«Love Jihad»: Wie Hindu-Nationalisten gemischte Paare jagen
An der Zunahme nationalistisch-religiöser Tendenzen in Indien leiden besonders Paare mit gemischtreligiösem Hintergrund. Sie werden ausgegrenzt, angefeindet oder erleben Schlimmeres. Ultrarechte Hindus tun alles, um Eheschliessungen zu verhindern. Hindufrauen werden dabei als Ware behandelt, die es vor Muslimmännern zu retten gilt.
«Als die Community es erfuhr, räumten sie den Laden [meines Mannes] aus. Und sie veranstalteten Kundgebungen, auf denen sie sagten ‹wir wollen das Mädchen›», erzählt eine junge Frau aus dem indischen Bundesstaat Madhya Pradesh auf einer Zoom-Konferenz mit dem «Intercept».
Flucht für die Eheschliessung
Die junge Frau gehörte vor der Heirat dem Jainismus an, eine Glaubensrichtung, die mit dem Hinduismus eng verwandt ist. Von Hindu-Nationalisten werden Jains als Teil der Hindu-Community angesehen.
2019 war das Paar nach Delhi geflohen, um dort zu heiraten. Die Braut musste eine Erklärung abgeben, dass sie aus freien Stücken heiratete. Das Oberste Gericht Delhis bot ihnen Schutz, so lange sie in Delhi blieben, doch das Paar konnte nicht Fuss fassen und musste in seine Heimat zurückkehren. Seitdem dauern Belästigungen und Bedrohungen an.
Für religiöse Extremisten sind interreligiöse Heiraten zwischen Hindu-Frauen und Männern anderen Glaubens ein immenser Schaden an der Gemeinschaft. Einige halten sie für ungültig, sogar dann, wenn Frauen niederer Kasten betroffen sind. Das gilt besonders, wenn der Mann Muslim ist.
Gejagt vom ersten Augenblick an
Religiös-nationalistische Fanatiker wollen solche Beziehungen am liebsten beenden. Ist das Paar noch nicht verheiratet, kann es hoffen, in einer grösseren Stadt unterzutauchen und dort verheiratet zu werden. Dahin muss es aber erst einmal kommen. Denn diese Paare werden gnadenlos gejagt – natürlich zur «Rettung» der Frau.
Pawan Arora, Distriktsvorsitzender der ultrarechten Partei Vishwa Hindu Parishad (VHP) ist einer dieser selbsternannten Frauenretter. Der «Intercept» beschreibt, wie er über einen Informanten von einem Paar erfährt, das sich absetzen will. «Wir müssen sie und die Hindu-Gesellschaft retten», sagt sein Informant, der Besitzer eines kleinen Ladens.
Sobald er die Nachricht bekommen hat, gibt Arora die Handynummer der Frau an die Polizei weiter, die die Nummer verfolgt. Er sorgt dafür, dass ihre Eltern eine Anzeige aufgeben. Nach nur 12 Stunden wird die 27-jährige Lehrerin dank polizeilicher Hilfe «gefunden».
Drohungen, Druck und Gewalt sollen die Fehlbare überzeugen
Rajesh Awasthi, ein anderes Mitglied der VHP, den der «Intercept» befragt hat, führt «Beratungsgespräche» mit widerständigen Frauen, durch die sie mit Gewalt oder Drohungen dazu gezwungen werden sollen, die Beziehung fallenzulassen. «Ich drohe damit, sie mit Säure zu attackieren», erklärt er beispielsweise oder «wo ich hinschlage, muss ich es kein zweites Mal tun». Der Druck auf das Paar wird, wenn nötig, über Monate aufrechterhalten.
Der «Intercept» zeigt Awasthi und ein anderes führendes VHP-Mitglied auf einem Foto, auf dem er in etwa aussieht wie die Schlägertruppe von nebenan.
Sofern die Eltern der Frau zustimmen, wird die Frau umgehend mit einem Hindu-Mann verheiratet, die Gruppe ist bei der Suche behilflich. In einigen Fällen, prahlt Awasthi, habe das nur Tage gedauert. Der muslimische Mann wird bestochen, verprügelt oder es werden ihm andere Steine in den Weg gelegt, die Kommunikation des Paares wird vom Netzwerk unterbunden.
Wie eine Verschwörungserzählung Gesetz wird
In einigen Bundesstaaten drohen dem muslimischen Mann seit kurzem bis zu zehn Jahre Haft. Die Hindu-Hardliner nutzen dazu ein Gesetz, das erzwungene Konversion unter Strafe stellt und seit Ende November 2020 in drei Bundesstaaten gilt. Selbst wenn sich die Anschuldigung nicht erhärten lässt, bedeutet das Verfahren meist weitere Nachteile für den Angeklagten.
«Love Jihad», wie die zugrundeliegende Verschwörungsfantasie in Indien heisst, wurde schon vielen jungen Paaren zum Verhängnis. Muslimische Männer versuchten, so die Fantasie, alles, um Hindufrauen unter ihre Kontrolle zu bringen, um sie dann zu zwingen, zum Islam zu konvertieren. Sie nähmen beispielsweise schlechtbezahlte Arbeit an, nur um in ihre Nähe zu kommen.
Eine andere Variante von «Love Jihad» ist die in Europa bekannte rassistische «Umvolkungs»-Erzählung oder das «Great Replacement» der White Supremacists in den USA, nach der andere Völker planen, Gesellschaften durch schiere Explosion der Geburtenzahlen zu übernehmen.
Alter Rassismus neu erzählt
Muslime sind Indiens grösste Minderheit. Neben anderen religiösen Gruppen lebten bei der jüngsten Zählung 2011 966 Millionen Hindus und 172 Millionen Muslime im Land. Seit 1951 ist die hinduistische Bevölkerung wesentlich schneller gewachsen als die muslimische, von Übernahme also keine Spur. Interreligiöse Eheschliessungen und Konversionen sind in Indien zudem relativ selten.
Seit dem 19. Jahrhundert haben Extremisten immer wieder die Geschichte vom frauenraubenden Muslim erzählt. 2018, analysiert ein Angehöriger der Universität Dehli auf «Al Jazeera», sei diese Fantasie wieder in den Mainstream gewandert. Andere sehen diese Entwicklung bereits seit dem Amtsantritt von Premierminister Narendra Modi 2014. Das Ziel der Hindu-Nationalisten sei es, Muslime zu kriminalisieren oder ihnen zumindest jede soziale Interaktion mit Hindufrauen unmöglich zu machen.
Unter Dauerbeobachtung
Für interreligiöse Paare sei es kaum möglich, sich unbeobachtet zu treffen, schreibt der «Intercept». Die Netzwerke der VHP seien fast überall, vor allem in ländlichen Raum. Die Informanten sitzen in Schulen, Colleges, Bussen, Cafés, Turnhallen, Hotels, Kinosälen, Gerichten und Nachhilfezentren.
Einige Paare haben sich wegen Drohungen an Gerichte gewandt. Das Oberste Gericht in Uttar Pradesh hat in mehr als 100 Fällen Unterstützung zugesichert. Aber auch in Staaten, in denen kein «Love Jihad»-Gesetz gilt, haben interreligiöse Paare Schwierigkeiten. Wer konvertieren will, kann das nur mit behördlicher Erlaubnis tun.
Grundsätzlich ist Religionsfreiheit in der indischen Verfassung festgelegt. Behörden weigern sich aber immer wieder, Eheschliessungen interreligiöser Paare zu dokumentieren oder machen die Namen der Beteiligten publik. Nationalisten versuchen dann, die Heirat nach den rituellen Vorschriften zu verhindern. Ein Gericht urteilte kürzlich, die Veröffentlichung von Namen stelle eine nicht zulässige Verletzung der Privatsphäre dar.
Indiens Oberstes Gericht toleriert «Love Jihad»-Gesetze
Der Oberste Gerichtshof Indiens hat es Anfang des Jahres jedoch abgelehnt, «Love Jihad»-Gesetze in den Bundesstaaten Uttar Pradesh, Uttarakhand und Madhya Pradesch auszusetzen. Gujarat als vierter ist im April dazugekommen, zwei weitere Staaten haben laut «Al Jazeera» bereits «Love Jihad»-Gesetze angekündigt.
Allein in Uttar Pradesh wurden seit der Verkündung der Anti-Konversions-Verordnung am 28. November im Zusammenhang mit dem Gesetz Dutzende muslimischer Männer festgenommen, die beschuldigt wurden, «eine Frau zu verführen und sie zu zwingen, zum Islam zu konvertieren».
Mitte Dezember wurde ein 16-jähriger Teenager festgenommen, den der Vater eines gleichaltrigen Hindu-Mädchens der Verführung beschuldigte, als beide zusammen von einer Feier kamen. Der 16-jährige wurde ausser wegen «Love Jihad» auch wegen Entführung sowie unter einem Gesetz zum Schutz von Minderjährigen vor sexueller Gewalt angeklagt. In Lucknow, Uttar Pradesh, wurde eine Hochzeit gewaltsam verhindert.
Verhinderung aller interreligiösen Kontakte
In einem weiteren Fall beteuerte ein zu einer 14-tägigen Haft verurteilter muslimischer Mann, er stehe in «keinerlei Verbindung» zu der betroffenen Frau, die inzwischen mit einem Hindu verheiratet ist.
Die Vorurteile treffen auch Ehepaare, die schon länger verheiratet sind, wie im eingangs beschriebenen Fall. Ein Paar, das ein halbes Jahr nach der Eheschliessung in einem anderen Staat die Ehe in Uttar Pradesh registrieren lassen wollte, musste das im Dezember 2020 erfahren. Der Ehemann wurde eingesperrt, seine Frau zunächst in eine Fürsorgeeinrichtung und dann in ein Krankenhaus gebracht, wo sie eine Fehlgeburt erlitt. Es gibt Hinweise auf eine gezielte Abtreibung, berichtete die «BBC».
Nicht nur, dass ein solches Gesetz keinen grossen Respekt vor dem Willen und der Entscheidungskompetenz erwachsener Frauen beweist. «Das grösste Problem mit einem Gesetz wie diesem ist, dass es interreligiöse Liebe als kriminelle Aktivität behandelt», sagt der Historiker Charu Gupta. Es lege denjenigen, die darunter angeklagt seien, die Last auf, ihre Unschuld zu beweisen. Gesellschaftlich sei die zugrundeliegende Stereotypisierung sehr gefährlich, führt er an mehren Stellen aus und erinnert an die 1920er-Jahre, als nicht nur in Indien sondern überall auf der Welt nationalistische und rassistische Strömungen entstanden.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Gesellschaftlich sei die zugrundeliegende Stereotypisierung sehr gefährlich, führt er an mehren Stellen aus und erinnert an die 1920er-Jahre, als nicht nur in Indien sondern überall auf der Welt nationalistische und rassistische Strömungen entstanden.
Und offensichtlich seit 20 Jahren auch wieder im netten (UN)Werte-Westen am entstehen sind. Also unter der Sonne nichts neues.
Bei 1.366 Milliarden Indern aus ein paar Dutzend Fällen eine Pauschlisierung abzuleiten (Interreligiöse Paare werden in Indien systematisch eingeschüchtert) ist grob unseriös.
In Indien findet täglich, von schlimmsten Verbrechen bis zu rührendsten interreligiösen Hochzeit, alles statt. Ideologen wie Frau Gschweng werden in Indien jeden Tag Belege für ihre vorgefertigten Meinungen finden. Dass auch täglich den Gegenbeweis geliefert wird, übersehen sie bereitwillig.
Bleibt noch anzumerken, dass niemand aus meinem Schweizer Bekanntenkreis einen muslimischen Partner geheiratet hat. Bei uns braucht es dazu nicht einmal Rajesh Awasthi & Co, wir schränken unsere Wahl ganz freiwillig und in vorauseilenden Gehorsam ein.
So sollten wir lieber bewundern, welche Kraft die Liebe in Indien noch entfalten kann, anstatt mit besserwisserischen arroganten Überheblichkeit über die Bewohner des uns nicht verständlichen Subkontinentes zu urteilen.