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EU-Kommissar Thierry Breton: Ab 25. August sind Gewaltaufrufe in Social Media verboten. © francinfo

«Ab 25. August droht ein Verbot von Twitter, TikTok etc.»

Urs P. Gasche /  Wenn Social Media Gewaltaufrufe nicht sofort löschen, können wir sie für ganz Europa sperren. Das sagt EU-Kommissar Thierry Breton.

Am 25. August tritt in der EU ein neues Gesetz über die Social Media in Kraft. Es trägt den Namen «Digital Services Act». Aufrufe zur Gewalt, zur Revolte wie kürzlich in Frankreich, zum Töten oder beispielsweise zum Anzünden von Autos sind strikte verboten. Die Plattormen der Social Media sind verpflichtet, solche Einträge unverzüglich zu löschen. Sollten die Plattformen dies nicht tun, drohen nicht nur Bussen, sondern auch ein Verbot, in Europa tätig zu sein. Das erklärte EU-Digitalkommissar Thierry Breton in einem Interview mit Franceinfo. Der Zugang zu Twitter, TikTok, Facebook, Instagram, Youtube oder Snapchat würde gesperrt. «Wir haben Teams, die sofort eingreifen können», sagte Breton.

Breton reagierte auf Präsident Emmanuel Macron, der nach den Unruhen in Frankreich erklärte, man müsse über die Nutzung dieser Netzwerke durch die Jugend nachdenken und dabei auch Verbote ins Auge fassen. Social Media verändere «die Art und Weise, wie junge Menschen mit der Realität umgehen». Die Politik solle notfalls in der Lage sein, den Zugang zu den Plattformen «abzuschneiden». Dies dürfe zwar nicht überstürzt geschehen: «Aber es ist eine Debatte, die wir führen müssen, wenn sich die Dinge abkühlen.»

Nachdem Medien Vergleiche zwischen Macrons Aussagen und der staatlichen Zensur in China und dem Iran gezogen hatten und auch aus der eigenen Partei Kritik laut geworden war, erklärte der französische Digitalminister Jean-Noël Barrot gegenüber Politico, der Präsident habe lediglich gemeint, dass es technisch möglich sei, den Zugang zu Social Media einzuschränken, jedoch nicht, dass er Zugangsbeschränkungen plane.

Bisher war von Zugangsbeschränkungen nicht die Rede. Wenn die öffentliche Sicherheit oder Gesundheit bedroht ist, wie beispielsweise bei einer Pandemie, kann die Kommission gemäss «Digital Services Act» von sehr grossen Plattformen verlangen, Einträge zu löschen oder zu verbieten. Diese besonderen Massnahmen sind auf drei Monate begrenzt.

Doch die Aussagen von EU-Digitalkommissar Thierry Breton waren eindeutig. Auch Verbote der Plattformen sind möglich:


Der Fluch der Anonymität

Lange Zeit achteten Zeitungsredaktionen teilweise mit Akribie darauf, dass ihre Zeitungen keine Leserbriefe verbreiteten, die von anonymen Quellen oder unter falschen Namen zugestellt wurden. Im Zweifelsfall kontrollierten sie die Absender der Leserbriefe.
Schliesslich haften die Medien für alle Inhalte, die sie verbreiten.

Schutz gegen Ehrverletzungen, Verleumdungen und Beschimpfungen

Artikel 173 des Strafgesetzbuches lautet: «Wer jemanden bei einem andern eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen, beschuldigt oder verdächtigt, wer eine solche Beschuldigung oder Verdächtigung weiterverbreitet, wird auf Antrag mit Geldstrafe bestraft.»

Artikel 174 des Strafgesetzbuches lautet: «Wer jemanden wider besseres Wissen bei einem andern eines unehrenhaften Verhaltens oder anderer Tatsachen, die geeignet sind, seinen Ruf zu schädigen, beschuldigt oder verdächtigt, wer eine solche Beschuldigung oder Verdächtigung wider besseres Wissen verbreitet, wird auf Antrag mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.»

Artikel 28 und 28a des Zivilgesetzbuches gibt Betroffenen das Recht, sich zu wehren: «Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen […] Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, kann zu seinem Schutz gegen jeden, der an der Verletzung mitwirkt, das Gericht anrufen. Eine Verletzung ist widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Gesetz gerechtfertigt ist.»

Artikel 28-28f des Zivilgesetzbuches regelt das Recht auf Gegendarstellung: «Wer durch Tatsachendarstellungen in periodisch erscheinenden Medien […] in seiner Persönlichkeit unmittelbar betroffen ist, hat Anspruch auf Gegendarstellung.» Dies betrifft auch periodisch erscheinende Online-Medien.1

Das Problem mit Social Media

Seit es Online-Kommentare und Social Media gibt, hat sich die Unsitte der Anonymität verbreitet. Unter falschen Namen und Absender verlieren viele Menschen den Anstand und teilen aus wie am privaten Biertisch. Stalking und Mobbing haben sich stark verbreitet. Auch politische und wirtschaftliche Lobbys nutzen die Gelegenheit, Gegner anonym zu verunglimpfen.

Gegenüber dieser Verluderung des öffentlichen Diskurses haben sowohl die Justiz als Vollzugsorgan wie auch das Parlament als Gesetzgeber versagt. Die Justiz kapituliert bei Strafanzeigen, weil die Verleumder – und die Social Media als Verbreiter der Verleumdungen – fast nie vor ein Gericht in der Schweiz oder in Deutschland gezogen werden können. Der Gesetzgeber hat es unterlassen, den Social Media nationale Rechtssitze vorzuschreiben, bei denen man sie belangen kann. Und ihnen vorzuschreiben, dass sie die Identität der Schreibenden wissen und im Beschwerdefall bekanntgeben müssen.

Das neue Gesetz der EU («Digital Services Act») gibt dem Staat das Recht, sich in die Social Media einzumischen, Twitter, TikTok, Facebook, Instagram, Youtube oder Snapchat unter Druck zu setzen und im Extremfall in Ländern der EU sogar zu verbieten. Kritiker meinen, die EU hätte besser dafür gesorgt, dass sich die Betroffenen von Verleumdungen und falschen Tatsachendarstellungen selber zur Wehr setzen können. Es wäre dann jeweils die Justiz, welche das letzte Wort darüber hätte, was veröffentlicht und verbreitet werden darf, und nicht Regierungen.

_________
1 Siehe Andreas Meili: Medienrechtliche und medienethische Schranken für Online-Leserkommentare:
«Tatsachenbehauptungen, die in periodisch erscheinenden Onlinemedien erfolgen, sind – wie solche in traditionellen Medien – gegendarstellungsfähig (Art. 28g Abs. 1 ZGB). Ob die Behauptungen in einem redaktionellen Bericht oder in einem Leserbrief stehen, ist nicht von Bedeutung. Daher dürften auch Tatsachenbehauptungen in Onlinekommentaren, die in solchen Medien erscheinen, grundsätzlich ohne weiteres gegendarstellungsfähig sein, und zwar auch dann, wenn sie im Rahmen eines deutlich als «Kommentar» erkennbaren Beitrags aufgestellt werden. Solche Fälle haben bislang aber keinen Eingang in die Judikatur gefunden.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Medien unter Druck

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2 Meinungen

  • am 20.07.2023 um 12:29 Uhr
    Permalink

    «Wenn die […] Gesundheit bedroht ist, wie beispielsweise bei einer Pandemie, kann die Kommission gemäss «Digital Services Act» von sehr grossen Plattformen verlangen, Einträge zu löschen oder zu verbieten.»
    Diese Regel ist des Teufels. In Zukunft soll die WHO verbindlich Pandemien erklären können. Die WHO ist vom Bill Gates-Machtnetzwerk abhängig, ihrem wichtigsten Geldgeber in der Corona-Pandemie. Damit wäre gemäss «Digital Service Act» der EU Bill Gates Herrscher über die grossen Plattformen, mindestens in Gesundheitsfragen. Eine Horrorvorstellung.

  • am 20.07.2023 um 21:35 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen präzisen und höchst interessanten Beitrag. Ich bin wieder erstaunt, wie neue Dienstleistungsanbieter in einem bestehenden Markt (in dem Fall den der Presse, aber dasselbe hat im Bereich der Personenfahrdienste mit Uber und co. schon stattgefunden), unter dem Vorwand, dass sie „nur“ als Vermittler auftreten, sich jahrelang jeglicher Verantwortung für ihr Handeln unterziehen. Und was eigentlich noch erstaunlicher ist, ist, dass die Justiz stets (meistens) sich vor einem Urteil drückt und den Ball zum Gesetzgeber wirft (unabhängig von der Existenz eines Verfassungsgerichts), als sei an den zu beurteilenden Fällen irgendetwas Neuartiges, das ein neues Gesetz bedürfe.

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