Kommentar
kontertext: Frau – ein Begriff für unterschiedliche Lebewesen
Nicht alles wird schlechter. Eine besonders erfreuliche Entwicklung der letzten Jahre ist, dass die Angst vor dem F-Wort in der Öffentlichkeit so gut wie verschwunden ist. Frauenliteratur, Frauengeschichte und Frauenleiden galten vor wenigen Jahren noch als Nischenthemen, wer sich damit beschäftigte, wurde vielerorts gecancelt. Still, verschämt und leise; oder mit lautem Spott und Spektakel. Wir erinnern uns an (mindestens) einen prominenten Literaturkritiker, der mit frauenverächtlichen Bemerkungen punktete. Doch wer würde sich heute noch prustend auf die Schenkel klopfen, wenn ein Jurymitglied bei einer Literaturveranstaltung behauptete, niemand interessiere es, was eine Frau beim Menstruieren denke?
«Was fange ich bloss mit dieser Prämisse an?»
Was uns die neue Entspanntheit im Umgang mit dem F-Wort bringt, zeigt ein Buch, das diesen Herbst erschienen ist. «Frauen erfahren Frauen», herausgegeben vom Verlag sechsundzwanzig, versammelt literarische Perlen aus über vierzig Jahren. Die Texte drehen sich alle um die Frage, welche Erfahrungen Menschen machen, wenn sie als Frauen durchs Leben gehen (müssen). Was die Texte darüber hinaus vereint, ist der literarische Anspruch. Mindestens so vielseitig und originell wie die Inhalte sind die Spielereien mit der Form und das Erkunden der Sprache selbst – Praktiken, die für die feministische Literatur immer schon bezeichnend waren.
Ruth Schweikert macht den Auftakt. Ihr Text «Und dann plötzlich diese Wut» widmet sich unter anderem der Kunst des Anagramms. Vom Titel des Buches unangenehm berührt («Frauen erfahren Frauen? Um aller Göttinnen willen: Was fange ich bloss mit dieser Prämisse an, mit diesem Siebzigerjahre-Jargon, der mir sogleich auf die Nieren schlug und auf den Magen») wirft sie die 20 Buchstaben durcheinander und ordnet sie neu.
«Er: Frauen fahren Frauen? // N: Erfahrene Frauen, rauf!// Er: Frauenhaar, Neffe nur// R: Fahr, Ufer, an ferne Auen// Unerfahren? Ra, ruf Fee an. »
«Es hat meine Perspektive für immer verändert»
Aus dem Anagramm wird eine «Mama Anger», eine «wütende, höchst kreative Mutter», die neue Horizonte eröffnet: Wer ist diese Fee, die da angerufen wird? Wer, so spinnt Schweikert den Faden weiter, waren die dreizehn Feen, die sie als Schriftstellerin geprägt und gestärkt haben? Das scheinbar alberne Spiel evoziert «Sinn, Unsinn und Hintersinn» und wird zum heiteren Refrain eines Textes, der an sich wenig Grund zum Lachen gibt.
Schweikert erzählt von Jane Campion, die kurz nach ihrem grossen Erfolg als Regisseurin (wir erinnern uns: Campion gewann 1993 die Palme d’Or und einen Oscar für «The Piano») ihr erstes Kind zur Welt brachte – und es wenige Tage später verlor. Ihr Sohn starb elf Tage nach der Geburt. «Es hätte sich angefühlt, sagte Campion, als zahle ihr eigener Sohn den Preis für ihren Erfolg – und zwar mit seinem Leben», schreibt Schweikert, und ergänzt: «Ein solches Gefühl ist in der Tat furchtbar – und trifft in dieser Zuspitzung, die den eigenen schwangeren Körper mit in die Verantwortung nimmt, Künstlerinnen mit doppelter Wucht.» Trotzdem bezeichnete es Campion später als wertvolle Erfahrung: «Es hat meine Perspektive für immer verändert.»
Alle paar Seiten eine neue Stimme
Möglichst viele Perspektiven: Das ist das Leitmotiv der Herausgeberin Jil Erdmann. Die weibliche Perspektive komme im Literaturbetrieb zu kurz, schreibt sie im Vorwort. Denn noch immer würden Bücher von Männern über Männer mehr verlegt und in den Medien deutlich mehr besprochen. «Hier sind sowohl Leser*innen als auch Verleger*innen gefragt.» Mit «Frauen erfahren Frauen» will sie ihren Beitrag leisten zu einer diverseren Literatur – und sie zeigt damit, warum es sich für Literatur und Leser*innen lohnt.
Erstens besticht die Sammlung durch die breite Auswahl an Autorinnen und die Vielfalt der Formen, Stile und Gattungen. Der schmale, aber pralle Band enthält Gedichte, Prosa, Essays, Autobiografisches und Aphorismen. Alle paar Seiten kommt eine neue Stimme zu Wort, es wechselt der Rhythmus, es ändert der Klang.
Zweitens gibt das Buch Einblicke in die unterschiedlichsten Themen, die für die Erfahrungen von Frauen relevant sind. Lesbische Liebe, Mutterschaft, sexuelle Gewalt, Freundschaft, Fragen der Identität, der Zugehörigkeit, der Solidarität und des künstlerischen Selbstverständnisses werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.
Drittens geht es dabei immer auch um Vorbilder: Um jene Erfahrungen, die schreibende Frauen beim Lesen von anderen schreibenden Frauen machen. Und um jene Erfahrungen, die schreibende Frauen anderen Frauen durch ihr Schreiben weitergeben. Das Buch enthält Reminiszenzen und Erinnerungen an zahlreiche Autorinnen und ihre Werke: Von Susan Sontag bis Selma Lagerlöf, von Natalia Ginzburg bis Laurie Penny. Und nicht zuletzt erinnert es an Ruth Mayer, ohne die es dieses Buch nicht geben könnte.
«Erinnerung: Das Gestern fällt dem Heute ins Wort»
Tatsächlich ist die Geschichte dieses Bandes ebenso faszinierend wie die einzelnen Texte selbst. Sie beginnt im Jahr 1976, als die Herausgeberin, Journalistin und Autorin Ruth Mayer gemeinsam mit Françoise Holzer die Edition R+F gründet, den ersten Frauenverlag der Schweiz. Mayer veröffentlicht zuerst eigene Texte, und sie hat eine besondere Leidenschaft: Aphorismen. «Sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, ist eine Spezialität dieser Schreiberin. Und wenn Ruth Mayer aus dem Chaos der Wörter eins herauspickt, es anschaut und dreht und wendet, zeigen sich ihr Zusammenhänge, auch verquere lässt sie zu. Aber nie sind es moralische Auswege, sondern immer klare und neue Erkenntnisse», schreibt Laure Wyss, selbst Pionierin der Schweizer Medienlandschaft, im Vorwort einer Publikation von Mayer. Eine kleine Auswahl von Mayers Aphorismen ist auch im aktuellen Band abgedruckt. Sie sind bestechend, erhellend, präzis und witzig: «Anpassungsfähigkeit: Die geschmeidigen Umrisse der eigenen Meinung.» Oder: «Übersättigung: Die Langeweile setzt Bauch an.» Oder: «Erinnerung: Das Gestern fällt dem Heute ins Wort».
Mayer stand in regem Austausch mit namhaften Schriftstellerinnen wie Ilse Aichinger, Friederike Mayröcker und Mascha Kaléko, sie war umtriebig und galt als sorgfältige und engagierte Herausgeberin. 1982 entstand «Frauen erfahren Frauen», eine Sammlung mit Texten von Schriftstellerinnen mit feministischem Anliegen. Das Buch erschien, wurde gekauft, gelesen, war irgendwann vergriffen und verschwand von der Bildfläche. Das F-Wort war noch nicht mehrheitsfähig.
Verschwunden und wieder gefunden
Fast vierzig Jahre später, im Jahr 2020, stöbert die sechsundzwanzigjährige Jil Erdmann in einem Zürcher Antiquariat und stösst dabei zufällig auf das Buch. Sie fühlt sich sofort angesprochen. Erdmann ist seit zehn Jahren in der Buchbranche tätig. In ihrer aktuellen Stelle bei einem grossen Verlag fühlt sie sich unterfordert. Sie träumt vom eigenen Verlag. Als sie feststellt, dass «Frauen erfahren Frauen» vergriffen ist, weiss sie: Dieses Buch muss sie wieder auflegen. Und gründet den Verlag sechsundzwanzig.
Sie studiert Ruth Mayers Nachlass – Mayer ist 2007 verstorben – und nimmt Kontakt auf mit den Autorinnen, mit Françoise Holzer sowie mit Ruth Mayers Lebenspartnerin. Für ihre Idee, die Texte wiederaufzulegen und der eigenen Generation verfügbar zu machen, bekommt sie viel Zuspruch. Doch einfach nur eine Neuauflage ist Erdmann nicht genug. Schliesslich will sie zeigen, wie aktuell das Thema ist. Sie will eine Brücke bauen, die Generationen miteinander ins Gespräch bringen. «Wie haben sich Frauen damals wahrgenommen und wie erfahren sie sich heute? Was hat sich über die Generationen verändert? Was ist geblieben?» Sie lädt zeitgenössische Autorinnen ein, neue Texte beizusteuern. Und macht aus der Neuauflage etwas Neues.
«Frausein stellt mich in Frage und ich stelle Frausein in Frage»
Gut ein Jahr nach dem überraschenden Fund im Antiquariat liegt nun eine neue Fassung von «Frauen erfahren Frauen» vor. Erdmann führt das Projekt von Ruth Mayer weiter. Der Erfolg des Buches zeigt, dass das F-Wort keine abschreckende Wirkung mehr hat. Und er zeigt auch, dass es selbst in Zeiten diverser Geschlechteridentitäten nicht ausgedient hat.
Was das Wort «Frau» heute bedeutet, beschreibt die Autorin Henriette Vásárhelyi treffend: «Frau ist ein Begriff für unterschiedliche Lebewesen, von denen man bestimmte Dinge erwartet. Diese Herkunft sucht mensch sich nicht aus. Frausein stellt mich in Frage und ich stelle Frausein in Frage, davon möchte ich erzählen.» Dazu gibt es in der Tat viel zu sagen. Für Erdmann ist das Thema deshalb mit dieser Publikation nicht abgeschlossen: «Frauen erfahren Frauen» von 2021 ist laut Verlagsankündigung nur der erste Band einer Reihe, auf die wir uns freuen dürfen.
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Jil Erdmann (Hrsg.): Frauen erfahren Frauen. 2021, Verlag sechsundzwanzig, Zürich. 26.40 CHF.
Der erste Band ist eine Sammlung von Texten zum Thema Frausein von 1976 bis 2021. In das Thema geht alles hinein, was zwischen Frauen passiert, passieren kann, alles mit Frauen Gelebte, Erlebte.
Mit Texten von Ruth Schweikert, Simone Lappert, Anna Ospelt, Tabea Steiner, Liliana Bosch, Anna Stern, Judith Keller, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Charlotte Brandi, Katrin Schregenberger, Marlen Saladin, Rosemarie Egger, Ursula Niemand, Elisabeth Alexander, Erika Flück, Esther Spinner, Laure Wyss. Mit Illustrationen von Salome Eichenberger.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Martina Süess ist Literaturwissenschaftlerin und Autorin des Buches «Führernatur und Fiktion. Charismatische Herrschaft als Phantasie einer Epoche». Sie arbeitet als Dozentin und Journalistin.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann, Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder. Die Redaktion betreuen wechselnd Mitglieder der Gruppe.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Sehnsüchtig warte ich auf den Moment, in dem alle Frauen zu dem werden was sie sind….. und ihrer einzigartigen Stellung in der Geschichte der Menschheit bewusst werden. Zur Zeit bin ich umgeben von jungen Müttern, von kürzlich Mutter gewordenen Frauen, einer werdenden Mutter und einer werdenden Grossmutter. Es liegt mir fern, die Frauen auf die Rolle der Mutter zu reduzieren. Diese Stellung in der Menschheitsgeschichte inne zu haben, ist aber ein starkes Stück. Wer das begriffen und verinnerlicht hat, verliert keine Zeit mit Frauenbüchern….. und «Instruktionen» an die Gesellschaft… und lebt im «Männer/Frauen Gleichgewicht»… und hat Zeit für die Schönen Dinge. Die vergangenen 50 Jahre haben zu Recht grosse Veränderungen gebracht. Ich warte darauf, dass diese Veränderungen gefeiert werden… auch die Rolle der Mütter und Musen soll gefeiert werden.
Noch ein Gedanke: Was hat es wohl mit der Helvetia auf sich? Identifikationsfigur für die Eidgenossenschaft? Ahhh.. da nähern wir uns einem kleinen Geheimnis an. Einem Geheimnis, das unserem Unterbewussten nicht ganz so geheim ist.
«Es liegt mir fern, die Frauen auf die Rolle der Mutter zu reduzieren.»
Meinem Eindruck nach tun Sie dies aber gerade. Anders kann ich Ihren Beitrag nicht verstehen.
«Frau – ein Begriff für unterschiedliche Lebewesen». Dieser Titel hat mich gleichzeitig irritiert und fasziniert. Irritiert: Es ist noch nicht allzu lange her – in der «Aufklärung» (ausgerechnet!) – da haben «gescheite» Männer das Mittelalter «dunkel» genannt, «farbige» Menschen als «Wilde» und den Tieren näher als der aufgeklärten modernen Menschheit und die Frauen ihnen auch grad gleichgestellt. Sehen Frauen ihre «Diversität» so breit, dass sie selbst «Frau» als «Begriff für unterschiedliche Lebewesen» verstehen? Fasziniert: Das interessierte mich, das musste ich öffnen, um verstehen zu lernen, was es damit auf sich hatte. Irritation war dann das vorherrschende Gefühl bei den ersten Zeilen – sie wich dann mehr und mehr dem Gefühl der Faszination: Diese Geschichten von Frauen für Frauen! Bekannte Namen waren darunter. Das Projekt Verlag sechsundzwanzig erregte ein Gefühl von Bewunderung. Und ich begann mich zu fragen: könnte ich mich selbst so entblössen, so öffnen für einen so schonungslosen Austausch mit Männern? «Männer erfahren Männer»? Dabei hatte ich gerade heute zwei Männer erfahren, wie Mauern, die keinen Millimeter abrückten von ihrer selbstsicheren Position – ich fühlte mich gekränkt mit ihren Antworten. Wie hätte die gleiche Auseinandersetzung mit Frauen sich anfühlen können? Männer erfahren Frauen – Frauen erfahren Männer? Naja, das wäre eine ganz andere Stufe der Erfahrungen. Zuerst müssen, wie Frauen mit Frauen, Männer mit Männern mal klarkommen!