Velobremse in der Seevorstadt

Dutzende von roten Scheren prägen neuerdings das Bieler Strassenbild: Sie markieren besonders gefährliche Stellen für Velos – hier zum Beispiel vor dem Sitz der Swatch Group.  
 
© Catherine Duttweiler

Bieler Westast: Neue Proteste auf der Strasse

Catherine Duttweiler /  Zwei Jahre nach dem Aus für den Bieler Westast gibt es neue Aktionen. Denn der historische Kompromiss wird unterlaufen.

Unbekannte Aktivist:innen haben kürzlich Dutzende von roten Scheren auf den Bieler Asphalt gesprayt. Sie wollen auf lebensgefährliche Strassenbereiche hinweisen –  überall dort, wo Velostreifen abrupt enden, damit Autos und Lastwagen freie Fahrt haben, etwa bei Fussgängerinseln oder Zebrastreifen. «Fleischbremsen» heissen derartige Stellen im Fachjargon von Autolobbyisten und TCS-Vertretern. Sie sind ein Symbol für die krasse Benachteiligung der schwächeren Verkehrsteilnehmer:innen. Und «Fleischbremsen» gibt es viele, in der Stadt Biel und auch in anderen Kleinstädten. 

Symptombekämpfung mit Flüsterbelägen

Derzeit steigt grad wieder der Unmut in der Bieler Bevölkerung, die mit kreativen Protestaktionen den Bau einer Stadtautobahn mit offenen Anschlüssen im Stadtzentrum und am See verhindert hatte – und deren Erfolg landesweite Schlagzeilen machte. Zwei Jahre nach der Abschreibung des Bieler Westasts hat sich die Verkehrssituation am Jurasüdfuss noch immer kaum verbessert. «Sofortmassnahmen» wie ein Transitverbot für den Schwerverkehr wurden bisher nicht angepackt, obwohl dadurch zahlreiche riskante Schlüsselstellen entschärft werden könnten. 

Von den insgesamt 60 praktisch einstimmig verabschiedeten Massnahmen zur Verbesserung von Luft und Lebensqualität sowie zugunsten der Sicherheit von Fussgängerinnen, Velofahrern und Autofahrerinnen wurden nur vereinzelte umgesetzt; stattdessen werden zur Symptombekämpfung Flüsterbeläge verbaut. Die prominent besetzte «Reflexionsgruppe», welche die Umsetzung des Dialog-Kompromisses kritisch begleiten sollte, diente bislang lediglich als meist wirkungsloses Sounding Board,  wurde im letzten Sommer letztmals einberufen – und soll nun zum noch unverbindlicheren «Forum» degradiert werden.

Ungenügende Noten vom Bundesamt

Der Unmut steigt, weil Stadt und Kanton seit Monaten zögerlich, eigenmächtig und auch unsorgfältig vorgehen. Jüngstes Beispiel: Zahlreiche Massnahmen aus dem Westastkompromiss sollten, so das Versprechen der notorisch klammen Bieler Behörden, aus dem vierten Agglomerationsprogramm des Bundes mitfinanziert werden. Nun zeigt sich: Viele wichtige Anträge waren zu wenig ausgereift, weshalb diese soeben vom Bund zurückgewiesen oder hinausgeschoben wurden. 

«Planungsstand ungenügend» urteilte das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) etwa bei einem Kernprojekt aus dem Westastdialog, der Bernstrasse, wo die Lärmwerte seit Jahrzehnten überschritten werden. Hier hatten das kantonale Tiefbauamt sowie die Verkehrsbehörden der Städte Biel und Nidau nach Abschluss des Dialogs unter strikter Geheimhaltung ein Betriebs- und Gestaltungskonzept für einen «Boulevard» entwickelt, welches bis heute nicht veröffentlicht wurde. 

Gekürzte Beiträge aus dem Aggloprogramm

Nun moniert das ARE, die Wirkung des geheimen Konzepts sei «noch nicht eruierbar». Eine «Teilstrategie Verkehrssicherheit» fehle, heisst es im ansonsten wohlwollend formulierten Prüfbericht weiter, die Strategie für den Fuss- und Veloverkehr stecke «noch in der Konzeptphase» und sei «nicht ausreichend konkret». Insgesamt wurden acht regionale Projekte im Umfang von 65 Millionen Franken zurückgewiesen, und aufgrund einer nur «genügenden» Umsetzung früherer Aggloprogramme wurde der Beitragssatz des Bundes auf generell 35 Prozent gekürzt. Zum Vergleich: Städte wie Aarau, Basel, Bern, Luzern, St. Gallen, Solothurn, Thun, Zürich oder auch das Tessin erreichten eine Quote von 40 Prozent. Über diesen Dämpfer haben die Städte Biel und Nidau gar nicht erst informiert.

Keine Chance für Velofahrer:innen: Sie müssen an der «Fleischbremse» eine Vollbremse machen oder über den Randstein ausweichen, damit sie nicht überrollt werden.

Salamitaktik statt ganzheitliche Sicht

Egal, ob sie einst für oder gegen den Westast waren: Alle beurteilen den aktuellen Fortschritt als ungenügend und haben von den Behörden vergeblich ein übersichtliches Reporting verlangt. Die beteiligten Organisationen hatten sich Anfang Dezember 2021 auf ein ganzheitliches Vorgehen «im Betrachtungsperimeter zwischen Brüggmoos und Rusel» geeinigt – also vom Stadtrand Brügg/Nidau bis zum Stadtrand Biel/Twann[1]. Viele hätten sich seither gerne ganz konkret eingebracht. Doch unter Federführung der Stapis Erich Fehr (Biel, SP) und Sandra Hess (Nidau FDP) wurde das nur knapp fünf Kilometer lange Hauptstrassenstück im früheren Westast-Perimeter abschnittweise dem Kanton, den beiden Städten und dem Bund zugewiesen und dann ohne Information oder gar Partizipation verplant. 

Während die Städte und der Kanton über die Strassenstücke in ihrem Besitz nicht informierten, sind immerhin einige Infos zum Projekt des Bundesamts für Strassen (Astra) durchgesickert. Es plant in gewohnter Manier den Ausbau jenes Strassenabschnitts, der heute anstelle eines unbestrittenen Autobahntunnels mitten durch das Wohnquartier Biel-Vingelz verläuft – und will dort eine zusätzliche Fahrspur erstellen, wodurch die Strasse eine Breite von bis zu 15 Metern erreicht. Das sorgt für Unmut in den betroffenen Quartieren. «Es kommt mir vor, als wolle sich das Bundesamt für seine Schlappe beim Westast revanchieren und uns nun mit Mehrverkehr schikanieren», sagte ein aufgebrachter Bürger kürzlich an einer Versammlung des Vingelzleists. 

Will das Astra den Leidensdruck gezielt erhöhen?

Tatsächlich lenkt das Bundesamt mit der LKW-App «www.truckinfo.ch» den Schwerverkehr gezielt durch die idyllische Reblandschaft am Bielersee und durch die Stadt Biel anstatt über die Autobahn N1 bei Bern. Besonders irritierend: Auch in Biel selber werden die LKW nicht über die Autobahn, den neuen Ostast, geleitet. Stattdessen wird der Lastwagentransit derzeit mitten durchs Bieler Stadtzentrum, durch mehrere Wohnquartiere mit Tempo-30-Zonen und über den gefährlichen Taubenlochkreisel geschickt, wo sich in letzter Zeit vermehrt Unfälle ereigneten. Gerade ortsunkundige ausländische Transporteure folgen dem Routenvorschlag der Behörden, weil sie so auf der kürzeren Strecke Schwerverkehrsabgaben einsparen können. Und das Astra, so vermuten Kritiker, will so den Leidensdruck der Bieler:innen erhöhen, damit sie doch noch eine Autobahn mit Stadtanschlüssen akzeptieren. 

Screenshot aus der Astra-App: Der Verkehr von der Westschweiz in Richtung Zürich wird systematisch über Biel gelenkt – und dort nicht über die Autobahn, sondern quer durch die Stadt geführt.  

Die ersten Ausbauskizzen des Astra für die N5 zeigen denn auch schwere Lastwagen auf einem zusätzlichen Fahrstreifen eingangs Biel (Infosperber berichtete). Dabei hatte man sich im Dialogprozess auf ein Transitverbot für den Schwerverkehr als Sofortmassnahme geeinigt, wie im Schlussbericht nachzulesen ist – und auf die «4V-Strategie als oberste verkehrspolitische Vorgabe»: Der motorisierte Individualverkehr soll vermieden, verlagert, verträglich gestaltet uns mit anderen Verkehrsmitteln vernetzt werden. Diese Vorgabe wird vom Astra missachtet. 

Astra diktiert Falschinfos und verbietet Aufnahmen

Vielleicht deshalb haben die Astra-Verantwortlichen ihre Pläne noch immer nicht veröffentlicht. Sie scheinen sich vor den Reaktionen der aufmüpfigen Bevölkerung zu fürchten und machen auf Geheimdiplomatie. Die für Anfang Mai 2022 angekündigte Quartierinformation fiel kurzfristig ohne Angaben von Gründen aus. Stattdessen durfte der Vorstand des Vingelzleists, nachdem er vom Astra intensiv bearbeitet worden war, seinen Mitgliedern zehn Monate danach eine Präsentation zeigen – verbunden mit einem strikten Verbot von Ton-, Video- und Fotoaufnahmen. Auf Basis der kurzen Info sollten die rund hundert Anwesenden Ja oder Nein zum Projekt sagen. Zuvor hatte das Astra den Vorstand die Falschinformation verbreiten lassen, dass Tempo 30 im Dorfzentrum ausgeschlossen sei. Es kam zu hitzigen Diskussionen, weil die viel begangene Unterführung zum Schulhaus aufgehoben und rund 70 Parkplätze der zusätzlichen Fahrbahn geopfert werden sollen; auch «Fleischbremsen» sieht das Astra weiter vor. 

Unter ähnlich geheimnistuerischen Bedingungen wurden kürzlich auch die lokalen Verkehrsverbände über die Astra-Pläne informiert. Laut gut informierten Quellen hatte das Astra seine Präsentation aufgrund der Kritik der Vingelzleist-Mitglieder, aufgrund von Medienberichten und Interventionen der Stadt Biel angepasst. Die zusätzliche Fahrspur soll neu nicht mehr durchgehend geführt, sondern mit Bäumen bepflanzt, die Velowege mit 1,80 Metern etwas breiter und alles etwas grüner gestaltet werden – fast schon eine Revolution fürs Astra, welches bislang nur aus der Autoperspektive plante. Eine der grossen Errungenschaften des Bieler Dialogprozesses war bekanntlich ein Paradigmenwechsel: Die 30 involvierten Gruppen hatten sich darauf geeinigt, dass städtebauliche Fragen und die Lebensqualität der regionalen Bevölkerung künftig gleichwertig zu behandeln sind wie das Bedürfnis der Autofahrenden, die Stadt möglichst rasch zu erreichen oder zu durchqueren. Ist die Botschaft 26 Monate nach Abschluss vielleicht doch noch ansatzweise in den Berner Amtsstuben angekommen?

Behörden schliessen Kritikerinnen aus

Man darf gespannt sein, wie es nun weiter geht. Das Astra hat sein Projekt bisher nicht veröffentlicht und liess 17 von 19 Fragen von Infosperber in den letzten zwei Wochen unbeantwortet. Die grüne Bieler Verkehrsdirektorin Lena Frank verwies ans Astra und betonte, sie habe in den letzten Monaten Druck für Verbesserungen des Projekts gemacht. So habe sie sich für mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmenden engagiert, für Tempo 30 in allen Quartieren – und im Westastperimeter ganz speziell für mehr Begrünung und Sickerflächen. Auch will sie die imposante Baumallee aus Napoleons Zeiten schützen, die der Autobahn zum Opfer gefallen wäre. 

Nächste Woche nun tritt die «Reflexionsgruppe», welche die Umsetzung der Massnahmen aus dem Dialog kritisch begleiten sollte, erstmals seit über einem halben Jahr wieder zusammen. Sie wird allerdings nicht über die umstrittenen Strassenbauten informiert. Traktandiert ist lediglich eine neue Organisationsform, nachdem die Autobahnbefürworter im Sommer ihre Mitarbeit sistiert und den Ausschluss einzelner Gruppen gefordert hatten, mit Erfolg. Mitten im laufenden Prozess sollen die autokritische «IG Häb Sorg zur Stadt» sowie eine in Ungnade gefallene Einzelperson aus der SVP ausgeschlossen und neue Spielregeln definiert werden – ohne dass eine Aussprache stattgefunden hätte.  

Was in der Zwischenzeit mit den roten Scheren auf den Bieler Strassen passiert, bleibt offen. Die Aktivist:innen hatten laut Informationen der Behörden ausgerechnet eine Farbe gewählt, die nur mit aufwendigen Fräsarbeiten getilgt werden kann. Die Entfernung würde vor allem dort Sinn machen, wo die Velostreifen jeweils gesetzeskonform und aus praktischen Gründen vor einem Kreisel enden. Bei allen anderen Stellen könnte sich die grüne Verkehrsdirektorin überlegen, ob sie die Velostreifen nicht durchgehend klar markieren lässt – wie dies in velofreundlichen  Städten wie Bern und Zürich längst Standard ist. 


[1] Schlussbericht zum Dialogprozess, 2. Erkenntnis, Seite 7


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Die Autorin ist Vorstandsmitglied des Komitees «Westast so nicht!» und hat beim Westast-Kompromiss als Kerngruppenmitglied mitgewirkt. Heute ist sie Mitglied der Reflexionsgruppe. Sie wohnt an der Neuenburgstrasse und hätte privat vom Bau des Westasts profitiert, weil damit der Verkehr vor ihrer Haustür in den Vingelztunnel verlegt worden wäre. Sie bekämpfte das 2,2-Milliarden-Projekt, weil es das Stadtzentrum mit zwei offenen Betonschneisen verunstaltet hätte.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 9.03.2023 um 19:02 Uhr
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    Geheimniskrämerei von Behörden, finanziert vom Steuerzahler und diesem verpflichtet, schafft Unmut und Misstrauen. Schade das man auch dort die verantwortlichen Köpfe nicht auch Wählen kann….

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