Ben Rattray lehrt die Mächtigen das Fürchten
In Bern hat Alliance Sud, die Arbeitsgemeinschaft verschiedener Hilfswerke, auf der Bundeskanzlei die Petition «Recht ohne Grenzen» mit über 130’000 Unterschriften eingereicht. Bundesrat und Parlament sollen internationale Konzerne mit Sitz in der Schweiz in die Pflicht nehmen; sie müssten vorsorglich verhindern, dass ihre Tochterfirmen in aller Welt Menschenrechte verletzten und die Umwelt verschmutzen könnten. Wer geschädigt wird, soll in der Schweiz auf Wiedergutmachung klagen dürfen.
Die Hälfte aus dem Netz
Alliance Sud hat die Hälfte der Petitions-Unterschriften im Netz gesammelt, wie Sprecher Pepo Hofstetter gegenüber Infosperber erklärt. Den Rest kam über Postversände und Strassenaktionen herein. Aber: Auf einer Petitions-Plattform wie Change.org hätte das Anliegen noch weit mehr Resonanz finden können.
Was heisst das?
Change.org ist ein Angebot, das der Kalifornier Ben Rattray (31) gegründet hat. Mit seiner Online-Plattform offeriert der Stanford-Absolvent einen Weg ausserhalb der Bürokratie. Rattray dringt in neue Dimension politischer Partizipation vor. Wer will und sich als User registriert, kann sein lokales, regionales, nationales oder globales Anliegen gegenüber Behörden, Firmen und Organisationen als Petition formulieren, auf die Plattform stellen und um User-Unterstützung bitten. In weniger als fünf Jahren hat die Website 15 Millionen Mitglieder versammelt, davon fünf Millionen ausserhalb der USA.
Monatlich 15’000 Kampagnen
Über 133’000 Petitionen sind bisher lanciert worden, 1’000 davon haben ihr Ziel voll und ganz erreicht; täglich kommt ein neue Erfolgsmeldung dazu. Inzwischen würden monatlich 15’000 Kampagnen gestartet, sagte Rattray kürzlich in Jon Stewarts New Yorker Comedy-Sendung «The Daily Show». Ende Jahr will Rattray 25 Millionen User hinter sich haben. Neben Englisch gibt es inzwischen Versionen der Website auf Französisch, Spanisch und Russisch.
Was macht den Erfolg Rattrays und seines Teams aus? Die Idee verbindet clever die Funktionsweise von Social Media mit einem urdemokratischen Instrument, der Petition. Change.org ermöglicht es engagierten Menschen, Gleichgesinnte und Sympathisanten zu mobilisieren, ohne dafür auf die Strasse gehen. «Wir sagen den Leuten nicht, um welche Themen sie sich kümmern sollen. Wir lassen sie selber entscheiden und stellen ihnen die Instrumente zur Verfügung», sagte Rattray dem US-Magazin Time.
Vernünftig, verrückt oder schräg
Eine Petition kann vernünftig, verrückt oder schräg sein. Auf Change.org setzt sich durch, was Leute empört, weil sie es für falsch oder ungerecht halten und in ihren Augen korrigiert werden muss. Es sind nicht nur nationale oder regionale Anliegen, die zünden. Oftmals sind es lokale Petitionen, die unerwartet erfolgreich sind. Rattray betont sogar: «Es sind die kleinen Themen, die unsere Seite einzigartig machen.»
Zwei Beispiele illustrieren das breite Spektrum der Plattform:
• Molly Katchpole (22) startete eine Petition gegen die Pläne der Bank of America, Inhabern von Debitoren-Karten (z.B. Maestro-Karten) eine monatliche Gebühr von 5 Dollar aufzubrummen. Die Petition erreichte innerhalb von vier Wochen über 300’000 Unterschriften und erzielte nationale Medien-Aufmerksamkeit. Die Folge: Die Bank of America zog ihre Pläne zurück, andere Banken folgten ihrem Beispiel.
• Ein Irak-Kriegsveteran aus einem Kaff in Fairfax County (Virginia) hatte seinen Söhnen ein Baumhaus gebaut. Die Behörden verlangten den Abriss. Der Mann lancierte auf change.org eine Petition dagegen. Er erreichte 1’600 Unterschriften. Die Folge: Die Behörden krebsten zurück.
Partnerschaften mit NGOs
Wer eine Petition lanciert, tut dies gratis. Was nicht heisst, dass Change.org eine Non-Profit-Organisation ist. Sie ist in den USA als sogenannte «B Corporation» zertifiziert, d.h. sie darf mit ihrem Business Modell Geld verdienen, wenn sie damit soziale Ziele verfolgt. Rattray und sein Team generieren Einkünfte mit NGO-Partnerschaften wie Oxfam, Amnesty International, Greenpeace, Human Society oder Women for Women. Man habe hunderte solcher Partnerschaften, heisst es auf der Website.
Change.org gibt den Partnern Zugang zu den 15 Millionen Usern, aus denen z.B. Greenpeace über die von ihr gesponserten Petitions-Kampagnen neue Gönner herausfiltert und sie mit deren Einverständnis als neue Greenpeace-Mitglieder registrieren kann. Ben Rattray will mit den Partnerschaften im laufenden Jahr 15 Millionen Dollar einnehmen. Das Geld werde wiederum voll und ganz in sein Business zurückgeführt, versichert der Gründer von Change.org.
Change.org im Juli auf Deutsch
In der Schweiz ist das Petitionsrecht gegenüber Behörden in Art. 33 der Bundesverfassung verankert. Alle urteilsfähigen Personen (also nicht nur Stimmberechtigte) dürfen schriftlich Bitten und Anregungen formulieren. Die Behörden müssen eine Petition zur Kenntnis nehmen. Zu mehr sind sie ausdrücklich nicht verpflichtet. In der Praxis werden Petitionen meist behandelt und beantwortet.
Ein Merkblatt der Bundeskanzlei macht die Petitionäre mit den Gepflogenheiten der Übergabe vertraut. Sie reichen von der Vereinbarung von Datum, Ort und Uhrzeit der Einreichung bis zur Einholung von Bewilligungen «für besondere Aktivitäten nach der Übergabe» (siehe Anhang). Das kann die gute Petitions-Laune schon mal gründlich verderben. Alliance Sud hat sich davon allerdings nicht abschrecken lassen.
Change.org aber expandiert weiter. Die deutschsprachige Version soll in der ersten Julihälfte online gehen, wie Sprecher John Coventry Infosperber auf Anfrage mitteilte. Petitionswilligen eröffnen sich damit auch in der Schweiz ganz neue Horizonte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine