SRF-Tagesschau zu Obama: Show statt Substanz
Es gibt (mindestens) zwei bis drei verschiedene Sorten der SRF-Tagesschau. Die «neue» Tagesschau, mit klaren Schwerpunkten und Hintergründen, die einigermassen wohlgeordnete Tagesschau der althergebrachten Art, und die Tagesschau mit journalistisch unqualifizierten Beiträgen. Zu dieser dritten Sorte gehört die gestrige Tagesschau mit dem Bericht zur zweiten Amtseinführung von Barack Hussein Obama ins Amt des US-Präsidenten. Ich hatte mir die Zeremonie auf CNN angesehen, dann noch kurz auf BBC World und Al Jazeera International, und später dann ARD und ZDF und amerikanische Medien konsultiert – für einen Journalisten eine Selbstverständlichkeit. Sie waren alle beeindruckt von einer starken Rede und einer grossen Stimmung. Nicht so die SRF-Tagesschau.
Die «Schwurparty»
Gewarnt bin ich schon bei der Schlagzeile: «Spektakel in Washington». Sie signalisiert mir: «Alles Show», von Inhalt keine Rede. Die Moderation kapriziert sich auf den kleinen Verschlucker Obamas beim Amtseid (vor vier Jahren hatte es der Oberste Richter Roberts vermasselt, aber das weiss Frau Stauber nicht). Dann die Küsschen mit Familie, dann die Hunderttausenden «Schaulustigen», dann die Promis wie Jimmy Carter und Bill und Hillary Clinton, dann die Kanonenschüsse, dann ein kurzer Ausschnitt aus der Rede, in dem Obama die Leistungsfähigkeit Amerikas beschwört. «Das bestreben nach besserer Bildung, besserem Klimaschutz und besserer Chancengleichheit sind für Obama die grossen Herausforderungen der kommenden Jahre», meint pauschal die Tagesschau. Es sind gerade mal 40 Sekunden Inhalt in einem Bericht von fast 4 Minuten, denn jetzt singt Beyoncé die amerikanische Nationalhymne.
Dann mäkelt wieder Katja Stauber – «nicht mal die Hälfte der Zuschauer von vor vier Jahren sind da zur Schwurparty gekommen»… – für Frau Stauber ist offenkundig alles «Party»; oder sie verwechselt das wahrscheinlich mit kritischem Journalismus. Tatsache ist, dass es wohl gegen eine Million waren – tatsächlich weniger als die 1,8 Millionen als 2009, aber immer noch «ein Rekord für eine zweite Amtseinführung», wie die renommierte Website «Daily Beast» vermerkt. Vergleiche sind Glückssache.
Die «Ernüchterung»
Dann die Einschätzung des ansonsten sehr überzeugenden Korrespondenten Arthur Honegger, der sich zuerst auch auf die «Ernüchterungs»-Übung einlässt, aber dann immerhin auf die Feier der Demokratie hinweist, die da stattfindet und immerhin kurz auf das Thema «Klimawandel», und ansonsten ebenfalls «Frustration» feststellt. Das war’s dann vom Leutschenbach. Und damit stehen sie wahrscheinlich weltweit allein.
Eine «flammende Rede» hat das ZDF wahrgenommen und einen anderen, kämpferischen, selbstbewussten Obama, der das «Bündnis mit den Amerikanern» sucht im Kampf gegen die republikanischen Neinsager. Und beide, ARD wie ZDF, haben nicht den Verschlucker herausgehoben sondern die Tatsache, dass Barack Obama seinen Eid auf zwei Bibeln geleistet hat: die Bibel von Abraham Lincoln und die Bibel von Martin Luther King, dessen Vermächtnis in diesem Jahr, zufällig, am gleichen Tag gefeiert wird wie die zweite Amtseinführung des ersten schwarzen Präsidenten der USA. Und sie haben alle eine «konkrete» Rede gehört, einen Aufruf zur Einheit und eine Kampfansage an die politischen Blockierer.
»Diese Rede war kein Blabla», stellt «Spiegel online» fest unter dem Titel «Der neue Obama». Und listet Kernpunkte auf: Neues Einwanderungsrecht für die «hoffnungsvollen Immigranten»; Massnahmen gegen den Klimawandel, für die nächsten Generationen; Schuldenabbau aber Erhaltung des Sozialstaats; Kampf für die Bürgerrechte. Und all das unter dem grossen Begriff der Gleichheit, den die Verfassung für alle Amerikaner postuliert. «Gleichheit nicht nur vor Gott», sagt Barack Obama, «sondern auch vor den Menschen».
Die «Schaulustigen»
Offenkundig haben Frau Stauber und ihr Produzent kein Bewusstsein dafür, dass der Kampf um die reale Gleichheit, für den Martin Luther King vor 45 Jahren ermordet wurde, nicht beendet ist, solange das Wahlrecht für die diskriminierten Gruppen in der US-Gesellschaft nicht selbstverständlich ist – und sie erkennen das auch nicht in den Tränen der Hunderttausenden von schwarzen «Schaulustigen», die für ihre Gleichberechtigung noch jeden Tag kämpfen.
Offenbar haben sie auch keinen Begriff für den historischen Schritt – vom «historic plea» schreibt «Daily Beast» und vom historischen Wort die Huffington Post –, dass zum ersten Mal ein US-Präsident die Schwulen (»gay») in einer Inaugurationsrede offen anspricht und nicht nur der Liebe zwischen Männern oder zwischen Frauen das gleiche Recht auf Heirat sondern den gleichen Wert zuspricht. Die gleichen Schwulen und Lesben, die noch bis vor einem Jahr zum Beispiel in der Armee ihre Liebe geheim halten mussten, nach dem Prinzip von «Don’t Ask, Don’t Tell», frag nichts, sag nichts.
Und sie wissen nicht, was es bedeutet, wenn der US-Präsident von den gleichen Chancen für ein Kind spricht, das irgendwo in einem Slum oder einen Wohnwagenghetto aufwächst. 2.8 Millionen Kinder in den USA leben in extremer Armut, das heisst: sie leben mit maximal zwei Dollar am Tag, wie das National Poverty Center der Universität Michigan feststellt.
Im Leutschenbachghetto
Frau Stauber und ihr Produzent leben im Leutschenbachghetto, in einer wohlbestallten, privilegierten Stellung, und sind offenkundig weder willens noch in der Lage, sich respektvoll kundig zu machen über Realitäten, die ihren engen Horizont und die gesicherten Verhältnisse in ihrem sehr wohlhabenden Land übersteigen.
So kümmert es sie nicht, wenn ein amerikanischer Präsident über Zukunftssicherung spricht: Schuldenabbau ohne verheerende Einschnitte ins soziale Netz, weil die soziale Unterstützung die Leistungsempfänger nicht zu faulen Parasiten macht sondern ihnen erlaubt, «Risiken in Kauf zu nehmen». Zukunftssicherung durch einen – bei Obama stark auf Clean Technology ausgerichteten – Kampf gegen den Klimawandel. Oder Zukunftssicherung durch strenge Waffenkontrolle, in einem Land, in dem Tag für Tag Erwachsene und Kinder mit Schusswaffen umgebracht werden.
Die Verachtung des Publikums
Katja Stauber und ihr Produzent wollen das alles nicht wissen. Oder sie wollen nicht, dass wir das wissen. Oder sie verachten uns, ihr Publikum, und denken, dass wir das alles gar nicht wissen wollen. Sie liefern zwei Minuten inhaltliche Substanz, hoch gerechnet, in einem Beitrag von sechs Minuten.
An dieser Stelle hat der Service Public seinen Auftrag klar verfehlt. Katja Stauber hat ein weiteres Beispiel dafür geliefert, wie man sich als Moderatorin der wichtigsten Fernsehnachrichtensendung des Service Public disqualifiziert. Gregor Meier, der verantwortliche Redaktor für dieses «Spektakel in Washington» muss sich nach diesem Bericht die Frage gefallen lassen, was ihn zu seinem Job befähigt.
Barack Hussein Obama hat nicht versprochen, dass er alles erreicht, aber er hat vollen Einsatz angesagt. Und er hat mit seiner konkreten Antrittsrede einen Massstab gesetzt, an dem er gemessen wird und an dem er offenkundig auch gemessen werden will. Gestern ging es darum, das ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen und professionell zu vermitteln. Das Mass nehmen beginnt heute.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor hat bis 2004 in verschiedenen Funktionen für die SRG gearbeitet.
Ausgezeichneter Artikel, ich gratuliere Ihnen.
Leider ist dieses Phänomen nicht ein Ausrutscher von SRF, sondern ein Phänomen, das sich seit längerem in vielen Medien breit macht.
Wie Herr Ph. Leutenegger selbst in einer Rede vor Mitgleidern der Basler Handelskammer kürzlich sagte, seine nicht wenige Journalisten faul, schrieben voneinander ab und recherchierten schlecht…
Das hat aber sicher auch mit den Finanzen zu tun, die scheinbar nicht mehr ausreichen, den Journalisten Zeit und Musse zu geben, einen Artikel nach den Regeln der Kunst zu erstellen. Alles muss schnell und billig sein. Fatal bei der Kommunikation in solchen Gebieten.
Danke Robert und Silva. Mir kommt beim Kürzel SRG immer ein russisches Sprichwort in den Sinn: «Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken."
Auch ich hatte ein «komisches» Gefühl, als ich die Tagesschau sah. Danke dass Sie «den Finger» auf die «wunde Stelle legten» – es stimmt. Zu oft wird am SRF gearbeitet als ob wir Zuschauer nur einfach «Bildli» sehen wollen – und keine Fakten. Danke
Unser Selbstgenügsamkeitsfimmel trägt halt Früchte! – Die anderen – auch ihre Leistungen – entgleiten unserem Blick.
Umso mehr bin ich dankbar für den Beitrag von Robert Ruoff. Und dem Infosperber fürs Weitergeben.
Fernsehen ist ohnehin Zeitverschwendung, «Spiele» halt für’s Volk.
Wer sich informieren will hört Radio SRF oder nimmt halt die Mühe auf sich, im WWW den Weizen von der Spreu zu trennen.
Eine Frechheit ist aber der Plan, von allen Nicht-Fernsehern Gebühren dafür zu kassieren.