Detektoren statt Psychiater: Blicke in die Zukunft
Die Sehnsucht nach Sicherheit macht erfinderisch. Zum Beispiel der Wunsch, Kinder vor Kinderschändern zu schützen. «Forscher der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel testen einen Pädophilen-Detektor an verurteilten Tätern und normalen Männern. Ziel ist die Erkennung von Kinderschändern.» Schreibt Catherine Boss in der SonntagsZeitung vom 12. April 2015. Nicht nur in Basel, auch in Zürich versuchen WissenschaftlerInnen herauszufinden, ob sich mittels Messung von Hirnaktivitäten Pädophile erkennen sowie Gefährlichkeit&Rückfallgefahr von Sexualstraftätern zuverlässig bestimmen lassen.
Mit den traditionellen psychiatrischen Methoden war es nicht wirklich möglich, in Köpfe hineinzuschauen. «Es ist schwierig pädophile Neigungen zu erfragen oder zu messen, wenn der Proband nicht bereit ist, darüber Auskunft zu geben», lässt sich Andreas Mokros von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich in der SonntagsZeitung zitieren. Und zu den in Zusammenhang mit dem so genannten «Todesflug 4U 9525» verlangten Psychotests von PilotInnen sagt der deutsche Psychologe und ausgebildete Verkehrspilot Raphael Diepgen, ein Psychiater könne «auch nur das beurteilen, was ihm der Patient offenbart» (Neue Zürcher Zeitung, 12.4.2015).
Der Blick in Menschenköpfe
Bisher waren GutachterInnen auf Aussagen von Tätern (und seltenen Täterinnen) sowie ihrem Umfeld abhängig – «alles weiche Faktoren, die von Tätern verfälscht werden können» (SonntagsZeitung). Der Blick in Menschenköpfe mittels Verkabelung&Detektor würde «die Objektivität eines Befundes wesentlich verbessern» (Marc Graf, Direktor der Forensischen Klinik in Basel). Eine Maschine, das die Hoffnung, lässt sich von Tätern (und Täterinnen) nicht austricksen, die, so Catherine Boss, «in jahrelangen Therapien lernen, sich gegenüber ihren Therapeuten zu verstellen». Die SonntagsZeitung sieht dank des Detektors – nachhaltiger Erfolg der Tests vorausgesetzt – schon eine «Zeitenwende in der Beurteilung von Sexualstraftätern» anbrechen.
Warum so bescheiden? Die «revolutionäre Erfindung der Uni Basel» eröffnet noch ganz andere, ungeahnte Möglichkeiten. Was bei StraftäterInnen klappt, müsste ganz generell funktionieren – der schützende Blick in Kopf&Zukunft. Schon 2013 hat ein bekannter US-Gerichtspsychiater vorgeschlagen, «alle 18-jährigen Männer sollten auf ihre sexuelle Präferenz getestet werden, um mutmassliche Kinderschänder präventiv zu erkennen» (SonntagsZeitung). Das vermessene Hirn müsste uns ganz allgemein verraten, wozu Menschen, womöglich ohne es selber zu wissen, neigen und was sie tun werden, wenn wir sie lassen.
Welche Eltern, Verwandten, Bekannten oder FreundInnen einer Familie – und sie bilden bekanntlich die weitaus grösste «Risikogruppe» – könnten ein ihnen anvertrautes Kind sexuell ausbeuten oder physisch misshandeln? Welche/welcher Geliebte den Treueschwur brechen? Auf wen ist Verlass? Vor wem sind wir für alle Zeiten sicher? Wer wird uns, wenn es darauf ankommt, im Stich lassen? Wer könnte uns unter welchem Umständen Gewalt antun, töten? Welche PolitikerInnen werden ihre Wahlversprechen beziehungsweise die von ihnen unterzeichneten (Friedens-)Verträge einhalten? Ist die Zusicherung der Investorin, die Firma nach der Übernahme nicht auszuweiden und alle Mitarbeitenden weiter zu beschäftigen, glaubwürdig? Macht der Lehrer morgen wirklich keine Prüfung?
Der Phantasie, was uns das Scannen von Gehirnen verraten, wovor es uns bewahren könnte, sind keine Grenzen gesetzt.
Gefährlich sind die Unverdächtigen
Aber wo immer neue Technologien entwickelt werden, sind KulturpessimistInnen und MaschinenstürmerInnen nicht weit. «Brandgefährlich» nennt Bundesrichter Niklaus Oberholzer laut SonntagsZeitung den Pädophilendetektor. Und die Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer warnt: «Wenn wir so weit kommen, dass der Mensch nur noch vermessen wird, degradieren wir ihn zum Objekt.»
Niklaus Oberholzer mahnt: «Wir öffnen die Büchse der Pandora, wenn wir das zulassen.» Da in der griechischen Mythologie nicht bewandert, weiss ich nicht, was in dieser Büchse ist – Sardellen oder Ravioli? So oder so stellt sich die Frage, «wofür sonst noch solche Gehirntests eingesetzt werden könnten.» Und der Bundesrichter verlangt: Keine Detektoren bei Personen, «die noch nicht rechtskräftig verurteilt sind».
Damit würde eine grosse Chance vertan. Wenn schon in menschliche Gehirne geschaut werden soll, dann in alle. Wer (absolute) Sicherheit will, darf sich nicht auf das Erforschen von ein paar wenigen bekannten Verbrechergehirnen beschränken, muss eigene Empfindlichkeiten zurückstellen. Wirklich interessant wäre der Blick in Köpfe&Zukünfte derer, die noch nicht unter Verdacht stehen. Besonders gefährlich sind jene, denen es (hinterher) niemand zugetraut haben würde, die Unauffälligen&Unbescholtenen, wir alle.
Erst wenn wir sämtliche Köpfe untersucht, die Neigungen&Absichten aller bekannt sind, wären wir sicher. Oder auch nicht. Der Blick in eine bedrohliche Zukunft verhindert sie lange nicht immer. Die grössten Verbrechen der Geschichte waren angekündigt.
Es brauchte keine Detektoren, um herauszufinden, welche Pläne die Nazis hatten. Wer es wissen wollte, wusste, was sie tun würden. Aber die einen wollten, die anderen konnten sie nicht daran hindern. Auch Georg Elser nicht. An den der gleichnamige, eben angelaufene Film von Oliver Hirschbiegel erinnert.
Übrigens: Hätten die Nazis solche Maschinen gehabt, der Schreiner Elser wäre gestoppt worden, noch bevor er im November 1939 die Bombe hinter dem Rednerpult hätte platzieren können. Aber dass Hitler den Münchner Bürgerbräukeller vorzeitig verliess und Elser den grauenhaften Lauf der damaligen Welt nicht aufzuhalten vermochte, das lag nicht an einem fehlenden Detektor.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Auch wenn ich nicht zu den KulturpessimistInnnen und MaschinenstürmerInnen gehöre (so sprachentsetzlich hätte Grass selig nie formuliert), muss man vor diesen DetektorInnen mit Grund warnen. Ich schliesse nicht aus, dass auf dieser Basis auch politisch unkorrektes «Verbrechdenk» (Orwell) auf totalitäre Weise denunziert werden kann. Jürgmeier hat also, wiewohl sein Formulieren die Kommunikation mit rückständigen Menschen ohne Feminismus-Gender-Scheisse im Gehirn behindert, einen Hauptschauplatz der gesellschaftskritischen Auseinandersetzung betreten.
Wenn dieser Detektor von den Forschern selbst wirklich als «Pädophilen-Detektor» bezeichnet wird und diese Bezeichnung nicht aus journalistischer Absicht gewählt wurde, um mehr Sensationsneuigier zu erzeugen, ist bereits gesagt, was ein solcher Detektor wirklich Neues hervorbringen kann: Gar nichts.
Es ist doch absolut normal, dass ein Pädophiler anders auf Bilder von Kindern reagiert als ein sogenannt «Normaler». Das heisst aber noch lange nicht, dass dieser auch ein Kinderschänder ist. Die meisten wirklich schädigenden Übergriffe auf Kinder werden nachweislich nicht von Pädophilen verübt.
Was also kann mit diesem Detektor erreicht werden? Noch mehr Diskriminierung einer Minderheit, der kein gesunder Menschenverstand zugetraut wird und die – mit Gutheissung durch die Mehrheit der Gesellschaft – als «krank"oder gar «kriminell» erkannt und von der Gesellschaft isoliert werden muss.
@Joos Martin. Super-Kommentar, wenngleich der letzte Satz des 2. Abschnittes auch nicht gerade viel für die Pädophilen beweist; Man muss zwischen Veranlagung unterscheiden und der Art, wie man damit umgeht. Ich glaube dies in meinem 400-Seiten-Buch «Der Fall Federer» über den pädophilen Priester und Autor Heinrich Federer dargestellt zu haben. Wegen der Darstellung der Vorverurteilungsorgie und des unglaublich brutalen Umgangs der Gerichtsärzte und sogar der Eltern mit dem mutmasslichen Opfer Emil Brunner wurde mir «zu viel Verständnis» für einen Pädophilen vorgeworfen. Der Fall war aber lehrbuchmässig und enthält Elemente, wie sie heute noch bei Pädophilengeschichten regelmässig passieren. Es ging dabei weder um Verteidigung noch allerdings auch nicht um blosse Verurteilung. Wahr ist, dass mit der Rechtfertigung «gegen Pädophile» auch unverantwortliche Methoden gerechtfertigt werden. Das sehen Sie und auch Jürgmeier richtig.
Ihr Buch kenne ich natürlich schon lange und finde es mutig, aber auch gut, dass Sie das Risiko der Pateinahme-Vermutung eingegangen sind.
Ich könnte auch ein Buch schreiben über meine eigene Geschichte, aber die würde nicht gelesen, weil von «so einem» geschrieben, über den man zwar schreiben kann, mit dem man aber nicht reden und auch nichts von ihm lesen will. (Wer liest schon meine Homepage?). Ein «Pädophiler» ist – sobald man ihn als solchen geoutet hat (nicht freiwillig!) eben kein «Mensch der heutigen Gesellschaft» mehr…