Kommentar

Machtgefälle und Machtgefüge im Fall Locher

Niklaus Ramseyer ©

Niklaus Ramseyer /  Vertuschen, verzögern und die Opfer angreifen: Auch Protestanten folgen nach Sexual-Übergriffen altbekannten Mustern.

Kommt es zu Grenzverletzungen zwischen den Geschlechtern, zu Übergriffen oder gar zu Vergewaltigungen, dann stehen zwei Elemente stets im Zentrum: Das Machtgefälle und das Machtgefüge. Und wenn die Sache auffliegt, oft auch verbale oder juristische (Gegen-)Angriffe auf die meist ohnmächtigen Opfer. Der Fall Gottfried Locher zeigt alle diese Aspekte.
In der NZZ sind Übergriffs-Opfer feige Denunziantinnen
Das Vorgehen der Sex-Täter ist stets «feige». Es geschieht oft «anonym und verdeckt». Es hat mit «offener und ehrlicher Auseinandersetzung» nichts zu tun. Und sicher missachtet und verletzt es «die Würde des Gegenübers». Die «Freiheit sich und anderen in die Augen schauen zu können» tritt der Unhold nämlich mit Füssen. Er will bestimmt nicht «Konflikte offen und respektvoll austragen».

Das alles konnte man am 9. Juni auch in der NZZ (S. 9) wörtlich so lesen. Nur gerade umgekehrt: Da wird in einem «Gastkommentar» zwar zunächst hochtrabend von «einem generellen Aspekt der Vorwurfssituation im Abhängigkeitsverhältnis» finassiert. Dann aber werden nicht etwa die Sexual-Täter «feige» genannt – sondern deren Opfer. Weil diese nämlich «meinen, nur anonym und verdeckt vorgehen zu können, in der Opferrolle und in der Rolle der Denunziantinnen». Die stets gegebene und in jedem Fall (von Weinstein bis zu Epstein und anderen grässlichen Übergreifern) begründete Angst der Übergriffs-Opfer vor Rache und Repression durch ihre mächtigeren Peiniger nennt die Autorin, Isabelle Noth (Professorin u.a. für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik in Bern) kurzerhand «Feigheit». Konkret bezichtigt sie die eingeschüchterten und oft traumatisierten Opfer der «Vertuschung der eigenen Feigheit». Die belästigten oder vergewaltigten Frauen dürften sich nicht hinter der «vermeintlich schwächeren Position verbergen» und müssten ihr «Gesicht zeigen», massregelt sie diese. Und wieso denn das? Wegen der biblischen Schriften eben. Denn: Gemäss denen hätten auch missbrauchte Frauen «eine Autorität», die «in unserer Ebenbildlichkeit Gottes gründet». Wie bitte? Nun tu doch nicht so feige, Du Opfer – Du bist doch genau so ein Ebenbild Gottes, wie dein Belästiger?
Theologische Sorge um die «Würde» – der Täter
Für die Täter hingegen fordert Theologin Noth in einem langen Katalog alles, was diese ihren Opfern kraft ihrer Machtstellung zuvor verweigert haben: Fairness, Offenheit, Transparenz und Achtung ihrer Würde. Noth ruft ihre missbrauchten Geschlechtsgenossinnen allen Ernstes dazu auf, mit ihren Peinigern «Konflikte offen und respektvoll auszutragen». Aha: Hokuspokus, Ebenbildlichkeit mit Gott – und Fidibus: Machtgefälle, Angst und Trauma verschwindibus?

Der Fall Gottfried Locher (auf den sich Noth bezieht) präsentiert sich realiter leider nicht derart schöngeistig-theologisch und wunderbar-mystisch. Sondern eher peinlich und krude: Nach wiederholten (seit 2018) Klagen von nunmehr insgesamt sieben Frauen aus seinem Macht- und Einflussbereich über «Grenzverletzungen» ist der Präsident der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz Ende Mai zurückgetreten. Zu Beginn dieser Woche hat sich das Kirchenparlament (Sinode) mit dem Fall befasst. Dabei zeigte sich, dass es bei den Beschwerden gegen den früheren Kirchen-Präsidenten um «gravierende Vorwürfe» gehe, wie die Berner Zeitung (16. Juni 2020, S. 11) vermeldet. Denn Locher habe sein Amt missbraucht, um die betroffenen Frauen unter Druck zu setzen und ihre Grenzen im körperlich-sexuellen Bereich zu verletzen. In der Rundschau von TV SRF hatten mehrere ZeugInnen, die mit den klagenden Frauen gesprochen hatten, letzte Woche schon gesagt, der oberste Protestant der Schweiz habe «das Machtgefälle» schamlos ausgenutzt. Sie sei über die Berichte der Belästigten «erschüttert» gewesen, berichtete etwa Esther Gaillard, die als Vizepräsidentin dem zuvor von Locher präsidierten Kirchenrat (Exekutive) angehört.
Machtgefälle missbraucht, Machtgefüge mobilisiert
Der gefallene Kirchenpräsident folgte damit (mutmasslich) einem klassischen Muster der Sex-Täter: Diese gehen mit ihren Opfern eben gerade nicht «offen und respektvoll» um, sie wollen keine «faire Kommunikation», welche «die Würde des Gegenübers achtet», wie dies alles die Theologin von den belästigten Frauen in der NZZ schon fast zynisch einforderte. Zu einer «erwachsenen, das heisst fairen Kommunikation» (Noth) sind die Unholde nicht bereit oder nicht fähig. Darum sind gerade im (katholischen) Kirchenbereich oft auch Kinder ihre bevorzugten Opfer.

An der Spitze der protestantischen Kirche hat es nun offenbar Erwachsene getroffen. Doch der Umgang der Verantwortlichen mit der Affäre folgte nach deren Auffliegen genau wieder altbekannten Mustern: Der Angeschuldigte (für den die Unschuldsvermutung gilt) versteckte sich (er und nicht seine Opfer!) nun hinter dem Machtgefüge, an dessen Spitze er stand: Zu einer ersten Aussprache über die konkrete Beschwerde einer der Kirchen-Frauen sei er gleich «mit seiner Anwältin erschienen, die uns drohte», berichten andere Mitglieder «seines» Kirchenrates. Mit Erfolg drohte. Das siebenköpfige Exekutiv-Gremium liess sich zunächst einschüchtern: Statt einer externen, unabhängigen Untersuchung stellte der Rat bloss interne Abklärungen in Aussicht. Und verfügte absolutes Stillschweigen – für ein ganzes Jahr lang. «Nebelgranaten geworfen und gemauert» habe der Rat auf Druck Lochers damit, sagte Christoph Weber-Berg, der Präsident der Aargauer Protestanten, in der Rundschau verärgert.
Der Beschuldigte findet Verteidiger und sieht sich als Opfer eines Komplotts
Doch die Petarden verrauchten rasch: Das Kirchenparlament will jetzt Klarheit schaffen und Transparenz. Es sind auch schon weitere peinliche Details der Affäre bekannt geworden: So hatte Kirchenpräsident Locher den Kirchenrat über ein heimliches erotisches Verhältnis mit einem Kirchenratsmitglied (der Pfarrerin Sabine Brändlin) getäuscht und belogen. Pikant dabei: Brändlin wäre im Rat für die Behandlung von Beschwerden wegen sexueller Übergriffe zuständig gewesen. Sie hätte also die Belästigungs-Klage einer anderen Frau gegen ihren heimlichen Liebhaber und Präsidenten untersuchen müssen. Doch Locher und Brändlin schafften auch in dieser absurden Situation zunächst keine Klarheit: Die Frau (Brändlin) trat zwar unter nebulösen Erklärungen aus dem Rat zurück; der Mann (Locher) hingegen, der sich offiziell als senkrechter Familienmann gab, stritt weiterhin alles ab – und krallte sich an seinen Posten als Ratspräsident. Bis er am 27. Mai dann doch selber auch gehen musste.

Unter lautem «Heulen und Zähneklappern» (Lukas 13,28) jedoch: Locher nämlich sieht sich nicht als Frauen-Belästiger im wiederholten Falle, sondern ganz im Gegenteil als Opfer eines Komplotts: Das Ganze sei «eine konstruierte Geschichte» mit dem Ziel seiner Demontage durch seine innerkirchliche Gegnerschaft. Er hat auch Unterstützer. So etwa Pfarrer Josef Hochstrasser, der über Locher ein (umstrittenes) Buch geschrieben hat. Verschworen hätten sich gegen den gestrauchelten Kirchenpräsidenten halt «Feministinnen und elende Moralisten», wetterte er in der Fernseh-Rundschau – und «irgendwelche Frauen». Auch die Theologin Isabelle Noth, die schon in der NZZ die Opfer gemassregelt und indirekt auf Lochers «Würde» gepocht hatte, durfte im Radio SRF am Dienstagmittag den üblen Fall noch ein wenig zerreden. Und schwammig ihre «Vermutung» äussern, «dass es gewisse Interessen gegeben» habe in dieser Sache. Machtmissbrauch und Einschüchterung der Opfer (worum es effektiv geht) waren hingegen in dem lang(atmig)en Radio-Interview kaum ein Thema.
Das dürfte nun aber umso mehr bei jener externen und unabhängigen Untersuchung im Zentrum stehen, die das Kirchenparlament für den Fall Locher beschlossen hat. Die NZZ geht derweil zur eigenartigen Frontstellung der Theologin Noth gegen Kirchen-Frauen, die sich über Übergriffe beklagen, schon wieder sachte auf Distanz: Am Schluss seines neusten Berichts über die Tagung der Synode und den Fall Locher verweist das Zürcher Blatt am 16. Juni noch auf «Mehr zum Thema». Noths Philippika gegen die «Denunziantinnen» unter dem Titel «Sex and the Church – Vertuschen der Feigheit» wird dabei mit keinem Wort erwähnt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor gehört keiner Kirche und keiner Sekte an

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3 Meinungen

  • am 19.06.2020 um 17:26 Uhr
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    Gar nicht so wenige, die sich Christen nennen, sind nicht in der geistigen Nachfolge von Jesus.
    Diese instrumentalisieren und bewirtschaften die Lehre nur für eigene niedere Zwecke. In ihrer Verschwörungs-Praxis glauben sie, sie könnten sich die Sünden wechselseitig vergeben oder müssten es gar, angeblich im Namen von Jesus.

  • am 20.06.2020 um 00:56 Uhr
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    Ich verstehe den Artikel nicht ganz. Gilt für Herrn Locher die Unschuldsvermutung oder nicht? Im Artikel wird doch sehr von einer Täterschaft ausgegangen.
    Was haben Übergriffe von Katholischen Geistlichen mit den Vorwürfen gegen Locher zu tun?
    Interessant finde ich den Gedanken mit der Feigheit. Anonymität hat tatsächlich mit Feigheit zu tun. Man traut sich nicht zu dem zu stehen was man sagt. Das ist Problematisch, weil damit das Prüfen des Gesagten unmöglich wird.

  • am 24.06.2020 um 10:01 Uhr
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    Könnte es sein, dass Niklaus Ramseyer in die feministisch-jakobinische Tugend-und Terror-Falle getappt ist? Die Mitglieder der refomierten Kirche hätten eigentlich ein Recht auf klare Information. Was ich über Herr Locher vernommen habe sind Anschuldigungen von Taten, die weder ungesetzlich noch unmoralisch sind, dafür viele Vorverurteilungen. Von Machtgefälle kann in diesem Fall wohl kaum gesprochen werde.

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