Parlament: Nicht immer entscheiden die meisten Wahlstimmen
Red. Silvano Moeckli ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen. 2017 publizierte er das Buch «So funktioniert Wahlkampf».
Welche Parteien und Kandidierenden gewinnen am 20. Oktober die Schweizer Parlamentswahlen? Natürlich jene, die mehr Wählerstimmen machen als die Konkurrenz, würde man spontan sagen. Aber so einfach ist das nicht. Die Wählerstimmen müssen nämlich durch ein Wahlsystem in Mandate umgerechnet werden, und dies ist in der Schweiz, wie auch anderswo, kompliziert.
Es kann nämlich durchaus der Fall eintreten, dass eine Partei zwar an Wählerstärke zulegt, aber gleichwohl Mandate verliert (und umgekehrt). Das Wahlrecht spielt eine grosse Rolle für die Gewinnchancen der Parteien und Kandidierenden. Dazu gehören auch Dinge wie
- die Wahlkreiseinteilung;
- die Wahlbewerbung;
- die Stimmgebung.
Jeder Akteur möchte natürlich die Spielregeln zu seinem Vorteil ausgestalten, und so sind Wahlrechtsfragen stets auch Machtfragen. Für die bevorstehende Wahl stehen die Spielregeln indessen fest. Betrachten wir sie kurz.
Unterschiedliche Wahlsysteme für Stände- bzw. Nationalratswahlen
Bezüglich Wahlsysteme kann man eine grobe Einteilung in zwei Typen machen: Mehrheitswahlsysteme und Verhältniswahlsysteme.
Bei der Mehrheitswahl braucht es zur Erlangung eines Mandats eine absolute oder relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Verbreitet sind Systeme mit zwei Wahlgängen: Im ersten bedarf es einer absoluten, im zweiten einer relativen Mehrheit. So funktionieren die Ständeratswahlen in den meisten Kantonen.
Die 200 Mandate des Nationalrates werden nach dem Verhältniswahlverfahren vergeben. Zur Erlangung eines Mandats braucht es einen bestimmten Anteil der Stimmen. Wie hoch die Hürde ist, hängt von der Zahl der zu vergebenden Mandate ab. Stehen wie im Kanton Zürich bei Nationalratswahlen 35 Mandate zur Verfügung, ist die Hürde für eine erfolgreiche Wahl weniger als drei Prozent der abgegebenen Listenstimmen.
In sechs Schweizer Kantonen ist hingegen nur ein einziges Mandat zu erwerben, und hier ist die Hürde bei wenigen Kandidierenden sehr hoch. Die Mandate werden zunächst den Parteien zugeteilt und in einem zweiten Schritt jenen Kandidierenden, welche auf den Listen die meisten Stimmen erhalten haben.
Die Wahlkreise sind in beiden Fällen die Kantone. Jeder Kanton stellt zwei Ständeräte (Halbkantone einen). Insgesamt sind es 46. Der Kanton Zürich mit 1,5 Millionen Einwohnern stellt also nicht mehr Ständeräte als der Kanton Uri mit 36’000 Einwohnern.
Die 200 Nationalratsmandate dagegen werden den Kantonen entsprechend ihrer Bevölkerung zugeteilt.
Hier treffen wir bereits auf eine Frage, die das Wahlrecht klären muss: Erfolgt die Zuteilung entsprechend der Gesamtbevölkerung – was zutrifft – oder entsprechend der Zahl der Wahlberechtigten? Würden nur die Wahlberechtigten zählen, wären Kantone mit einem hohen Ausländeranteil im Nachteil.
Chance für kleine Parteien auf Mandatsgewinne dank Proporzwahl
Bis 1919 erfolgte die Wahl des Nationalrates nach dem Mehrheitswahlverfahren. Erst mit der Einführung des Verhältnis- oder Proporzwahlverfahrens hatten kleine Parteien die Chance auf substanzielle Mandatsgewinne. Die Freisinnig-Demokratische Partei verlor aus diesem Grund damals ihre Mehrheit. Eingeführt worden ist die Proporzwahl übrigens erst durch eine Volksinitiative – im dritten Anlauf!
Das seither geltende Verhältniswahlverfahren hat bei der Sitzzuteilung in den Kantonen auch seine Tücken. Das Problem: Wenn man die Stimmzahlen in Mandate umrechnet, geht die Rechnung nie genau auf.
Das heutige Verfahren «Hagenbach-Bischoff», benannt nach dem Basler Mathematik- und Physikprofessor, bevorteilt unter dem Strich die wählerstärksten Parteien, da sie am ehesten von den sogenannten «Restmandaten» profitieren. Nach diesem Verfahren «Hagenbach-Bischoff» berechnet sich die Verteilung nach der Zahl der abgegebenen Listenstimmen, dividiert durch die Zahl der Mandate plus 1. Es kommt zu einer zweiten und, wenn nötig, mehreren weiteren Verteilungen.
Dabei werden die Stimmen der Listen oder Listengruppen durch die Zahl der Sitze der ersten Verteilung plus 1 dividiert. Die Listengruppe oder Partei mit dem grössten Quotienten gewinnt einen (weiteren) Sitz. Hier ein Beispiel aus dem Kanton St. Gallen.
Verteilung der 12 Nationalratssitze aus dem Kanton St. Gallen. Grössere Auflösung der Grafik hier.
Bei der ersten Verteilung bei den Nationalratswahlen 2015 wurden erst 9 von 12 Sitze im Kanton St.Gallen vergeben. Das sind die sogenannten «Vollmandate». Es blieben also drei Restmandate. Es waren drei weitere Verteilungen nötig, um die restlichen Mandate zu vergeben. Sie gingen an die Listenverbindungen mit den Hauptparteien CVP, FDP und SVP.
Dies heisst auch, dass diese Mandate für diese Parteien bei den bevorstehenden Wahlen «Wackelsitze» sind. Zwei oder mehrere Parteien können «Listenverbindungen» eingehen. Bei der Verteilung der Sitze werden dann die Stimmen dieser Parteien addiert. Die von einer Listenverbindung erzielten Sitze werden wiederum entsprechend der Stimmenzahl intern verteilt.
In der obigen Grafik sieht man, dass innerhalb der Listenverbindung der CVP die EVP und die BDP leer ausgingen. Ohne die Stimmen dieser Parteien hätte die CVP einen Sitz verloren. Alleine büsste sie nämlich 3,7 Prozent ein und kam nur auf einen Wähleranteil von 16,6 Prozent, gewann aber ein Viertel der Sitze. Auch innerhalb von Listenverbindungen bevorteilt «Hagenbach-Bischoff» die stärkeren Parteien.
Panaschieren und Kumulieren
Das Stimmgebungsverfahren bei den Nationalratswahlen erlaubt Panaschieren und Kumulieren, d.h. ein Wähler kann einen Kandidierenden einer anderen Partei auf die eigene Wahlliste setzen oder einen Namen zweimal anführen. Dazu muss er allerdings einen aufgeführten Kandidierenden streichen. Die Wählerstärke der Parteien bemisst sich nach der Stimmenzahl. Da etwa die Hälfte der Wählenden den Wahlzettel verändert, handelt es sich zum Teil um «fiktive Wähler», denn nur bei einem unpanaschierten Wahlzettel kann man einen Wähler eindeutig einer Partei zuordnen.
Natürlich wären auch proportionalere Zuteilungsverfahren ohne Restmandate möglich, etwa das des «Doppelten Pukelsheims», das sieben Kantone für kantonale Wahlen bereits kennen. Bei nationalen Wahlen würden in einer ersten Verteilung die Parteistimmen schweizweit zusammengezählt und die Mandate entsprechend an die Parteien verteilt. In einem zweiten Schritt würde bestimmt, in welchen Kantonen die Parteien diese Mandate zugesprochen erhalten.
Aber natürlich sperren sich Parteien, die vom bestehenden System profitieren, gegen Neues. Das war vor der Einführung des Proporzes nicht anders.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine