Teenager kämpfen als Journalisten gegen Waffengewalt
1200 Kurzporträts von Kindern. Getötet mit Schusswaffen. Diese Jahresbilanz des Entsetzens wurde verfasst und erstellt von 200 Jungreporterinnen und -reportern, die nach dem Massaker an der Marjory Stoneman Douglas Highschool in Parkland, Florida, am 14. Februar 2018 nicht einfach zur Tagesordnung übergehen wollten. Sie wollen aufzeigen, dass Massaker, über welche die Medien berichten, nur einen sehr kleinen Ausschnitt aller tödlichen Gewalttaten an Kindern darstellen.
James J. Springer III, 12, Syracuse, New York
Er liebte sein Skateboard und sein Fahrrad – immer war er auf Rädern unterwegs. Er träumte davon, Zeichner zu werden und übte bereits fleissig. Freunde beschrieben ihn als freundlich und lustig. Seine Familie sah ihn grösser und älter werden, hörte aber nicht auf, ihn Jr. – Junior – zu nennen.
James J. Springer III, 12, wurde durch einen Schuss in den Bauch am 10. Oktober 2018 ausserhalb seines Heims in Syracuse, New York, erschossen. Während seine Klassenkameraden in ihren Betten schliefen, wurde James ins Upstate University Hospital gebracht, wo er in einem gesichtslosen Raum starb.
Von Keely Ward, 16.
Der Waffenangriff des damals 19-jährigen Nikolas Cruz forderte 14 Todesopfer und 15 Verletzte und führte zum US-weiten Protest von Schülerinnen und Schülern gegen Waffengewalt, Waffenbesitz und die übermächtige National Rifle Association NRA. Der Protest kulminierte mit dem Deponieren von 7000 Paar Schuhen vor dem Kapitol in Washington, die alle ein totes Kind symbolisierten.
Die Jugendlichen wehrten sich erstmals landesweit und klagten die Politik in Washington und die gewählten Vertreter und Vertreterinnen in den US-Bundesstaaten an. Aber auch die Medien. Über Schiessereien in Schulen werde extensiv berichtet, dabei machten solche zwischen Februar 2018 bis Februar 2019 gerade mal ein Prozent der Waffengewalt gegen Kinder aus.
Izabella Marie Helem, 4, Lebanon, Indiana
Ihre Mutter ist Polizistin und nie hätte sie sich vorstellen können, dass die Schrecken ihres Jobs sie in ihr eigenes Haus verfolgen würden. Izabella und ihr Bruder wurden oft dabei gesehen, wie sie im Garten ihrer Grosseltern zusammen spielten. «Izzy war ein munteres Kind. Es war unmöglich, in ihrer Gegenwart schlecht gelaunt zu sein», erinnert sich ihre Mutter.
Die Vierjährige wurde unbeabsichtigt von ihrem drei Jahre alten Bruder am 29. November 2018 erschossen, als er mit einer Waffe im Haus ihrer Grosseltern spielte. Der Junge fand die Waffe unter der Couch, wo sie von einem Freund der Familie, der zu Besuch war, hingelegt worden war.
Von Scarlett Liriano Cepin, 19.
Denn es spreche fast niemand über die Kinder, die tagtäglich in den USA durch Waffen bei häuslicher Gewalt, als Unbeteiligte bei Schiessereien, durch Drogenkriminalität oder Streifschüsse bei Schiessereien getötet würden. So machten sich die Jungjournalistinnen und -journalisten zum Ziel, die während eines Jahres mit Waffen getöteten Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre mit einem Kurzporträt zu ehren und dafür die Website www.sinceparkland.org ins Leben zu rufen. Vor kurzem wurden die letzten Namen und Geschichten von Opfern aufgeschaltet, die innerhalb eines Jahres nach dem Parkland-Massaker gestorben waren. Nicht aufgenommen in die Porträts wurden Kinder, die mit einer Waffe Selbstmord begangen haben. Laut Betreibern der Website wären das nochmals rund 1000 Tote mehr.
«Feuer unter dem Hintern machen»
«Dass diese Porträts von Kindern und Teenagern von Teenagern geschrieben wurden, soll ein Schlag ins Gesicht der Medien sein und ihnen Feuer unter dem Hintern machen», erklärt Lila Taylor, eine 17-jährige Schülerin aus Clayton, Missouri. Die meisten Reporterinnen und Reporter wurden durch studentische Netzwerke und Schulzeitungen rekrutiert. Für viele war es aber auch ihre erste Erfahrung mit Journalismus. «Die Texte sind Journalismus in seiner reinsten Form. Sie erzählen die Geschichte der Menschen hinter den Statistiken», schreiben die Initianten des Projekts. Die Teenager wurden unterstützt durch «The Trace», eine unabhängige Non-Profit-Newsorganisation, die über die tägliche Waffengewalt in den USA berichtet, durch das «Gun Violence Archive», das sämtliche Schussopfer statistisch erfasst, und durch den Miami Herald und die McClatchy Newspaper Group.
Schüler Michael Pincus aus West Palm Beach, Florida, sagte, dass er zuerst gezögert habe mitzumachen: «Es ist morbid, über das Leben anderer Kinder zu schreiben, die getötet worden sind. Das führt dich an sehr dunkle Orte.»
Delametric Djaun Fairley, 18, Collins, Mississippi
«Die kleine Stadt in Mississippi, in der er lebte, war ihm nicht genug. Er war ambitioniert und fokussiert. Er träumte davon, an weit entfernte Plätze zu reisen, mit dem Mädchen, das er liebte. Seine Freundin, Lakai Carney, war ihm Unterstützung, wenn er sich einsam und verlassen fühlte. Sie waren sehr verliebt und er hoffte, eines Tages einen Sohn mit ihr zu haben.
Am 3. August 2018 wurden die Pläne von Delametric Djaun Fairley jäh unterbrochen: Er wurde mit einem Schuss bei einem Anlass zum Schulanfang in Collins, Mississippi, getötet.
Von Taniayah Dorsett, 16, und Scarlett Liriano Cepin, 19.
Die Reporterinnen und Reporter wurden denn auch instruiert, sich auf das Leben der Opfer zu konzentrieren und nicht auf die Umstände des Todes. «Auch wenn die Opfer eine kriminelle Geschichte hatten oder sogar eine eigene Waffe besassen, dann waren sie doch einfach nur Kinder», betont Joe Meyerson aus einer High School in Los Angeles. Bei seinen Recherchen sei er oft auf Fehler der Medien gestossen. «Es geht hier um erschossene Kinder, wie kann es sein, dass ihre Namen falsch geschrieben werden? Wie kann man den Ort, wo sie lebten, verwechseln, wie den Namen ihrer Schule? Das war etwas, das mich sehr beschäftigt hat und mich motivierte, wirklich exakt und genau zu schreiben.» Die Initianten betonen, dass sie das Menschliche erzählen wollen, das über die Tragödie der Todesschüsse hinausgehe. «Indem wir die Geschichten der Kinder erzählen, wollen wir Sie überwältigen, Ihnen bewusst machen, dass jeder dieser Tode inakzeptabel ist. Das ist nicht politisch, das ist menschlich.»
Jasmyne Jeter, 15, Chicago, Illinois
Eine Slideshow zeigt sie in Dutzenden von Bildern, wie sie in stylischen Outfits posiert. In einem, betitelt mit «Mommy», strahlt sie mit ihrer Mutter neben sich in die Kamera. Ihre Familie hatte den als gewalttätig bekannten Ort Englewood in Chicago verlassen, weil sie sich im Süden von Chicago ein sichereres Leben aufbauen wollten.
Bei einem Besuch in der alten Heimat wurde Jasmyne Jeter, 15, Studentin an der ACE Technical Charter High School, am 8. Mai 2018 von einem Gangmitglied erschossen.
Von Madison Hahany, 18.
PS: Bis am 3. Januar sind bereits wieder acht Kinder und Jugendliche durch Schusswaffen getötet worden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine