GASTBEITRAG: Sexarbeit – Feministische Perspektive
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Red. Aufgrund mehrerer Postulate hat der Bundesrat den Auftrag erhalten, einen Bericht zum Spannungsfeld Prostitution, Sexarbeit, sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel auszuarbeiten. Sein Erscheinen ist für März beziehungsweise April dieses Jahres angekündigt. Infosperber veröffentlicht im Vorfeld eine Reihe von grundlegenden Beiträgen zu diesem Thema.
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Sollen Feminist_innen fordern, dass Sexarbeit als selbstverständliche Arbeit akzeptiert wird? Die Frage ist alt. Ein Ja löst Unbehagen aus, weil die Tätigkeit auf struktureller Ebene mit einer heteronormativen und hierarchischen Geschlechterordnung verknüpft ist, mit geschlechtsspezifischer Gewalt, mit wirtschaftlichen Machtverhältnissen und Ausbeutung. Sexarbeit ist daher in vieler Hinsicht eine «Zone der Verwundbarkeit und Prekarität» (Maritza Le Breton: Sexarbeit als transnationale Zone der Prekarität, 2011). Dem gegenüber steht die Realität, dass Sexarbeit auf individueller Ebene ein Akt der Emanzipation sein kann: «Viele Frauen, die mit Sexarbeit ihr Leben und das ihrer Familien im Herkunftsland finanzieren, sind starke Frauen, die mit ihrer Migration Mut und Verantwortung bewiesen haben. Sie sind keine Opfer» (Shelley Berlowitz: Sexarbeit im Kontext der Geschlechterverhältnisse, 2013).
Als «Zone der Prekarität» betrachtet, reproduziert Sexarbeit Verhältnisse, die gleichberechtigten Geschlechterbeziehungen zuwiderlaufen. Deshalb sehen manche Feminist_innen in der Sexarbeit eine grundlegende Verletzung von Frauen- bzw. Menschenrechten und fordern ein Verbot. Wir – eine Arbeitsgruppe von NGO-Vertreterinnen und Expertinnen – diskutieren in unserem Diskussionspapier «Sexarbeit» Alternativen zum Verbot und plädieren für Entkriminalisierung und ein Ende der Stigmatisierung. Entkriminalisierung der Sexarbeit anzustreben bedeutet nicht, jegliche Regulierungen abzulehnen, aber wir halten eine Gesellschaft für erstrebenswert, in der Sexarbeit und die Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen gegen Entgelt möglich sind: für alle Geschlechter, frei von Stigmatisierung, Diskriminierung und Gewalt.
Menschenrechte als Grundlage
Grundlage und Leitidee unserer Position zur Sexarbeit ist die universelle Geltung der Menschenrechte, die es auch für Sexarbeiter_innen kompromisslos einzufordern gilt.
Das Konzept der Menschenrechte geht davon aus, dass alle Menschen gleichermassen mit grundlegenden Rechten ausgestattet sind, die universell, unveräusserlich, unteilbar und unabhängig von der Staatsangehörigkeit Geltung haben. Der Staat hat die Pflicht, die Menschenrechte aller zu schützen und durchzusetzen – also auch die Rechte von Sexarbeiter_innen. Zu diesen Rechten gehören insbesondere der Schutz vor physischer und psychischer Gewalt, vor Ausbeutung, vor Diskriminierung, weiter das Recht auf Gesundheit, auf würdige Arbeitsbedingungen und auf Entgelt, aber etwa auch das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit und die Entscheidungsfreiheit in Fragen, die den eigenen Körper und die Sexualität betreffen.
Von einem solchen Menschenrechtsansatz ist in den aktuellen politischen Debatten leider oft wenig zu spüren. So mag der Entscheid für eine Tätigkeit im Sexgewerbe in Armut, Flucht, Krieg, Konflikt, Sucht, schwierigen familiären Umständen etc. gründen. Doch dies ist kein Grund, Frauen und Männern, die diesen Entscheid treffen, Entscheidungsfähigkeit grundsätzlich abzusprechen! Der Entscheid für Sexarbeit kann im Gegenteil auch Ausdruck einer eigenständigen Strategie sein. Entsprechend wichtig ist es, Tätigkeiten im Sexgewerbe von kriminellen Handlungen wie Menschenhandel und erzwungener Prostitution abzugrenzen.
Einige Feminist_innen argumentieren, jede Form der Sexarbeit sei mit Zwang und Ausbeutung verstrickt. Die folgenden Reflexionen zur selbstbestimmten Sexarbeit nehmen diese Annahme unter die Lupe und kommen zu einem anderen Schluss.
Was bedeutet Selbstbestimmung in der globalen kapitalistischen Wirtschaft?
In der Auseinandersetzung mit der Situation von Sexarbeiter_innen ist Selbstbestimmung ein zentrales Stichwort. Wie weit reicht die Selbstbestimmung einer Sexarbeiterin oder eines Sexarbeiters?
Angenommen, eine Roma-Frau reist nach Westeuropa, um mit Sexarbeit Geld für die Familie im Herkunftsland zu verdienen. Hier führt strukturelle Gewalt zum Entscheid für Sexarbeit. Armut und Geschlechterhierarchien verengen den Raum der Selbstbestimmung. Doch aufgrund schlechter «Startchancen» werden Sexarbeiter_innen zu oft ausschliesslich als Opfer dargestellt. Solche Stereotype generieren einen Opferdiskurs, der die Frauen entmündigt und nicht mit der Realität übereinstimmt. Viele Sexarbeiter_innen sind handlungsmächtig und eignen sich Strategien an, um ihr Leben zu meistern.
Dass Frauen, Männer oder Transmenschen Sexarbeit selbstbestimmt als Erwerbstätigkeit wählen, bedeutet jedoch nicht, dass dies ihre erste Wahl ist. Für viele ist Sexarbeit mit Diskriminierung, schlechten Arbeitsbedingungen und Gesundheitsrisiken verbunden, manche sehnen den Tag herbei, an dem sie die Tätigkeit aufgeben können. Doch dies gilt keineswegs nur für die Sexarbeit (Tim Stüttgen: «Nicht alle empfinden das Gleiche über Sex», testcard. Beiträge zur Popkultur, Nr. 17/2008). Viele Geldjobs sind unangenehm, risikoreich oder ausbeuterisch und werden von unterprivilegierten Menschen verrichtet. Wenn es um Selbstbestimmung, faire Arbeitsbedingungen und globale Gerechtigkeit geht, ist also nicht allein auf die Sexarbeit zu achten.
Wirkt Sexarbeit emanzipatorisch?
Für eine feministische Auseinandersetzung mit dem Thema Sexarbeit ist entscheidend, dass Sexarbeit zu jenen Dienstleistungen zählt, die ganz besonders durch Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern geprägt sind. Damit verbunden ist die Annahme, dass Sexarbeit die Ungleichheit und Geschlechterhierarchien verfestigt.
Muss die Thematik der Sexarbeit also als besonders krasse Form von Sexismus und als Zementierung von Geschlechterhierarchie betrachtet werden? Oder haben wir es vielmehr mit Selbstermächtigung und Emanzipation zu tun? Ein Ansatzpunkt beim Nachdenken über Selbstbestimmung und Sexismus ist, zwischen individuellem Lebensentwurf und gesamtgesellschaftlichem Zusammenhang zu unterscheiden (Beatrice Bowald: Prostitution. Überlegungen aus ethischer Perspektive zu Praxis, Wertung und Politik, 2010). Auf dem individuellen Lebensweg einer Sexarbeiterin oder eines Sexarbeiters kann die Arbeit emanzipatorisch wirken. Sexarbeit ermöglicht (vor allem) Frauen, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen und damit ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen. So gesehen hat die Tätigkeit für einzelne Sexarbeiter_innen emanzipatorisches Potential. Im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Ebene ist die Frage der Emanzipation nicht eindeutig zu beantworten. Sexarbeit wird oft mit dem Argument «Männer brauchen das halt» gerechtfertigt. Dieses Argument finden wir problematisch, weil es sexistische Denkmuster reproduziert.
Warum ist Sexarbeit (noch) keine «Arbeit wie jede andere»?
Aus Sicht der Sexarbeiter_innen, die in der FIZ Beratung finden, ist die Ausgrenzung meist ein grösseres Problem als die Gewalt. Die Tätigkeit ist so stigmatisiert, dass die meisten Sexarbeiter_innen ein Doppelleben führen. Das permanente Verheimlichen ist mit einer psychischen Belastung verbunden, die krank machen kann. Ein entscheidender Schritt des Empowerments sind daher Bestrebungen für mehr gesellschaftliche Anerkennung. Dazu braucht es eine Veränderung in den Köpfen. Somit fragt sich: Warum ist Sexarbeit so sehr stigmatisiert? Welche Hintergründe hat die Ausgrenzung? Was spricht dafür oder dagegen, Sexarbeit als «Arbeit wie jede andere» zu anerkennen?
Um die Stigmatisierung zu verstehen und ihr entgegenzuwirken, ist es wichtig, Sexarbeit nicht isoliert zu betrachten. Viele Beziehungen zwischen Männern und Frauen oder zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren weisen kommerzielle Aspekte auf. Neben Sexarbeit stehen etwa Geldheiraten oder teure Einladungen, bei denen eine sexuelle Dienstleistung erwartet wird. Im Fall der Sexarbeit ist Sex gegen Gegenleistung in Verruf. Im Zusammenhang der Ehe kann der kommerzielle Aspekt ebenso wichtig sein, er wird jedoch weniger abgewertet.
Die Philosophin Martha Nussbaum vertritt die provokative und plausible These, dass die Stigmatisierung auf «eine hysterische Angst vor der zügellosen weiblichen Sexualität» zurückgeht (Martha Nussbaum: «Mit guten Gründen oder aus Vorurteil», Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/1999). Die Auswirkungen zeigen sich in der Gesetzgebung zahlreicher Länder: die Angst zieht Kontrollmassnahmen bis hin zur Kriminalisierung nach sich. Angesichts der gesellschaftlichen Normen überrascht nicht, dass praktische Massnahmen (ausser in Schweden) einseitig bei Sexarbeiterinnen ansetzen: Sie zielen darauf, weibliche Sexualität ausserhalb der Norm einzudämmen.
Vision
Verfestigen bestimmte Tätigkeiten und Arbeitsformen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern? Zementieren sie Stereotype der Heterosexualität? Sind sie Ursache geschlechtsspezifischer Gewalt? Die Diskussion dieser Fragen darf nicht auf das Feld der Sexarbeit beschränkt bleiben, sondern muss in einem breiteren Kontext stattfinden. Kampf gegen Frauenverachtung bedeutet Verbesserung von strukturellen Bedingungen sowohl in der Schweiz als auch in den Herkunftsländern von Migrant_innen, ob sie nun im Sexgewerbe tätig sind oder nicht.
Das Verbot von Sexarbeit oder die Bestrafung von Freier_innen wie in Schweden lösen diese Problematik nicht, im Gegenteil. Die Kriminalisierung bewirkt, dass sich das Gewerbe in den Untergrund verschiebt. Weder ein Verbot noch das schwedische Modell bringt also das Sexgewerbe zum Verschwinden, vielmehr verschlechtert eine solche Illegalisierung die Arbeitsbedingungen. Wenn es darum geht, die Situation von Sexarbeiter_innen zu verbessern, muss bei der Veränderung struktureller Bedingungen angesetzt werden.
Deshalb fordern wir faire und würdige Arbeitsbedingungen, den wirksamen Schutz der Grundrechte sowie eine Verbesserung der rechtlichen Situation von Sexarbeiter_innen.
Unbestritten ist der Status quo weit von dieser Vision entfernt. Realität sind Formen von Sexarbeit, die von Abhängigkeiten, ökonomischem Gefälle, Geschlechterhierarchien geprägt sind. Restriktive Migrationsgesetze verschärfen die Prekarisierung von Sexarbeiter_innen. Unsere Vision strebt Sexarbeit jedoch als Tätigkeit an, die gesellschaftliche Anerkennung findet und mit fairen und würdigen Arbeitsbedingungen einhergeht.
Was Sexarbeiter_innen angeht, die in einer Zone der Prekarität arbeiten, fordern wir als Feministinnen Entkriminalisierung verbunden mit Empowerment, wir kritisieren Sexismus ebenso wie Kapitalismus und einseitige Globalisierung.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Dieser Text ist ein Auszug aus dem «Diskussionspapier Sexarbeit: Fakten, Positionen und Visionen aus feministischer Perspektive» vom August 2014. Verfasst von folgenden fünf Organisationen: TERRE DES FEMMES Schweiz, Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ, Die feministische Friedensorganisation cfd, Fachstelle Sexarbeit Xenia, Prostitution Kollektiv Reflexion PRO KO RE.
In der dänischen Serie «Borgen» wird auch das schwedische System thematisiert. Aus einem Interview des TA mit S. Schmetkamp:
"In der dritten Staffel der dänischen TV-Serie «Borgen», die das schwedische Verbotssystem diskutiert, wird das sehr gut thematisiert: Die dort auf eine politische Podiumsdiskussion bestellte Sexarbeiterin wurde noch nie so gedemütigt wie von jenen feministischen Politikerinnen, die ihr in der Diskussion keine Autonomie zusprachen, sondern sie als Opfer darstellten und für ihre politischen Zwecke instrumentalisierten. Zum ersten Mal, so erzählte die Figur danach, habe sie sich schmutzig gefühlt."
interessantes Interview:
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Ein-Verbot-untergraebt-die-Autonomie-der-Sexarbeiterinnen/story/27949140?dossier_id=702