs Spitzenreiter bezüglich der Anzahl der Menschenrechtsbeschwerden, welche meist einzelne Personen oder Nichtregierungsorganisationen eingereicht hatten, die folgenden Staaten auf:
Russische Föderation__107 950
Türkei_________________55 155
Polen_________________53 943
Rumänien_____________46 870
Ukraine_______________43 274
Italien_____ ___________31 925
Betrachtet man die Anzahl Urteile, in welchen auf wenigstens eine Verletzung der EMRK erkannt worden ist, sieht die 6er-Spitzengruppe so aus:
Türkei________________2 870
Italien________________2 229
Russische Föderation_1 346
Polen_________________1 019
Rumänien______________938
Ukraine ________________893
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die ehemals zum Ostblock gehörenden Staaten der EMRK erst nach dem Fall des Kommunismus in Osteuropa beigetreten sind: Polen 1994, die Ukraine 1997 und Russland 1998.
Steter Kampf ums Menschenrecht
So besteht denn wieder einmal Anlass dazu, in Erinnerung zu rufen, was der grosse deutsche Jurist Rudolf von Jhering festgehalten hat: Der Kampf ums Recht geht nie zu Ende. Er muss stets geführt werden, soll nicht Anarchie die Zivilisation zerstören!
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist verantwortlicher Redaktor der Quartalszeitschrift der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention «Mensch und Recht». Minelli ist auch Gründer und Verantwortlicher der Lebens- und Sterbehilfevereinigung Dignitas.
Gut, dass sich Ludwig A. Minelli nicht nur für Sterbehilfe, auch für Politik «vor unserer Haustür» interessiert, und hoffentlich weiterhin für die Trennung von Kirche und Staat. Der Beitrag ergänzt denjenigen von Christian Müller und deutet indirekt an, welche «Bereicherung» für die EU diese Staaten bedeuten würden. Nicht diese Staaten, eher schon die Menschen, die dort leben, verdienen unsere Solidarität. Die Probleme werden natürlich nicht dadurch gelöst, dass alle, denen es dort nicht passt, zu uns kommen sollen.
Mitglieder der Familien Rockefeller, Rothschild, Carnegie, Harriman, Morgan, Schiff und Warburg sind die Plutokraten, ihnen gehört über 90% des Weltkapitals und die 300 reichsten multinationalen Konzerne, sie sind die Diktatur. Alles andere sind nur Unterdiktaturen. Laufburschen welche auch ein paar Brotkrummen vom Kuchen wollen. Das sehe ich wenn ich die Zahlen anschaue wer wie viel Besitzt und/oder hortet. Eine Wirtschaft des Buhlens statt der Kooperation. Alles diese Missstände im kleinen haben ihre Ursache in diesem System, welches der Überarbeitung bedarf. Wenn sie wollen dass ihnen niemand glaubt, dann sagen sie einfach die Wahrheit. So, jetzt können sich wieder einige in Details verlieren und/oder sich über mich lustig machen. Die Zukunft wird uns alle belehren.