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Wenn sich Sexismus so leicht beenden liesse wie am Düsseldorfer Rosenmontag 2016 © Wikimedia Commons

Das Prangerparadox oder Köln ist überall

Jürgmeier /  Der mediale Pranger, der Dinge bzw. Menschen gnadenlos beim Namen nennt, verschleiert den strukturellen Sexismus. Ein Essay.

Zugegeben, als der Tagesanzeiger im vergangenen Advent einen ehemaligen Blick-Boss mit Bild und Name als «Chef der Zudringlichkeiten» outete, verspürte ich – nebst der beklemmenden Bestätigung, dass sexuelle BelästigungÜbergriffeGewalt auch in unserer Kultur nicht Vergangenheit, sondern teilweise konstituierendes Element sind – im ersten Moment so etwas wie Schadenfreude. Und ich malte mir aus, wie das Schweizer Boulevardblatt diese «Geschichte» mit anderer Besetzung während Tagen genüsslich ausgeschlachtet und umgehend die Kioskauflage erhöht hätte. Diese Story aber war ihm nicht einmal einen Zweizeiler wert. Auch andere Schweizer Medien hielten sich vornehm zurück. Peer Teuwsen wies in der NZZ am Sonntag am Heiligen Abend 2017 auf die (generellen) Folgen des medialen Prangers hin: «Der Mann ist, da muss man sich wenig vormachen, erledigt, sein Umfeld traumatisiert.» Und stellte die nicht nur bei ehemaligen Blick-Chefredaktoren, sondern grundsätzlich berechtigte Frage: «Geht das nicht zu weit?… Darf man mithilfe anonymer Äusserungen Scharfrichterin spielen?» Dürfte frau es mit vollem und richtigem Namen?

Namen nennen oder nicht

Dass die Betroffenen – und es ist anzunehmen, dass der Tagesanzeiger ihre Aussagen sorgfältig geprüft hat – um Anonymisierung gebeten haben, ist verständlich. Sie können sich, auch in unseren emanzipierten Gesellschaften, nicht sicher fühlen. Können sich nicht darauf verlassen, dass sie in unseren Machtverhältnissen vor beruflichen Nachteilen oder anderen Formen des Blamingthevictim geschützt sind. Betroffene Frauen steckten in einem Dilemma, zitiert Salome Müller im Tagesanzeiger vom 9. Dezember 2017 aus einem Gastbeitrag der SP-Ständerätin Géraldine Savary in Le Temps: «Öffentlich bezeugen gilt als Übertreibung, anonym zu reden als Schwäche, Schweigen als Mitschuld.» Die Frage ist im Übrigen auch weniger, ob anonyme Aussagen publiziert, sondern ob der Name des Beschuldigten öffentlich genannt werden darf.

Allerdings, eine Presse, die mitgeholfen hat, einen Nationalrat wegen mutmasslichen Stalkings in privaten Beziehungswirren und wegen sexueller Übergriffe in halboffiziellen Zusammenhängen zum (selbstverschuldeten) Rücktritt zu treiben, die einen «wegen Belästigungs-SMS» (Blick) vor einem Jahr «freigestellten» Gewerkschafter wieder mit entsprechenden Hinweisen in die Öffentlichkeit zerrt, als er eine neue Stelle gefunden hat, die einen schliesslich gerichtlich freigesprochenen Wettermoderator über Monate mit der Publikation intimster Details und Vorverurteilungen «vernichtete» sowie die erotische Chat-Beziehung eines Stadtpräsidenten öffentlich machte, alles mit vollem Namen, darf nicht zimperlich sein, wenn es um ein Mitglied der eigenen Zunft geht. Das in einem bekannten Fall sexueller Gewalt durch Jugendliche nicht vor der Aussage zurückschreckte, hier handle es sich um «das von aller Moral befreite Böse» (Blick, 18.11.2006).

Der ehemalige Chef einer Zeitung, die gerne mit «Grüseln» Schlagzeilen macht, ist zum Opfer der eigenen Kultur, zum «Grüsel» geworden. Da hält sich – obwohl das AugeumAuge als überwunden gilt – das Mitleid, selbst bei mir, in Grenzen. Trotzdem mischen sich in die anfängliche, die boshafte Genugtuung Zweifel. Sind es die latenten Schuldgefühle gegenüber «den Frauen», die dazu verleiten, den Einzelfall zu skandalisieren, «schwarze Schafe» (unter Vernachlässigung der Unschuldsvermutung) beim Namen zu nennen und zum «Bauernopfer» zu machen, während die Verhältnisse, in denen sie geworden, was sie sind, erhalten bleiben?

«Unschuldsvermutung? Das heisst nicht,
dass die Opfer nicht reden dürfen»

Die Frage, ob Medien Verdächtige, Verdächtigte und Beschuldigte öffentlich beim Namen nennen dürfen oder nicht, ist (juristisch) umstritten. «Das Ermittlungsverfahren muss schonend sein», erklärt Winfried Hassemer. «Es muss nach Möglichkeit heimlich ablaufen. Die Justiz muss darauf sehen, dass möglichst wenig frühzeitig an die Öffentlichkeit dringt. Denn das, was berichtet ist, ist berichtet.» Diese Aussage des ehemaligen Vizepräsidenten des deutschen Bundesverfassungsgerichts zitiert Brigitte Baetz in ihrem Beitrag «Mediale Vorverurteilung auf dem Vormarsch» auf www.deutschlandfunk.de. Und verweist ihrerseits darauf, die Medien müssten «zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem öffentlichen Interesse» abwägen. «Eine volle Namensnennung bei der Berichterstattung über Ermittlungsverfahren ist eigentlich unzulässig. Es sei denn, es handelt sich um schwere Tatvorwürfe wie etwa Vergewaltigung und/oder um einen prominenten Täter. Laut Pressekodex dürfen Journalisten dabei nicht vorverurteilen.» Der frühere Bundesrichter und Zeit-online-Kolumnist Thomas Fischer verlangt auf meedia.de:» Wenn man meint, die Beweislage darstellen, auswerten und beurteilen zu sollen, als sei man Mitglied eines Gerichts, dann müsste man sich an die Regeln halten, die für solche Untersuchungen gelten.»

Genau dazu aber seien Journalistinnen und Journalisten nicht in der Lage, entgegnet Juristin und Zeit-Autorin Elisa Hoven auf derselben Plattform, so «wäre jeder Bericht über den Verdacht einer Straftat unzulässig». Heribert Prantl – Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen, früher Richter und Staatsanwalt – macht am 25. Januar klar: «Unschuldsvermutung? Das heisst nicht, dass die Opfer nicht reden dürfen.» Und der deutsche Bundesgerichtshof hielt bereits 1999 fest: «Dürfte die Presse, falls der Ruf einer Person gefährdet ist, nur solche Informationen verbreiten, deren Wahrheit im Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits mit Sicherheit feststeht, so könnte sie ihre … verfassungsrechtlich gewährleisteten Aufgaben bei der öffentlichen Meinungsbildung nicht durchweg erfüllen…» Im Übrigen, so Elisa Hoven, hätte «auch eine intensive Medienkampagne» für Betroffene «nicht die gleichen Folgen» wie ein Strafverfahren, für das andere Regeln gälten. Sie sei «letztlich weniger belastend als eine Verurteilung wegen Vergewaltigung zu mehreren Jahren Freiheitsstrafe.»

Das ist das Spannungsfeld, in dem sich Medien mit der sogenannten Verdachtsberichterstattung bewegen. Aber dies ist keine rechtliche Abhandlung; die für mich zentrale Frage ist, ob es – unabhängig von juristischen Erwägungen – sinnvoll ist, die Identität von Verdächtigen, mutmasslichen und verurteilten Tätern beziehungsweise Täterinnen öffentlich preiszugeben. Soll auf moralisch verwerfliches oder strafbares Verhalten, soll auf sexuelle ÜbergriffeAusbeutungGewalt mit dem medialen Pranger geantwortet werden? Und welche Wirkung hat das?

Es gibt keine Gerechtigkeit

Medien neigen dazu, sich als eine Art Paralleljustiz ohne entsprechenden Auftrag zu gebärden. Sie verurteilen Menschen vor und nach Prozessen, zusätzlich oder anstelle gewählter Gerichte. (Mediale Vorverurteilungen werden von Letzteren teilweise als strafmildernder Umstand berücksichtigt.) Wenn Gesetze sowie Gerichte den Betroffenen und dem oft zitierten «Volk» – das in jedem Land eines unter vielen ist – zu «lasch» erscheinen, scheint der mediale Pranger auch schon mal Gerechtigkeits-, Straf- und Rachebedürfnisse zu befriedigen. Aber es gibt keine Gerechtigkeit, wenn Gerechtigkeit bedeutet, Täter und Täterinnen sollten an eigenem Leib und eigener Seele spüren, was das Opfer beziehungsweise seine Angehörigen erlitten haben. Die Betroffenen hätten «lebenslänglich», wird gerne und zu Recht gesagt. Damit wird suggeriert, die gerechte Strafe wäre «lebenslänglich», bei Mord in letzter Konsequenz – ein Leben lang tot.

So unerträglich die Vorstellung sein mag, dass der Täter oder die Täterin eines Tages wieder ein gemütliches Leben führt, sich verliebt und gestreichelt wird, während das erschlagene Kind für alle Zeiten schweigt und die vergewaltigte Frau womöglich bis ans Ende ihres Lebens zurückzuckt, wenn sich ihr eine fremde oder bekannte Hand nähert – es gibt keine Gerechtigkeit, keine Symmetrie des Leidens. Daran können auch «die Medien» nichts ändern. Wir können es den Betroffenen nicht ersparen, dass Tatverdächtige und Verurteilte nicht denselben Preis bezahlen wie sie. Die Überwindung des ZahnumZahn ist eine der grossen zivilisatorischen Leistungen unserer Kultur, der Rechtsstaat eine soziale Errungenschaft, hinter die wir nicht zurückgehen dürfen. Werte, die wir, zu Recht, von Migrantinnen und Migranten einfordern.

Wer die Gewalt ohne Ende – denn alle schlagen ja, subjektiv, immer nur zurück, wenn auch häufig nicht gegen jene, die sie geschlagen – nicht fortsetzen will, muss dem Opfer zumuten, dass es keine Gerechtigkeit bekommt, vor allem aber kann und darf die verständliche Wut (sowie Rachesehnsucht) der Opfer nicht soziale Norm werden. Wer mit der oft und gern zitierten «Opferperspektive» Politik oder Geschäfte macht, instrumentalisiert das individuelle Drama, das letztlich nicht nachempfindbare beziehungsweise nicht abgeltbare Leid einzelner Menschen für die Durchsetzung eigener Ideologien und Interessen. Und am Ende ist den Opfern beziehungsweise ihrem Umfeld mit solchen Über-Identifikationen nicht wirklich geholfen. Sie brauchen Schutz, Mitgefühl und nachhaltige Unterstützung. Sie sehnen sich nach Trost und Wiederherstellung des durch die Tat zerstörten Gefühls der sozialen Aufgehobenheit.

Der Pranger verschleiert, was er zu ächten scheint und meint

Der mediale Pranger gefährdet rechtsstaatliche Grundlagen. So wird nach ausführlicher Darstellung (streng juristisch) unbewiesener Beschuldigungen gegen namentlich Genannte häufig erst auf den letzten Zeilen alibihaft auf ein zentrales Element unserer Rechtsordnung hingewiesen: «Es gilt die Unschuldsvermutung.» Aber die Strafe der öffentlichen Ächtung ist abgesessen, bevor der Prozess – falls es überhaupt soweit kommt – beginnt. Wird ein Verfahren eingestellt, wird aufgrund der medialen Vorverhandlungen gerne der Vorwurf der «Kuscheljustiz» erhoben. In den Köpfen der Zeitungsleserinnen und TV-Konsumenten sind NameBildTat längst eine feste Verbindung eingegangen, wenn das Urteil gefällt wird, das nicht immer dieselbe Aufmerksamkeit erhält wie der veröffentlichte Verdacht. Wer weiss noch, dass der Wettermoderator straf- und zivilrechtlich freigesprochen wurde, von verschiedenen Medien durch Vergleich oder Gerichtsurteil entschädigt werden musste? Und wer erinnert sich, umgekehrt, noch daran, dass das Gericht in der Urteilsbegründung explizit darauf hinwies, es habe «die Wahrheit» nicht «finden können. Beides sei möglich: Er oder sie lüge bzw. sage die Wahrheit» (Alice Schwarzer, 25.1.2018). Im Klartext: Der Freispruch des Meteorologen sei kein Schuldspruch gegen die Klägerin. Beide sind durch die mediale Skandalisierung nachhaltig «beschädigt». Und dabei hätten in Rechtsstaaten nicht nur Freigesprochene, sondern auch Verurteilte ein Recht auf Resozialisierung, auf eine zweitedrittevierte Chance im beruflichen, privaten und öffentlichen Bereich. Auch im Interesse potenzieller Opfer.

Medien wollen, mit Blick auf Quoten und Auflage «Geschichten» erzählen. Anschauliche Einzelfälle generieren mehr Aufmerksamkeit und verkaufen sich besser als strukturelle Analysen. «Der Sachverhalte erörternde und normative Schlüsse diskutierende Journalismus von dem, was alle etwas angeht, ist in der Defensive, die moralisch-emotionale Einfärbung von Singulärem in der Offensive.» Erklärte der inzwischen verstorbene Soziologe und Medienwissenschaftler Kurt Imhof im Mai 2013 im Gespräch mit dem Magazin Schweizer Monat. Das Personalisieren – das vorgibt, hier werde «gnadenlos» aufgedeckt, werde die Welt beim Namen genannt – verbirgt das Zentrale: Sexismus und sexuelle Gewalt in unterschiedlichsten Formen sind konstituierende Elemente für unsere Geschlechterverhältnisse, die nach wie vor durch Über- und Unterordnungen mit-geprägt sind. Das prominente «Bauernopfer» lenkt von der strukturellen Verankerung sexueller ÜbergriffeAusbeutungGewalt auch in unserer Kultur ab. Das ist das Paradox: Der Pranger verschleiert, was er zu ächten scheint und meint.
Eigene Probleme – Ausnahmen;
die Probleme der anderen – kulturimmanent

Es ist wie im Kalten Krieg: Eigene Probleme werden als Ausnahme, die Probleme der anderen, «des Ostens» zum Beispiel, als struktur- beziehungsweise kulturimmanent gesehen. Als am Kölner Silvester 2015 sexuelle Übergriffe und Gewalt von mehrheitlich muslimischen Männern Schlagzeilen machten, wurde die Debatte umgehend kulturalisiert und mit dem Topos des arabischen Vergewaltigers aufgeladen. «Der Islam», hiess es, habe ein strukturelles Geschlechter-, Gewalt- und Sexualitätsproblem. Was wahrscheinlich stimmt. Aber stören bei uns tatsächlich nur ein paar «schwarze Schafe» den sexuellen Frieden? Ein paar Schlagzeilen an einem einzigen der Tage, an denen ich an diesem Text schreibe, machen deutlich, dass es nicht genügt, gelegentlich ein schwarzes Schaf durch die medialen oder juristischen Gassen zu treiben. Als ein Art Ablasshandel. Zur Beruhigung der Götter, der Gesellschaft und der Opfer. «175 Jahre – der Skandalarzt wird für immer weggesperrt» (Tagesanzeiger), «Der Schattenmann» (Zeit), «Grapscher an Wohltätigkeitsgala» (Tagesanzeiger). Der ehemalige Chef-Arzt der US-Turnerinnen erhält zwar über-lebenslänglich, ein bekannter deutscher Regisseur wird mit eidesstattlichen Erklärungen schwer belastet, Undercover-Reporterinnen decken auf, weshalb als «Hostessen angeheuerte Serviererinnen» (Tagesanzeiger, 25.1.2018) eine «Schweigeklausel» unterschreiben und das Handy abgeben müssen, als sich «360 betuchte Gäste aus Wirtschaft, Finanz, Politik und Showbusiness» in London zum sogenannten Dorchester-Dinner, einem Charity-Abend des Presidents Clubs, treffen, aber in all diesen Fällen wird sichtbar, wie sexuelle Übergriffe und sexualisierte Gewalt von einzelnen durch eine Kultur des Schweigens und des klammheimlichen Einverständnisses, durch ein Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeiten und Interessen mitgetragen wird.

Die Tapferkeit vor dem Freund

Die Fokussierung auf den Einzelfall lässt die sozialen und kulturellen Voraussetzungen sexistischer Denkfiguren und Gebärden, sexueller Übergriffe und sexualisierter Gewalt unangetastet. Die Öffentlichmachung und mediale Skandalisierung von Einzelfällen – die durch ihre schiere Zahl längst den Ausnahmestatus verloren haben – ist auch ein verzweifeltes Zeichen dafür, dass die Betroffenen in soziokulturellen, sozioökonomischen und juristischen Alltagszusammenhängen häufig nicht die gebührende Unterstützung erhalten, so dass ihnen nur das Schweigen oder das öffentliche Reden als Ausweg bleibt. Aber gesellschaftliche Probleme und Konflikte können letztlich weder mit dem Strafrecht noch mit dem medialen Pranger gelöst werden, sondern nur durch grundlegende strukturelle Veränderungen sowie die Entwicklung einer durch Respekt und Zivilcourage geprägten Alltags-Haltung, die solchem Verhalten täglichstündlich im konkreten Kontext entgegentritt. Das ist nicht nur, nicht einmal in erster Linie Sache der potenziellen Opfer, sondern des gesamten beruflichen und privaten Umfeldes. Frauen und Männer müssen schlimmstenfalls die «Tapferkeit vor dem Freunde» aufbringen.

Ich stelle mir vor, ich wäre mit «so einem» befreundet. Mit einem, der sexistische Sprüche klopft, andere belästigt oder sexualisierte Gewalt ausübt. Was würde ich tun, wenn ich es mit eigenen Augen sähe, mit eigenen Ohren hörte? Wie damals in den Achtzigerjahren, als ein bekannter und längst verstorbener Radio-Moderator im Sitzungszimmer, so glaube ich mich zu erinnern, einer damals ebenso bekannten Radio- und Fernsehmoderatorin, auch sie schon lange tot, an die Brust griff und grinsend meinte: «Gut erhalten, für ihr Alter». Ohne zu überlegen druckste ich in der gequält lächelnden Runde – die Moderatorin, glaube ich, lächelte mit – immerhin ein «Was würdest du machen, wenn ich dir jetzt an den Schwanz griffe?» heraus. Was ich natürlich nicht tat. Dann schwieg ich mit. Erwähnte, als Neuling in der erfahrenen Runde, «die Sache» nie mehr. Würde ich heute an Teamsitzungen solches Verhalten ansprechen? An geselligen Tischen riskieren, dass allen der Appetit vergeht und Türen zugeschlagen werden? Weil ich darauf hinwiese, hier seien nicht nur Zigaretten und Zigarren, sondern auch Sexismen und Übergrifflichkeiten verboten.

Würde ich den Freund oder Kollegen stoppen, bevor sein Tun öffentlich würde? Ihm unter vier Augen sagen «Wir müssen reden» und dann ernsthaft mit ihm streiten? Von ihm, wie von einem gewalttätig gewordenen Schüler verlangen, er solle sich professionell beraten lassen, um sein Verhalten zu ändern? Würde ich ihm die Freundschaft kündigen? So wie das einige mit jenen tun, die unsere und unserer Kindeskinder Welt mit ihrem Mobilitäts- und Konsumverhalten nachhaltig schädigen. Und wenn er öffentlich beschuldigt, strafrechtlich verfolgt, gerichtlich verurteilt würde – glaubte ich seinen Unschuldsbeteuerungen? Weil Freunde sich vertrauen? Oder würde ich ihm tapfer «die Wahrheit» um die Ohren schlagen, immer und immer wieder? In der Hoffnung, dem Freunde würde er sich schliesslich anvertrauen und beginnen, sich mit dem auseinanderzusetzen, was er getan? Würde ich ihm zur Seite stehen, wenn er ein Geständnis ablegte? Ihn im Gefängnis besuchen? Und was würde ich tun, wenn er mir, im freundschaftlichen Vertrauen, verriete, was er medial und vor Gericht bestreite, sei die Wahrheit? Würde ich ihn, selbst und gerade als Freund, ausliefern? Auch um den Preis der Freundschaft?

Die Freiheit zu belästigen

Würde ich in den Grauzonen von Anmache und Belästigung in das allgemeine Schweigen einstimmen oder alles mit «grossen Reden» zu überspielen versuchen? Aus Angst, mich lächerlich zu machen, als lustfeindlicher Stimmungskiller verspottet zu werden? Weil sich ein nicht deklariertes Paar zum erregenden Spiel des Bedrängens und Verweigerns im Freundeskreis verabredet hat?

Vor ein paar Wochen an der Busstation beobachtet: Ein junger, dunkelhäutiger Mann nähert sich einer etwa gleichaltrigen Frau eins ums andere Mal, berührt sie leicht und wird von ihr immer wieder weggeschubst. Fragen wirbeln durch meinen Kopf. Soll ich ihr zu Hilfe eilen, auf mein Alter und nicht auf meine Kraft vertrauend? Warum ruft sie nicht um Hilfe? Sieht so ein Opfer aus? Und was bedeutet ihr Lachen? Gehört es nicht zum System sexueller Ausbeutung, dass das Opfer nicht in der Lage ist, um Beistand zu bitten, dass es sogar die angebotene Hilfe zurückweist? Aus Scham, sich als Opfer zu erkennen zu geben? Und wann wird Hilfe, aufgedrängt, zum Übergriff?

«Man kann so klar nicht sagen, was ist sexualisierte Gewalt, was ist Belästigung, was ist Verführung», sagt die Chefredaktorin des Philosophie-Magazins, Svenja Flasspöhler, am 1. Februar bei Maybritt Illner. «Letzten Endes ist jede Verführung in der Gefahr, vom anderen als Belästigung wahrgenommen zu werden.» Dann fordert sie – ähnlich wie Catherine Deneuve, Catherine Millet und rund hundert andere Französinnen in einem Offenen Brief Mitte Januar – die «Freiheit zu belästigen» («liberté d’importuner»): «Wenn man eine Gesellschaft will, in der es keine Belästigung gibt, dann gibt man die Freiheit dieser Gesellschaft auf.» Das Pärchen beim Bahnhof Stettbach ist inzwischen in den Bus gestiegen. Die beiden sitzen grinsend und plaudernd nebeneinander. Steigen schliesslich gemeinsam aus. Laut scherzend. Der junge Mann hüpft verliebt um die immer noch lachende Frau herum. Und sie gehen, ganz offensichtlich und voller Freude, zusammen nach Hause.

Das (erahnbare) «Nein» muss ein geschütztes werden

«Ich habe aber», schiebt Flasspöhler beim ZDF nach, «als Frau die Möglichkeit, mich in Situationen, die ich als Belästigung empfinde, zu wehren.» Abgesehen davon, dass damit der Ball «der Frau» (oder dem belästigten Mann) zugespielt wird, sie (oder er) muss sich gegen Zumutungen wehren, während «der Mann» (beziehungsweise die übergriffige Frau) sich im Namen der Freiheit alles herausnehmen kann und seine (oder ihre) Wahrnehmungsfähigkeiten nicht verfeinern muss – das gilt nur unter Freien, das heisst in gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Macht und Unterordnung überwunden sind, alle sowohl freie erotische Subjekte als auch Objekte sein können. «Wenn ich diese Möglichkeit nicht habe [mich gegen Unerwünschtes zu wehren], dann handelt es sich tatsächlich um sexuelle Gewalt.» Hält auch Svenja Flasspöhler fest.

Die bereits genannten strukturellen und kulturellen (Haltungs-)Veränderungen müssten so tiefgreifend sein, dass das erotische Spiel in jeder Situation eines unter Gleichen würde, ein lustvolles Aushandeln von Nähe und Distanz auf Augenhöhe, jenseits von Machtverhältnissen, in denen ein «Nein» auf der Beziehungsebene durch das Zusammenspiel sozioökonomischer Macht und der Angst von Abhängigen in ein «Ja» umgebrochen werden kann. Auf dass jede Frau (und jeder Mann) sich in jeder Situation real gegen sexualisierte BelästigungÜbergriffeGewalt wehren kann. Das «Nein» muss ein geschütztes werden, eines, das im besten Fall nicht einmal ausgesprochen werden muss, sondern rechtzeitig erahnt wird. Betroffene müssen sich in beruflichen, privaten und (halb-)öffentlichen Zusammenhängen darauf verlassen können, dass ihnen jedes Blamingthevictim erspart bleibt, dass sie – wenn erwünscht – unterstützt werden. Dann erst könnten Menschen einander befreit gegenübertreten, ihr Begehren zeigen, das Begehren anderer feiern, gelassen ignorieren oder ohne Angst zurückweisen beziehungsweise das (antizipierte) «Nein» mit Respekt und Selbstvertrauen akzeptieren. Dann müsste niemand mehr Jahrzehnte später Zuflucht oder etwas Genugtuung beim medialen Pranger suchen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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