Dreimal Demokratie: gefährdet und neu gefordert
Nichts in den letzten Jahren hat das Thema «Demokratie» so ins Zentrum des Interesses und der Diskussion – bis zu handfesten Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit Polizeieinsatz – gebracht, wie die Covid-19-Pandemie. Und dies weltweit! Funktioniert die Demokratie überhaupt noch? Welche Kompetenzen hat sie «nach oben» abgegeben? Was dürfen die Behörden mit «demokratischer Legitimation» tun – im Normalfall, und eben auch in einem Ausnahmefall wie jetzt in Corona-Zeiten?
Nicht als Corona-bedingte Schnellschüsse, sondern als Resultat jahrelanger Beobachtung – aber durchaus aktuell bis ins Jahr 2020 hinein – sind in den letzten Monaten zwei Bücher zum Thema Demokratie erschienen, beide von prominenten Schweizer Autoren, beide hervorragend in Inhalt und Form, beide äusserst lesenswert:
Roger de Weck war einst Chefredaktor des Zürcher «Tagesanzeigers» (1992-1997), Chefredakteur der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit» (1997-2000) und zuletzt von 2011 bis 2017 Generaldirektor der öffentlich-rechtlichen Schweizerischen Radio- und Fernseh-Gesellschaft SRG. In allen diesen drei Management-Positionen hat er kaum besonders hohe Leistungsausweise verbuchen können. Als Buchautor indessen zeigt er sich einmal mehr von seiner absolut brillanten Seite – in seiner Kernkompetenz als Beobachter, Analyst und sprachlich äusserst talentierter Schreiber.
De Weck geht das Thema «Demokratie» global an. Seine unzähligen erwähnten Beispiele zeigen einen wahrhaft international belesenen Kenner der Materie. Und er macht, was im Buchtitel noch nicht erahnt werden kann, darauf aufmerksam, dass die Demokratie nicht nur durch Autokratie-begeisterte Politiker und ein reaktionäres Publikum gefährdet ist, sondern vor allem auch durch die globalen Konzerne, die mit ihrer Wirtschaftsmacht die Demokratien in mittleren und kleineren Ländern locker austricksen. Wörtliches Zitat aus dem Buch: «Im Bann der Megamacht von Global Players, die wenig Selbstzweifel hegen und die Politik als ihre Dienstleisterin betrachten, erwuchs aus der liberalen die neoliberale Demokratie. Ökonomie lenkt Demokratie. Verkehrte Welt: Die Wirtschaft reguliert den Staat. So war’s ganz und gar nicht vorgesehen.»
Josef Lang – besser bekannt als Jo Lang –, Schweizer Historiker, langjähriger Parlamentarier in Zug und in Bern, vor allem aber auch aktiver Kämpfer gegen eine militärische Schweiz, beschränkt sich in seinem Buch, wie es der Titel besagt, auf die Demokratie in der Schweiz. Ein Grossteil des Buches ist Schweizer Geschichte, immer mit dem Auge auf die internen politischen Machtkämpfe und Auseinandersetzungen. Und mit einer äusserst detailreichen Auslegeordnung der demokratischen Verhältnisse im demokratischen «Musterland» Schweiz – dies bis in die allerneuste Zeit, inkl. Wahlen 2019. Wie ist das Frauenstimmrecht zustande gekommen? Was genau unterscheidet heute die Sozialdemokraten und die Grünen? Und wie sind die Grünliberalen einzuordnen? Immer mit präzisen Antworten. Ein phantastisches Buch. Für aktiv Politisierende ein Lektüre-Muss, für Nicht-Politisierende zumindest ein echtes Lesevergnügen – auch wenn es inhaltsbedingt immer auch sehr viele Zahlen zu lesen gibt. So macht Geschichte – geschriebene Geschichte – Freude. Und dient zugleich als Motivation, tatsächlich selbst mitzumachen, zumindest als regelmässiger Urnengänger, vielleicht aber sogar in einer politischen Vereinigung.
Es geht um die Stärkung der Demokratie
So unterschiedlich die beiden Bücher sind, so haben sie doch viele Gemeinsamkeiten. Nicht nur, dass sie über lange Anhänge mit Anmerkungen, Quellenangaben, Namensverzeichnissen etc. verfügen und deshalb auch für den wissenschaftlichen Gebrauch geeignet sind, beide Autoren beenden ihre Bücher auch mit klaren Empfehlungen, was jetzt notwendig ist, um die Demokratie zu retten und zu stärken. Roger de Weck: «Zwölf Vorschlage für die Demokratie», Jo Lang: «Die Zukunft der Demokratie in der Schweiz: zehn Herausforderungen». Beide Bücher sind also nicht nur historische Rückblicke und Gegenwartsanalysen, beide Autoren befassen sich auch mit der Zukunft – ein weiterer Grund, die Bücher zur Kenntnis zu nehmen und die Vorschläge ihrer Autoren zu überdenken.
Beide Bücher aber haben auch einen gemeinsamen Schwachpunkt: Sie basieren auf dem vermeintlichen Axiom, dass Demokratie ausschliesslich auf der Basis des Nationalstaates funktioniert, also an der Landesgrenze Halt macht. Warum gibt es keine Demokratie über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus?
Jo Lang tönt diese Problematik immerhin an – im letzten und deshalb nicht unwichtigsten Abschnitt seines Buches: «Was bedeuten die Probleme für die Schweizer Demokratie? Liegt die Antwort in nationaler Abschottung oder in einer Politik, die globale Steuergerechtigkeit mit internationaler Demokratieförderung verbindet? (…) Können all die demokratischen Bewegungen, seien sie sozial, ökologisch, feministisch oder politisch motiviert, die Demokratisierung und Ermächtigung der Uno, der einzigen universellen Organisation auf diesem Planeten, befördern?»
Auch über diese Demokratie, die nicht an den Landesgrenzen enden soll, gibt es ein Buch: «Jo Leinen und Andreas Bummel: Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision.» Über dieses Buch hat Infosperber bereits ausführlich berichtet (hier anklicken). Und so langsam gibt es auch in der Schweiz aktive Politiker, die sich mit dieser Thematik näher befassen, an vorderster Stelle der Zürcher Ständerat Daniel Jositsch. (Zu seiner Rede im Parlament zum Thema «Demokratisierung der Vereinten Nationen» hier anklicken.)
Nicht zuletzt, um die Gefährdung der Demokratie durch die wirtschaftlichen Global Players zu stoppen, darf auch dieses Thema nicht vergessen oder verdrängt werden.
Demokratie über die Landesgrenzen hinaus
Es gibt sie, die politische Bewegung, die dafür kämpft, dass die Demokratie nicht einfach an den Landesgrenzen aufhört, sondern auch darüberhinaus zum Tragen kommt. Das «Zentrum für Demokratie in Aarau» ZDA, ein Institut der Universität Zürich, führt am kommenden 20. Oktober eine öffentliche Abend-Veranstaltung durch: «75 Jahre UNO – Die Welt in der Krise. Ist es Zeit für ein Weltparlament?» Zu den Referenten gehören Prof. Andreas Glaser, Direktor dieses Instituts, Daniel Jositsch, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich, Zürcher Ständerat und Präsident der Vereinigung «Demokratie ohne Grenzen Schweiz», Tina M. Freyburg, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen, und Andreas Bummel, Geschäftsführer «Democracy Without Borders International».
Nachtrag vom 21. Oktober 2020: Die Veranstaltung hat covid-19-bedingt nur als Webinar stattgefunden. Wer sich die Referate anhören will, kann hier anklicken.
Roger de Weck: Die Kraft der Demokratie. Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre. 327 Seiten, Verlag Suhrkamp, Berlin 2020
Josef Lang: Demokratie in der Schweiz. Geschichte und Gegenwart. Verlag HIER UND JETZT, Baden 2020
Jo Leinen, Andreas Bummel: Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision. Dietz Verlag, Köln 2017
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Siehe dazu auch
«Die totale Globalisisierung – ohne Demokratie?» (auf Infosperber)
Wunderbar, dass es diese Bewegungen gibt, und wunderbar, dass Sie auf infosperber darüber berichten. Insbesondere Wirtschaft und Demokratie müsste noch vertieft werden.
Schon die Legende unter dem Bild am Artikel-Anfang ist falsch, (die allerdings nicht vom Artikelverfasser stammen muss).
Die Ausschaltung des Parlaments für die Durchsetzung von Notstandsmassnahmen in Deutschland ist demokratisch nicht legitimiert.
Sehr herzlichen Dank für diese Hinweise, Christian Müller. Sie werden mir helfen, einige ärgerliche Lücken in meinem Demokratieverständnis zu schliessen. Hier noch ein viertes Buch zum Thema: Harald Welzer, „Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft“; Fischer Taschenbuch-Verlag,2017. Aus der Beschreibung: „ Schwere Zeiten für die Demokratie. Die Politik der Angst bestimmt die öffentliche Debatte, es herrscht Hysterie und Wut, obwohl wir in der sichersten und reichsten Gesellschaftsform leben, die es je gegeben hat. Es ist Zeit, den verrückten Marsch nach rückwärts aufzuhalten. Dieses Buch zeigt, wie das geht.“
Der Fehler dieser Bücher, ist, dass sie der Demokratie vorschreiben, wie sie sein soll. Demokratie kommt von «demos» (Volk) und «kratia» (Herrschaft). Das Volk entscheidet, nicht die Herren de Weck, Lang, Leinen, Bummel. Die Demokratie funktioniert von unten nach oben. Je höher die Entscheidungsinstanzen angelegt sind, umso verdünnter und pervertierter wird die «Demokratie». Ein Weltparlament ist ein Hirngespinst, das nur Professoren im Elfenbeinturm einfallen kann.
De Weck hat recht, wenn er von der Megamacht der Global Players schreibt. Was er aber nicht versteht – und die anderen Autoren, inklusive Jositsch, auch nicht – ist, dass die globalen Konzerne genau auf eine grenzenlose Globalisierung hin arbeiten, angefangen bei der EU als Labor für die Weltregierung: das EU-Parlament hat nicht das Grundrecht eines demokratischen Parlaments, nämlich die Formulierung eigener Gesetzesinitiativen. Ein Weltparlament wäre ein Geschenk an die Wirtschaftsmächte. Es wäre einfach zu korrumpieren, so wie es heute bei Parlamenten grosser Staaten der Fall ist, siehe z.B. USA. Nicht vergebens tummeln sich 25’000 Konzernlobbyisten in Brüssel.
Die direkte Demokratie ist am wenigsten durch die globalen Konzerne beeinflussbar. Deswegen ist es wichtig, die Entscheidungsmacht von Gemeinden, Kantonen und Nationalstaaten zu stärken, statt sie mit supranationalen Konstrukten zu schwächen. Die wirkliche Demokratie funktioniert unten. Von oben müssen die unteren Instanzen abgeschirmt werden.
@Pedro Reiser: Bitte nicht vorschnell urteilen. In so einem kleinen Artikel kann nicht alles erläutert werden. Selbstverständlich sind wir Vertreter der Subsidiarität: Alle Kompetenzen so tief ansiedeln wie möglich: in den Gemeinden, in den Kantonen, und weiter oben eben nur, wo unbedingt notwendig. Aber es gibt – leider! – eben auch Probleme, die nur international gelöst werden können. Und dann darf es nicht sein, dass San Marino oder Andorra gleich viele Stimmen in der UNO haben wie ganz China oder Indien, nämlich 1. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Sie dürfen davon ausgehen, dass hier nicht nur Dummköpfe am Werk sind, schon gar nicht nur Professoren im Elfenbeinturm. Mit freundlichem Gruss, Christian Müller
@Pedro Reiser, zur Direkten Demokratie: Ist es noch Demokratie, wenn 49% wählen, und davon 51% gegen eine Verbesserung sind? Eine Demokratie basiert auf einer Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürger und zwar aus Solidarität. Ohne diese sind Freiheit und Gleichheit leere Worte.
@Christian Müller: Bitte nicht vorschnell urteilen. In einem noch kleineren Kommentar kann nicht alles erläutert werden. Ja, es gibt Probleme, die nur international gelöst werden können. Aber eben zwischen (inter) Nationen und nicht «global». Ich habe 3/4 meines Lebens in 4 Kontinenten gelebt und gearbeitet. Nirgends auf der Welt funktioniert die Demokratie besser als in der Schweiz. Zu meinen, man könne die Welt nach Schweizer Muster demokratisieren ist Lichtjahre von der Realität entfernt. Die Realität ist aber, dass die Welt schon heute von der Hochfinanz und den globalen Grosskonzernen dominiert wird. Und die globalen Organisationen sind bereits unter Kontrolle der Big Players. Zwei Beispiele: der grösste Geldgeber an die WHO ist neben China und USA (die nicht mehr zahlt) die Bill & Melinda Gates Foundation, und die UNO wird durch das WEF unterwandert. Am 13. Juni 2019 unterzeichneten das WEF und die UNO ein „Strategic Partnership Framework“, das den Konzernen direkten Einfluss auf viele relevante Gremien und Programme der UNO gewährt. Zu meinen, mit einem Weltparlament, das etwa so «gut» und «sauber» funktionieren würde wie etwa eine FIFA-GV, könnte man den Big Players Paroli bieten, ist total unrealistisch. Dass San Marino oder Andorra gleich viele Stimmen in der UNO haben wie China oder Indien ist ein unbedeutendes Problem verglichen mit der Dominanz der Big Players. Appenzell IR und AR haben auch gleich viele Stimmen im SR wie ZH oder BE.
Mit freundlichem Gruss, PR
@Michel Mortier: Bei wichtigen Abstimmungen ist die Beteiligung hoch. Beispiele: EWR-Beitritt 78.7%, Schweiz ohne Armee 69.2%, Durchsetzungsinitiative 63.7%, Sanierung Gotthard-Strassentunnel 63.5%. Begrenzungsinitiative 59.5%. In einer Demokratie gibt es auch das Recht, sich der Stimme zu enthalten, also nicht abzustimmen. Die Stimmbürger/innen sind mündig und können selber entscheiden, ob sie abstimmen wollen oder nicht.
Wie alles Menschliche, ist die direkte Demokratie nicht perfekt. Bis jetzt wurde aber keine bessere demokratische Formel gefunden. Wenn Sie ein demokratischeres System als die direkte Demokratie kennen, schlagen Sie es doch bitte vor.
Ich möchte Christian Müller und Infosperber ein grosses Lob aussprechen. Obwohl ich hier eine stark gegensätzliche Meinung zu ihnen äusserte, wurden meine Kommentare weder zensuriert, gekürzt noch verzögert. Das ist Demokratie! Beim Tagi wurden meine Kommentare schon öfters ignoriert, d.h. nicht aufgeschaltet oder nur mit grosser Verspätung, so dass sie niemand mehr las. Mit der NZZ habe ich diesbezüglich eine bessere Erfahrung gemacht. Nun aber die sehr gute mit Infosperber. Bravo!
Wie bereits jemand sagte Demos= Volk Kratos=Herrschaft. Bei Abstimmungen die um die 50% gehen wird klar ersichtlich, dass nur die halbe Demo (Volk), die Kratos (Herrschaft) bekommt, was sie will, die andere Hälfte war ja dagegen, wir leben also nur nach dem Wort in einer Demokratie, Herrscher ist aber nur die Hälfte, was die andere Hälfte zu Untergebenen macht. Populismus ist das Resultat einer Pseudodemokratie. @pedro Reiser, du verwechselst Demokratie mit Meinungsfreiheit.