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Der TV-Sender CNN interviewt Manal al-Sharif 2012 in New York © cnn

Ich fuhr Auto und verlor im Königreich meinen Sohn

Red. /  Die saudischen Behörden trennten mich von meinem Sohn, weil ich zum Protestieren illegal selbst ans Steuer gesessen bin.

Red. Die an der König-Abdulaziz-Universität ausgebildete saudische Frauenrechtlerin Manal al-Sharif musste Land und Kind verlassen. 2012 erhielt sie den «Václav Havel-Preis für kreativen Widerstand». Sie beschreibt hier die drastischen, langfristigen Folgen ihres damaligen zivilen Protestes.

Für Mütter der grösste Alptraum: Sich von einem Kind trennen müssen

Auf dem Papier scheint mein Leben nicht so ungewöhnlich: Ich habe geheiratet, bekam ein Kind, dann folgte die Scheidung. Jahre vergingen, ich zog in eine andere Region, heiratete wieder, bekam ein weiteres Kind.
Doch ich bin eine Frau aus Saudi-Arabien. Gemäss Erhebungen des saudischen Amtes für Statistik werden in Saudi-Arabien etwa ein Drittel der Paare geschieden. Der Grund, weshalb ich von meinem Arbeitsplatz verdrängt wurde, war jedoch nicht die Scheidung.
Im Mai 2011 lenkte ich auf saudischen Strassen ein Auto. Mein Bruder sass auf dem Beifahrersitz, meine Schwägerin, ihr Baby und mein Sohn Aboudi hinten. In Saudi-Arabien ist es Frauen untersagt, ein Auto zu lenken. Ich wurde inhaftiert und verbrachte neun Tage im Gefängnis. Zu jener Zeit war ich eine berufstätige, geschiedene Mutter. Aufgrund meines Protestes wurde ich jedoch bedroht – Imame forderten meine öffentliche Auspeitschung –, beobachtet, schikaniert und aus meinem Job herausgedrängt. Ohne sicheren Aufenthaltsort und Arbeitsplatz, zu einer Zeit, in welcher andere Saudis meinen Tod verlangten, blieb mir nichts anderes übrig als das einzige Land, das ich damals kannte, zu verlassen.
Als ich meine Bücher, Kleider und etwas Geschirr zusammenpackte, um nach Dubai zu ziehen, musste ich hinter mir lassen, was ich mir am meisten gewünscht hätte mitnehmen zu können: Das kleine Stück Universum, das ich mit meinem Sohn Aboudi teilte.
In Saudi-Arabien behalten Väter nach einer Scheidung das Sorgerecht sowie sämtliche Rechte über das (vormalig) eheliche Heim. Da saudische Frauen eine männliche Aufsichtsperson haben müssen, bleibt geschiedenen Frauen nicht viel anderes übrig, als in das Haus ihres Vaters oder eines anderen Verwandten zurückzukehren.
Mein Sohn durfte mich in Dubai nicht einmal besuchen kommen.
Damit ich ihn besuchen konnte, musste ich an Wochenenden nach Saudi-Arabien zurückfliegen. Da zu jener Zeit viele Hotels ablehnten, eine saudische Frau alleine und ohne Bewilligung eines Mann zu beherbergen, musste ich für jene kostbaren Wochenenden ins Haus meiner Ex-Schwiegermutter zurückkehren, in welchem meine Ehe zerbrochen und mein Körper öfter als ich mich daran erinnern mag geschlagen und geschunden wurde.
Mein Ex-Ehemann hat inzwischen wieder geheiratet und ist Vater zweier Töchter geworden. Mein Sohn Aboudi lebt bei seiner Grossmutter, meiner Ex-Schwiegermutter, deren Aufgabe es jetzt ist, ihn grosszuziehen.
Ich habe einen Anwalt bestellt, um für meinen Sohn doch das Recht einzuklagen, mich in Dubai zu besuchen. Gestützt auf einen islamischen Text aus dem zehnten Jahrhundert, als weite Kamelreisen (insbesondere für Kinder) noch zahlreiche Gefahren bargen, befand das Gericht, das Risiko, dass das Kind auf einer solch gefährlichen Strecke sterben könnte, sei zu hoch. Dubai ist heute von Dammam, seinem Wohnort in Saudi-Arabien, eine Flugstunde entfernt.
Ich hatte mich damals verbotenerweise ans Steuer gesetzt, in der Hoffnung, zur Befreiung von Frauen – und dadurch auch von Männern – in der saudischen Gesellschaft etwas beizutragen. Ich hatte das Auto gelenkt, damit Aboudi einmal ein besseres Leben haben sollte. Nun hat mein Protest zu unserer Trennung geführt.
Unterdessen habe ich einen lieben ausländischen Mann kennengelernt. Wir haben geheiratet – jedoch weder in Saudi-Arabien noch in Dubai, sondern zivilrechtlich in Kanada. Nach saudischer Gesetzgebung kann eine Frau (oder ein saudischer Mann) ohne offizielle Bewilligung keine nicht-saudische Person heiraten, und meine Ehepläne hatten bei allen zur Anwendung gekommenen Prüfverfahren keinerlei Chance auf Bewilligung. 2014 ist mein zweiter Sohn geboren. Da unsere Ehe nicht anerkannt wird, wird mein Sohn aus dieser Ehe nicht anerkannt; somit wird er auch kein Visum erhalten.
Ich liebe meine Söhne, ich liebe meinen Ehemann, ich liebe mein Land. Doch in den Königreichen von Männern gibt es – falls überhaupt – nur wenig Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen. Oder die Entscheidungsmöglichkeiten sind solcher Art, dass es kaum grösseren Schmerz geben kann, als eine solche Entscheidung treffen zu müssen.
Ich wurde ins Gefängnis geworfen und Leibesvisitationen unterworfen, habe mein Gesicht gegen Eisengitter und gegen das Plexiglas von Gefängnisbesuchszellen gepresst. Andere Frauen brachten im Gefängnis Kinder zur Welt. Den ganzen Tag durch waren ihre Schreie und Rufe zu hören. So schrecklich mir die Situation damals schien – diese Mütter waren wenigstens auf derselben Seite der Gefängnismauern wie ihre Kinder. Ich bin jetzt zwar auf der anderen Seite, weiss jedoch nicht, wie ich mich von den Schranken befreien könnte, die meine Kinder noch heute voneinander trennen.
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Diesen Text hat Corinne Duc aus dem Englischen übersetzt. Die vollständige Fassung erschien am 9. Juni 2017 auf Englisch in der New York Times.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Manal al Sharif ist eine saudische Frauenrechtlerin und IT-Spezialistin.

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2 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 26.06.2017 um 12:23 Uhr
    Permalink

    Die Geschichte bildet in ihrem frauengeschichtlichen Gehalt einen Riesenkontrast zu Bertha Benz, die Gattin des Erfinders des Patent-Motorwagens Carl Benz, welche am 5. August 1888 frühmorgens mit ihrem dreirädrigen Automobil von Mannheim nach Pforzheim aufbrach, eine Strecke, die als Carl-u.-Bertha-Benz Memorial heute noch zum Andenken «nachgefahren» werden kann, wenngleich auf verbesserten Strassen. Die Frau am Steuer war keine Sekundärentwicklung der industriellen Revolution, sondern mithin eine Folge veränderter materieller Voraussetzungen zur Ermöglichung der Emanzipation des Menschen. Damit eine Frau ans Steuer eines offenen Wagens gelassen werden konnte, mussten im oberdeutschen Raum, wozu die Deutschschweiz gehörte, längst vorher gewisse modische Voraussetzungen ändern, zum Beispiel der in der Zentralschweiz erst kurz vor 1830 erfolgende Durchbruch der Mantelmode. Das Tragen von Mänteln war ursprünglich eine ausgesprochen aristokratische und klerikale Männerangelegenheit, ferner Sache von Amtsträgern wie zum Beispiel dem Henker. Die Emanzipation der Frau ergab sich und ergibt sich teilweise aus der Alltagsgeschichte, was im Hinblick auf Saudiarabien reflektiert zu werden verdient. Die oben erzählte eigentlich blamable Geschichte hängt mithin auch damit zusammen, dass Kleider Leute machen und dass das Verhältnis zu den Dingen letztlich auch das Verhältnis der Geschlechter bestimmt. Dazu tragen, ohne Genderideologie, auch schon rein «materialistische» Überlegungen bei.

  • am 1.07.2017 um 09:07 Uhr
    Permalink

    Wie bringt ihr es eigentlich zusammen, einerseits solche Stories zu bringen und andererseits euch dafür stark zu machen, dass mit der Immigration von massenhaft Leuten aus diesem Kulturkreis solche Verhältnisse auch bei uns in kleinen Schritten Einzug halten? Ich denke da zum Beispiel an die Handschlag-Geschichte, als ein Therwiler Schüler der Lehrering aus sexistischen Überlegungen den Handschlag verweigerte. Rot/grün war entsetzt, dass man dem Jungen das nicht durchgehen lassen wollte und begeistert, nachdem er doch noch Recht bekam und mit Fr. 2000.– «entschädigt» wurde. Bitte erklärt mir: wie ist das für euch vereinbar?

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