Deutschland: Eine Minderheitsregierung wäre besser
Eine Regierung, die achtzig Prozent der Parlamentarier hinter sich hat, pervertiert die Demokratie. Eine Demokratie braucht eine gewichtige Opposition, wie dies in den USA, in Grossbritannien oder Frankreich der Fall ist. Eine genügend starke Opposition kann sich profilieren, sobald die Regierung versagt. Sie sorgt auch bei Sachfragen für ein starkes Pro und Contra, so dass Mauscheleien weniger möglich sind.
Opposition wird Zulauf erhalten
Die neue rot-schwarze Koalition in Deutschland wird laufend ihre Kompromisse verteidigen müssen. Es bleibt den Linken und Grünen vorbehalten, radikale Forderungen zu formulieren und alle Schwachstellen der rot-schwarzen Kompromisse an den Pranger zu stellen. Deshalb wird die parlamentarische und ausserparlamentarische Opposition (FDP, AfD, NPD) bei den nächsten Wahlen in vier Jahren gute Chancen haben, auf Kosten der grossen Parteien stark zuzulegen.
Am meisten Federn dürfte dann die SPD als Juniorpartnerin der GroKo lassen müssen. Jedenfalls hat in den alten Bundesländern, in denen die Linke als Juniorpartnerin eine Koalition mit der SPD eingegangen war, die Linke bei den folgenden Wahlen überall grosse Einbussen erlitten.
Damit sind die seit dem Zweiten Weltkrieg stabilen politischen Verhältnisse in Deutschland gefährdet. In Zukunft werden wahrscheinlich Koalitionen zwischen drei Parteien nötig, oder es drohen österreichische Verhältnisse mit wiederholten grossen Koalitionen.
Minderheitsregierung wäre möglich gewesen
Politiker und Medien redeten und schrieben fast nur von einer schwarz-roten oder schwarz-grünen Koalition. Ein alleiniges Regieren der Union blieb tabu.
In Deutschland wurde eine solche Lösung kaum thematisiert. Der Politbarometer des ZDF, der den Puls der Wählerschaft fühlt, fragte in den letzten Wochen nur nach Meinungen über eine Grosse Koalition oder über die «Alternative» Neuwahlen. Eine Minderheitsregierung war keine Variante und wurde ausgeklammert – auch von den Medien in der Schweiz.
Doch SPD und Grüne hätten die Union von CDU und CSU ohne weiteres allein regieren lassen können – als Regierung ohne absolute Mehrheit im Bundestag. Das ist nach der Verfassung der Bundesrepublik, dem Grundgesetz, ohne weiteres möglich (Infosperber hatte am 24. September 2013 kommentiert: «SPD und Grüne sollen Merkel allein regieren lassen»).
Eine Mehrheit des Bundestags hätte Angela Merkel zur Bundeskanzlerin wählen können. Im Extremfall hätte ihr sogar die Mehrheit der abgegebenen Stimmen gereicht (Art. 63,4 Grundgesetz). Die Kanzlerin hätte dann laut Grundgesetz ihre Minister frei wählen und eine Regierung bilden können (Art. 64).
Das deutsche Grundgesetz verhindert italienische Verhältnisse, weil eine Regierung nur gestürzt werden kann, wenn sich der Bundestag auf eine neue Kanzlerin oder einen neuen Kanzler einigt und diese(n) tatsächlich wählt (Art. 67). Eine Zeit ohne gewählten Kanzler und ohne funktionierende Regierung kann es in Deutschland also nicht geben.
Ein alleiniges Regieren der Union hätte den Vorteil gehabt, dass sich die Union bei Sachfragen stets eine Mehrheit im Bundestag hätte sichern müssen. Wir sind uns dies in der Schweiz gewohnt. Sollte die Regierung mit einer Sachvorlage Schiffbruch erleiden, ist ihre Regierungstätigkeit deswegen nicht gefährdet – so wie in der Schweiz.
Aber dafür ist es jetzt zu spät.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ob die GROKO, Wort des Jahres, so schlecht werde, bleibe dahingestellt. Merkel hätte es wohl auch zur SPD-Chefin geschafft. In gewissem Sinn politisierte Schröder «rechts» von Merkel, was insofern zwar falsch ist, als Merkel über Jahrzehnte immer genau auf der Linie der Politik war, «die geschieht", ohne den Eindruck zu erwecken, sie liesse sich treiben. Im Vergleich zu Sarkozy, Hollande, Kennedy, Clinton, Brandt, Strauss scheint sie frei von läppischen Charakterfehlern zu sein. Der Teufel existiert nicht, der sie in Versuchung zu führen vermöchte. In Sachen Intelligenz verfügt sie in gegenwärtiger Weltpolitik leider kaum über ernsthafte Konkurrenz. Das wäre z. Z. des Wiener Kongresses, mit Talleyrand, Pictet de Rochemont u. Co. noch anders gewesen, hängt mit dem höheren Bildungsniveau aus der Vor-PISA-Zeit zusammen.
Herr Gasche bekäme recht, wenn es im deutschen Parlament eine Opposition mit ernst zu nehmenden Alternativen gäbe, mit irgendeiner praktikablen Idee, welche Merkel nicht auch aufnehmen könnte, würde diese irgendwie Erfolg versprechen.
Unfair ist es, FDP und NPD als «ausserparlamentarische Opposition» in einem Atemzug zu nennen. Die Liberalen fehlen. Extremistische NPD überlebt praktisch dank Verbotsantrag. Hingegen wäre die wenig strukturierte aber nicht rechtsradikale im Vergleich zur SVP CH noch schwach organisierte Alternative für Deutschland ev. in der Lage, bis 20 % EU-Zweifler mittelfristig zu binden. Merkels Programm: Frohe und gesegnete Weihnachten!
Erstaunlich von einem Schweizer Autoren einen Artikel zu lesen, der den Mainstream deutscher Kommentatoren widerspiegelt. Gerade aus schweizerischer Sicht liesse sich die grosse Koalition völlig anders beurteilen:
In der Schweiz vereinigen die an der Regierung beteiligten Parteien über 80% der Parlamentarier. Hier spricht niemand von «Demokratiedefizit".
Zudem ist es nicht einsichtig, weshalb die SPD als Verliererin aus der grossen Koalition hervorgehen sollte: Die CDU muss mindestens gleich viele Zugeständnisse machen und läuft Gefahr ihre Wähler ebenso zu verärgern. Dass der SPD die GroKo nicht wohl bekommen ist, hat eher etwas mit ihrer eigenen Unfähigkeit und Unglaubwürdigkeit zu tun: Sozialdemokrat Schröder hat den wohl grössten Sozialabbau der Nachkriegszeit zu verantworten, die missglückte Personalpolitik (Steinbrück), die Parteileitung.
Praktisch kein deutscher Kommentator ist für eine Minderheitsregierung eingetreten. Ich weiss nicht, was Sie mit «Mainstream deutscher Kommentatoren» meinen.
In der Schweiz gibt es weder Regierungsprogramm noch Parteidisziplin. Besonders die SVP sitzt im Bundesrat und betreibt gleichzeitig eine starke Oppositionspolitik. Dafür kann das Schweizer Parlament die Bundesräte zwischen den vierjährigen Wahlen nicht stürzen. Anders in Deutschland, Grossbritannien, Frankreich und andern Ländern: Dort benötigt die Regierung eine Mehrheit im Parlament.
In den USA wiederum kann das Parlament den Präsidenten mit seinen Ministern nur in Extremfällen stürzen (Beispiel Nixon). Trotzdem gibt es im Repräsentantenhaus und im Senat häufig keine Parteidisziplin. Die «Checks and Balances» stellen die Demokratie zuweilen auf die Probe: Budgetdefizite, Währungskrise, Abrüstung, Gesundheitsreform usw.
@)Urs: Mit der Beurteilung in Deutschland bin ich einverstanden: Eine Grosse Koalition ist für den Notfall richtig. Eine Minderheitsregierung wäre ohne weiteres möglich und auch sinnvoll gewesen.
Die Christdemokraten hätte auf diesem Weg ausserdem eine engere Zusammenarbeit mit den Grünen vorbereiten können, mit denen sie ziemlich sicher besser klar kommen werden als mit der SPD. Und auf die Grünen wird die CDU/CSU bei den nächsten Wahlen womöglich stärker angewiesen sein als auf die FDP.
Der Hinweis auf die seit ewigen Zeiten in der Schweiz regierende Supergrosse Koalition ist allerdings ebenso berechtigt.
Dies legt tatsächlich ein Demokratiedefizit beträchtlichen Ausmasses offen, weil es seit Jahrzehnten keine institutionalisierte Opposition gibt, die kontrolliert.
Alle sind mit allen verbandelt. Da es auch keine transparente Parteinfinanzierung gibt – bei keiner Partei – ist die Gefahr der Korruption riesig.
Weil alle den Mund halten, welcher Einfluss auf die Politik via finanzielle Unterstützung der Parteien genommen wird, kann man die Korruption im Parlament als gegeben voraussetzen.
Die Folge davon ist, dass das Volk jetzt die Opposition bildet, mit einer riesigen Flut von Initiativen, die niemand mehr überblickt: ein permanentes Misstrauensvotum. Zwar ist die direkte Demokratie ein Korrektiv zum versumpften Parlament, aber auch ein willkürliches.
Die Schweizer haben in Sachen Demokratie mehr Hausaufgaben zu erledigen, als sie selber für möglich halten.