Kommentar

Gleich und berechtigt

Heribert Prantl © Sven Simon

Heribert Prantl /  Unser Autor ist im Besitz eines «Kommentars zum deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch» von 1953. Ein Werk für juristische Archäologen.

Von meinem Grossvater mütterlicherseits, der Notariatsoberinspektor von Beruf war, habe ich ein sehr dickes Buch geerbt, das mich dann lange begleitet hat. Es war ein juristisches Kommentarwerk namens «Palandt», etwa zwei Ziegelsteine gross und auch so schwer.

Das grossväterliche Exemplar war die 11. Auflage aus dem Jahr 1953, meinem Geburtsjahr. Wahrscheinlich konnte niemand sonst mit diesem Buch etwas anfangen, zumal es sich um eine schon damals alte Auflage handelte. Beeindruckt vom Gewicht und vom Umfang der Schrift sowie von der Unverständlichkeit des Inhalts habe ich den «Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch» als Bücherstütze neben meine Karl-May-Bände platziert.

Im Laufe der Jahre begann ich dann die Menschen zu bewundern, die sich mit diesem Buch und mit Sätzen wie diesem ihr Geld verdienen können: «Tritt der Wille, in fremdem Namen zu handeln, nicht erkennbar hervor, so kommt der Mangel des Willens, im eigenen Namen zu handeln, nicht in Betracht.» Es handelt sich bei diesem Zungenbrecher um den Paragrafen 164, Absatz 2 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs. Der Paragraf besagt, in normales Deutsch übersetzt, dass im Zweifel ein Jeder im eigenen Namen handelt.

Das Ende des «Stichentscheids» – vor 65 Jahren

Es kam so, wie es kommen musste: Ich studierte Rechtswissenschaft und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Dieter Schwab, Ordinarius für Bürgerliches Recht, Familienrecht und Deutsche Rechtsgeschichte an der Universität Regensburg. Dort gab es einen Schreibtisch für mich in einem Dreier-Büro, in dem es nicht so wuselig, gedrängt und laut zuging wie in der juristischen Bibliothek.

Ins Regal stellte ich mir, wieder als Bücherstütze, den Palandt aus dem Jahr 1953. Und wenn ich etwas Familienrechtliches zu studieren hatte, las ich – der Gaudi halber – in diesem alten Opa-Exemplar nach. Es war dies dann wie eine archäologische Expedition in die Steinzeit der Gleichberechtigung.

Am Beginn der Bundesrepublik galten ja im Familienrecht, trotz des Gleichberechtigungsartikels im Grundgesetz, noch die alten Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs aus dem Jahr 1900: Der Mann gab der Frau und den Kindern seinen Namen, er bestimmte den Wohnsitz, er verfügte allein über das Vermögen seiner Frau und über ihre Berufstätigkeit, er konnte jederzeit ihr Arbeitsverhältnis kündigen; er hatte auch die sogenannte väterliche Gewalt, entschied also allein über Umgang, Schule und Ausbildung der Kinder. «Stichentscheid» nannte man dieses Letztentscheidungsrecht des Vaters in der Kindererziehung.

Vor genau 65 Jahren, am 29. Juli 1959, verkündete das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit dieses väterlichen Stichentscheids. Es war dies das Ende der Steinzeit des Familienrechts, ein Meilenstein für die Entwicklung des Familienrechts in der Bundesrepublik.

Dieses Urteil des Ersten Senats hat damals Erna Scheffler verkündet; sie war die erste und lange Zeit die einzige Frau am Bundesverfassungsgericht. Weitere Meilensteine folgten: Das Verfassungsgericht hat die Politik 40 Jahre lang in Sachen Gleichberechtigung vor sich hergetrieben. Das Familienbild hat sich grundlegend geändert.

Im Gleichberechtigungshimmel ist Deutschland gleichwohl noch lange nicht. Nach wie vor gibt es zum Beispiel die Lohndiskriminierung der Frauen. Es gibt den Gender-Pay-Gap – der Lohnunterschied liegt noch immer bei 18 Prozent; damit gehört Deutschland bei der Lohngleichheit zu den Schlusslichtern in Europa. Ein bisschen Steinzeit gibt es also immer noch.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Dieser Kommentar des Kolumnisten und Autors Heribert Prantl erschien zuerst als «Prantls Blick» in der Süddeutschen Zeitung.
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5 Meinungen

  • am 11.08.2024 um 11:35 Uhr
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    Der Artikel ist nützlich, weil Lachen nützlich ist! Ich bin unsicher, ob bei der heutigen Regulierungsflut unsere Gesetze und Regulierungen unsere Kinder ebenso zum Lachen oder Weinen bringen.

  • am 11.08.2024 um 21:46 Uhr
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    Vielen Dank für diese treffende und korrektive Exhumierung zum Thema Gleichstellung. Reserviert das Kommentar zum Eigentumsartikel ebenfalls einsichtsreiche Aussagen?

  • am 12.08.2024 um 10:42 Uhr
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    Henning Bleyl vom 21. 4. 2013, 16:41 in der TAZ: «….68 Jahre nach Hitlers Tod und dem Ende des „Dritten Reiches“ sind noch immer zahlreiche Gesetze und Verordnungen in Kraft, die vom „Führer“ und dessen Reichsregierung erlassen wurden…» Die Frage könnte wohl sein, ob es im juristischen Kommentarwerk «Palandt» auch Beurteilungen zu Nazigesetzen gibt, die nach 1949 übernommen wurden, um möglicherweise juristische Handhabe zu haben dafür sorgen zu können, dass die Jahre 1933-1945 unter einem Betondeckel der Verschwiegen bleiben, damit die Roben der braunen Richter und Staatsanwälte unbeschmutzt bleibe- im Sinne von Hans Globke, der grauen Eminenz im Adenauer-Bundeskanzleramt, der unter Hitler die Nürnberger Rassengesetze mitverfasste?
    Gunther Kropp, Basel

  • am 12.08.2024 um 15:14 Uhr
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    Wenn man von Deutschland redet, sollte nicht vergessen werden, dass diese «steinzeitlichen» Regeln des Familienrechts in der DDR (ebenfalls Deutschland!) von Anfang an für die damalige Zeit (sogar zum Teil auch noch heute) sehr fortschrittlich waren. Der Einwand, dass dahinter eine besondere politische Motivation stand, ist dabei völlig unerheblich. Für das Arbeitsrecht gilt übrigens Gleiches!

    • am 13.08.2024 um 08:37 Uhr
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      Korrektur: … von Anfang an abgeschafft und …

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